Gedankensplitter: Neugier auf den anderen

«Der Sinn für Ungerechtigkeit, die Schwierigkeiten, die Opfer der Ungerechtigkeit zu identifizieren, und die vielen Weisen, in denen jeder lernt, mit den eigenen Ungerechtigkeiten und denen anderer zu leben, werden ebenso leicht übergangen wie die Beziehung privater Ungerechtigkeit zu öffentlicher Ordnung.» Judith Shklar

Wir sehen einen Menschen und schon ist es da: Das Bild in uns, wie er ist. Ein spontaner Impuls, eine quasi natürliche Eingebung, die durchaus ihre Berechtigung hat, hilft sie doch, Dinge schneller einzuordnen und damit eine gefühlt gesicherte Basis herzustellen. Das Problem ist, dass diese Eingebungen nicht aus dem Nichts kommt, sondern sozial, historisch und kulturell gewachsen ist. Vorurteile vererben sich förmlich weiter, so dass sie auch dann noch in den Köpfen im Versteckten ihr Unwesen treiben, wenn man rational neue Erkenntnisse gewonnen hätte. Auch wenn wir heute wissen, dass Frauen nicht dümmer sind, dass sie durchaus ohne gesundheitliche Gefährdung höhere Schulen besuchen können (ein Argument, mit dem es ihnen früher verwehrt war), dass sie gleich viel leisten können in bestimmten Berufen, und gleich viel wissen können wie die Männer, zeigt sich im sozialen, wirtschaftlichen und auch politischen Bereich oft ein anderes Bild.

Zum Beispiel: Argumente von Frauen (hier könnte auch Behinderte, POC, LGBTQIA, etc. stehen) werden weniger gehört, werden weniger ernst genommen. Das führt zu einer epistemischen Ungerechtigkeit, wie Miranda Fricker sich ausdrückt. Man verwehrt ihnen das Vertrauen in ihre Aussagen einzig aufgrund eines Vorurteils. Dadurch können sie sich nicht im gleichen Masse einbringen wie Männer das können, sie werden an ihrer aktiven Teilhabe gehindert.

Das Bild in den Köpfen ist gemacht, die Reaktion folgt. Das hat aber noch weitere (negative) Konsequenzen: Die so gering Geschätzten werden nicht gehört. Sie werden in ihrem Sein als Wissende, Fähige nicht tatsächlich wahrgenommen, sondern abgewertet. Das führt oft dazu, dass sich dieses mangelnde Vertrauen auch verinnerlicht, sich diese Menschen selbst weniger zutrauen – und noch schlimmer: Sie bilden Fähigkeiten erst gar nicht aus oder verlieren sie sogar.

Menschen haben eine tiefe Sehnsucht danach, gehört, gesehen, wahrgenommen zu werden. Tut man das nicht, nimmt man ihnen einen Teil ihrer Würde, man marginalisiert sie. Dem können wir nur beikommen, wenn wir (individuell und in Systemen) ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass in uns Vorurteile am Wirken sind, und aktiv versuchen, gegenzusteuern. Wir müssen lernen, mit Neugier auf andere Menschen zuzugehen, mit der Absicht, wirklich hören zu wollen, was sie sagen. Wir müssen unsere Vorurteile ablegen und offen zuhören, hinsehen. Das heisst nicht, dass wir allen blind vertrauen müssen, aber die Prüfung der Aussagen darf nicht aufgrund von vorgefassten Vorurteilen, sondern aufgrund sachlicher Kriterien geschehen.

***

Ein Buch zu diesem Thema:
Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens, C. H. Beck Verlag, 2023.

Miranda Fricker ist der Überzeugung, dass wir uns zu sehr auf die Gerechtigkeit ausrichten und damit vergessen, die tatsächlichen Ungerechtigkeiten genau zu beleuchten, die es zu beheben gilt. Oft denkt man bei Gerechtigkeit (und Ungerechtigkeit) an die Verteilung von Gütern, aber es gibt auch andere Formen. Bei Ungerechtigkeit, so Fricker, dürfe man nicht nur materielle Kriterien gelten lassen, sondern auch die Glaubwürdigkeit von Menschen sei ungerecht verteilt, weil soziale Vorurteile zu einer Marginalisierung bestimmter Gruppen und der Zugehörigen (Frauen, Arme, POC, etc.) führen. Nur indem wir uns dessen bewusst werden, und je einzeln und auch in Institutionen und Systemen die eigenen Vorurteile erkennen und diese für die Beurteilung von Zeugnissen ausschalten, können wir identitätsstiftende Machtsysteme ausschalten. Alles in allem nichts Neues, doch es wird in eine hochkomplexe Sprache verpackt und (zu) ausführlich mit Argumenten und Verweisen abgestützt. Das macht das Lesen mitunter etwas beschwerlich.


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7 Kommentare zu „Gedankensplitter: Neugier auf den anderen

    1. Gamma Hans: „Schattenarbeit kann helfen die eigene Würde und die der anderen in allem zu bewahren“

      Guten Morgen!

      Es gibt „Dinge“, die können weder er“arbeitet“,
      noch können sie „bewahrt“ werden.

      Liebe zum Beispiel,
      Würde zum Beispiel.

      Weisheit kann nicht erarbeitet und nicht
      bewahrt werden, Vertrauen ebenfalls nicht.

      🌱

      Ob ich etwas würdigen kann,
      ist eine Frage der Geistigen Reife.

      Bin ich nicht so weit,
      kann ich nicht würdigen.
      Dann hilft auch keine Arbeit.

      🌱

      Der Begriff Würde hat mindestens zwei Bedeutungen:
      ◾ Die Würde, die jemandem von Außen zugebilligt wird.
      ◾ Die Würde, die niemandem genommen werden kann.

      Nur die Würde, die uns von anderen Menschen
      zugebilligt wird, die kann uns entzogen werden.

      🌱

      Es gibt eine Würde,
      die bleibt von allem Geben und Nehmen…
      und von allem Tun und Wollen unberührt,
      sie ist unverletzlich.

      🌱

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          1. Guten Tag Nirmalo
            Ich glaube, wir leben schlicht in verschiedenen Welten und diese treffen sich nicht ganz. Mir geht es nicht um die esoterischen und durchaus nachvollziehbaren Konzepte einer höheren Spiritualität, sondern um das menschliche (und politische) Miteinander. Und da ist die menschliche Würde durchaus angetastet und wird es auch immer wieder. Mich interessieren so gesehen die strukturellen, systematischen und auch individuellen Formen des Zusammenlebens.

            Ich respektiere deine Sicht der Dinge, auch wenn mir die sehr absolute Art und Weise, wie sie manchmal kommuniziert wird, nicht liegt. Es geht mir bei meinen Beiträgen aber einfach um etwas anderes. Aber: Vielfältige Sichtweisen sind gut und wichtig und das Bewusstsein, dass unter allem doch noch etwas liegt, das unverletzlich ist, das einem Menschen durch sein Menschsein zukommt, das ist tröstlich und wichtig, denn darauf gründen die Hoffnungen und Utopien für das Miteinander und dessen Regelungen in der Alltagspraxis.

            Beste Grüsse
            Sandra

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      1. Guten Tag,

        Danke für Ihre Antwort.

        Guten Morgen!

        Es gibt „Dinge“, die können weder er“arbeitet“,
        noch können sie „bewahrt“ werden.

        Dinge sind veränderlicher Natur. Die Natur, wir sind Natur; auch.

        Liebe zum Beispiel,

        – den Begriff von Liebe, von der durch ein Ereignis, eine Einsicht dazu bestehen muss; ich habe sie nicht, deswegen weiss ich mir nicht, wie und was Liebe mir bedeuten soll.

        Würde zum Beispiel.

        in Anstrengung, von dem was ich unter Würde verstehe kann, ist es diejenige, die ich in harter Auseinandersetzung mit mir, was mir von einem anderen unpässlich zukommt, jenem seine unteilbare Würde nicht absprechen darf und will.
        Wenn ich es trotzdem mache, mache ich den anderen zum „Ding“, das jener Mensch, wie jede Sache, in Tatsache auswechselbar, zu meinen Gunsten verfügbar wird.

        Weisheit kann nicht erarbeitet und nicht
        bewahrt werden, Vertrauen ebenfalls nicht.

        Weisheit bezeichnet vorrangig ein tiefgehendes Verständnis von Zusammenhängen in Natur, Leben und Gesellschaft sowie die Fähigkeit, bei Problemen und Herausforderungen die jeweils schlüssigste und sinnvollste Handlungsweise zu identifizieren.

        Vertrauen bezeichnet eine bestimmte Art von subjektiver, auch emotional gefärbter, Überzeugung, nach der man sein Verhalten einrichtet.

        🌱

        Ob ich etwas würdigen kann,
        ist eine Frage der Geistigen Reife.

        In der Regel unterscheidet man zwischen körperlicher Reife (z.B. Geschlechtsreife) geistiger Reife (z.B. Geschäftsfähigkeit oder strafrechtliche Verantwortung), emotionaler Reife (z.B. Entwicklung von Wille, Fähigkeit zum Belohnungsaufschub) und sozialer Reife (z.B. Wahrnehmung der Rechte und Pflichten.

        Bin ich nicht so weit,
        kann ich nicht würdigen.
        Dann hilft auch keine Arbeit.

        Bin ich nicht so weit, zu dem was ich ahne, so werde ich mich zum Besseren, tagtäglich bemühen.

        🌱

        Der Begriff Würde hat mindestens zwei Bedeutungen:

        ◾ Die Würde, die jemandem von Außen zugebilligt wird.

        ◾ Die Würde, die niemandem genommen werden kann.

        Die unteilbare Menschenwürde gilt uns allen.

        Nur die Würde, die uns von anderen Menschen
        zugebilligt wird, die kann uns entzogen werden.

        Auch der Hass kann meine Würde nicht schmälern.

        🌱

        Es gibt eine Würde,
        die bleibt von allem Geben und Nehmen…
        und von allem Tun und Wollen unberührt,
        sie ist unverletzlich.

        Würde ist unteilbar.

        🌱

        mit freundlichen Grüßen
        Hans Gamma

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  1. Hans Gamma:
    „Die unteilbare Menschenwürde gilt uns allen.“
    „Hass kann meine Würde nicht schmälern.“

    🌱 Yes.

    Diese Würde kann niemandem genommen werden
    und sie kann niemandem gegeben werden: Jeder
    von uns hat sie (ohne sie zu „haben“) von Anbeginn.

    Die Würde, die uns von Außen zugebilligt werden und
    auch wieder genommen werden kann.., ist nichts wert.

    Grüße von
    Nirmalo

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