Wir leben in einer Gesellschaft, die Menschen gerne dahingehend einteilt, was sie in ihrem Leben geschafft haben – oder eben nicht. Die einen bewundern wir als die Macher, die Erfolgreichen, die anderen werden verachtet, oft noch mit der Haltung: Selbst schuld, sie haben sich nicht genug angestrengt. Es liegt der Gedanke dahinter, den Juliane Marie Schreiber in ihrem Buch «Ich möchte lieber nicht» kritisiert:
«Jeder kann alles schaffen, wenn er nur genug an sich glaubt. Es ist das Credo der Leistungsgesellschaft mit ihrer Ethik des Erfolgs.»
Ist das so? Kann ich wirklich alles schaffen, was ich will, und wenn es nicht klappt, wollte ich nicht genug oder habe nicht genug gegeben? Bin ich schlicht nicht gut genug, wenn ich nicht alles erreiche, das erreichbar ist? Ist der Arbeitslose zu faul und der Kranke zu disziplinlos? Wollen beide nur nicht genug, weil sie sonst Arbeit hätten und gesund wären? Dieses Denken ist nicht nur gefährlich für den Einzelnen, weil es ihn in eine Verantwortung schiebt, die ihm nicht zukommt, sie ist auch der sichere Weg dahin, alles beim Alten zu lassen, da es ja nicht an einem mangelnden Schulsystem, an unfairen sozialen Verteilungsmechanismen oder Unterdrückung liegt, wenn ein Leben nicht den gewünschten Weg nimmt, sondern nur am Individuum selbst.
«Nein, wir können nicht alles sein, wenn wir nur fest genug daran glauben… Nur wer das erkennt, kann überhaupt die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern.»
Wir leben in Strukturen, innerhalb derer wir unser Leben gestalten können/müssen. Es gibt viele Möglichkeiten des Umgangs mit den Strukturen: Wir können sie ignorieren und einfach unser Leben leben. Das kann gut gehen, kann uns aber auch unbewusst durch gegebene Strukturen steuern. Wir können sie annehmen, weil sie uns ein Leben ermöglichen, das für uns angenehm ist oder zumindest angenehmer, als uns dagegen aufzulehnen. Wichtig ist es für eine bewusste Lebensführung, uns bewusst zu sein, dass es nicht immer in unserer Macht steht, wie diese Strukturen aussehen. Oder wie Wilhelm Schmid in seinem Buch «Philosophie der Lebenskunst» schreibt:
«Nicht jede Veränderung steht jederzeit in der Macht einzelner Individuen.»
Eine gewaltsame Veränderung käme einer Revolution gleich, doch wird die nie von einem allein durchgeführt werden können, dazu braucht es ein Miteinander von Gleichgesinnten, Menschen, die die vorherrschenden Strukturen als unfair empfinden und etwas dagegen tun wollen. Das geht aber nur, wenn der Einzelne da, wo er strukturell benachteiligt ist, nicht als Individuum für diese Benachteiligung verantwortlich gemacht, sondern als Betroffener eines unfairen Systems wahrgenommen wird.
Und auch nur, wer das erkennt, kann mit sich in Frieden leben und wissen, dass er wertvoll ist und gut genug, auch wenn ihm nicht alles gelingt. Nicht jeder ist seines Glückes Schmied in allen Bereichen, ganz viel ist von aussen gegeben. Was wir aber in der Hand haben, ist unsere Haltung zum Misslingen: Statt Abwertung und Verachtung können wir uns in Mitgefühl und Zugewandtheit üben. Und einfach mal nein sagen zu all den pseudopositiven Grundsätzen des erfolgsorientierten Machbarkeitswahns. Für mehr Menschlichkeit.
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Buchtipp:
Juliane Marie Schreiber: Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven, Piper Verlag 2022.
WIlhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst, Suhrkamp Verlag 1998.
Ja, du hast recht, bzw. die Autoren der Bücher haben recht. Es ist gut, es auszusprechen, denn eigentlich weiß es jede*r, und trotzdem kenne ich dieses „nicht genug angestrengt“ auch. Vielen Dank!
Montagmorgenkaffeegrüße 🌤️🌳☕🍪🌼👍
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Liebe Grüsse zu dir 🍀🌺🌞
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Gelesen und als entlastend, amüsant, teilweise sprachlich etwas brüchig empfunden. Alles in allem ein empfehlenswertes Buch; für mich jedenfalls.
Danke, dass du es hier vorstellst.
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Stimme dir in allem zu.
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ist ein äusserst wichtiges Thema, das differenziert angesehen werden muss, wie hier geschildert
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Sehe ich auch so
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Danke für die Buchvorstellung, ich hatte es schon einige Male im Buchladen in der Hand und habe es bisher doch immer wieder zurück gelegt
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Es sind ja eher meine Gedanken, angestossen vom Buch.
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Wir leben in Gemeinschaften
in denen jeder dem anderen
sein eigenes Urteil setzt
auch wenn
ich mich
lieber nicht
dem Urteil
eines anderen
unterstellen möchte
den anderen
kann ich nicht ändern
nur mich
ich bin
ein Versager
rundweg
wie mein Vater
es mir gesagt
Du bist nichts
Du wirst nichts
Du kommst ins Gefängnis
oder ins Irrenhaus
wie dem
seiner Weissagung
dem richtig
so geworden
ich habe erkannt
dass ich mir selbst
zwischen
meinen Füssen gestanden
dem Wunsche
ein etwas Besonderer
zu werden
ist davon
nichts geworden
die Verantwortung
die meinen Scheitern
liegt bei mir selbst
so muss ich nicht
mir
anderen glauben machen
dass durch eine gute Tat
durch meine Hand
anderen zu beweisen
gesellschaftliche Strukturen
zu verändern
ich imstande bin
an der Klimakatastrophe
an der ich
meinen Anteil habe
mich bewusst
zu beschränken
es geht nicht um die Macht
etwas zu verändern
was für einen Einzelnen
nicht zu schaffen ist
was wir nicht ändern können
das müssen wir ertragen
es braucht kein zusammen
die Gewalt
die uns im Nacken sitzt
an bessere Ufer zu steuern
es braucht den Mut
in den eigenen Spiegel
zu schauen
das was nicht gut
werden kann
bewusst im eigenen Tun
zu verhindern
das Bessere
bewusst der Versuch
im Alltag
in jedem
subjektiven Moment
wir sind alle betroffen
von Ungemach Unbill
durch uns und andere
wir sind alle
die Bösen und Guten
in allem
der unteilbaren Menschenwürde
nein sagen kann ich mir
wenn es Not tut
nur mir selber
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