Gespräche mit Max Frisch: Utopien

«Ob es die Utopie ist von einer brüderlichen Gesellschaft ohne Herrschaft von Menschen über Menschen oder die Utopie einer Ehe ohne Unterwerfungen, die Utopie einer Emanzipation beider Geschlechter; die Utopie einer Menschenliebe, die sich kein Bildnis macht vom ändern, oder die Utopie einer Seligkeit im Kierkegaard’schen Sinn, indem uns das allerschwerste gelänge, nämlich daß wir uns selbst wählen und dadurch in den Zustand der Freiheit kommen; die Utopie einer permanenten Spontaneität und Bereitschaft zu Gestaltung-Umgestaltung (nach Johann Wolfgang Goethe: Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung), alles in allem: die Utopie eines kreativen und also verwirklichten Daseins zwischen Geburt und Tod – eine Utopie ist dadurch nicht entwertet, daß wir vor ihr nicht bestehen. Sie ist es, was uns im Scheitern noch Wert gibt. Sie ist unerläßlich, der Magnet, der uns zwar nicht von diesem Boden hebt, aber unserem Wesen eine Richtung gibt in schätzungsweise 25000 Alltagen. Ohne Utopie wären wir Lebewesen ohne Transzendenz.»

(Max Frisch in seiner Dankensrede anlässlich des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1976)

Als ich ein Kind war, spielte ich gerne mit Lego. Ich hatte immer ausgefallene Ideen, was ich bauen wollte (es gab noch nicht so viele fertige Bausätze mit seitenlangen Bauanleitungen) und versuchte dann, dies umzusetzen. Mein Vater wollte mir immer helfen, mir zeigen, wie es geht, doch das machte mich wütend. Ich wollte es selbst herausfinden. Mein Vater hat mir bis ins Erwachsenenalter vorgeworfen, dass ich mir schon als Kind nicht helfen lassen wollte. Zwar stimmt das nicht ganz, da ich durchaus Hilfe annehme, wo ich etwas nicht selbst kann (oder können will), aber nicht da, wo ich der Überzeugung bin, es selbst zu schaffen.

In der Fachsprache gibt es den Begriff der Selbstermächtigung. Das bedeutet, Strategien zu entwickeln, die dem einzelnen Menschen helfen, autonom und selbstbestimmt ihr Leben zu leben und ihre Herausforderungen zu meistern. In meinen Augen ist das ein zentraler Aspekt des Menschseins. Darauf baut die Selbstachtung, das Selbstbewusstsein, und auch die Würde auf. Menschen, die nicht wissen, dass sie selbst etwas bewirken können, fühlen sich (und sind meist auch wirklich) Opfer der Umstände und damit hilflos und abhängig von anderen. Dieses Gefühl der eigenen Ohnmacht beeinträchtigt das Selbstbild und nagt an der Selbstachtung.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sich als Opfer sehen will, es sei denn, er verspricht sich von dem Status etwas. Was ich mir aber gar nicht vorstellen kann und will, ist, dass jemand zum Opfer gemacht werden möchte. Wenn ich allerdings die aktuellen Diskussionen um Geschlechterakzeptanz, Diskriminierung und Rassismus verfolge, scheint genau das zu passieren: Es werden Täter und Opfer zementiert. Nehmen wir das Beispiel des Rassismus:

Eine aktuell populäre Sicht bei der heutigen Thematisierung von Rassismus (die ursprünglich aus den Staaten zu uns kam) ist, dass Weisse aufgrund ihrer Hautfarbe per se rassistisch seien, weil es Weisse waren, die in der Geschichte die Schwarzen unterdrückt haben. Rassismus ist so gesehen in die Gene eingebrannt, es gibt kein Entkommen.

Diese Sicht zementiert nicht nur die Fronten schwarz-weiss, sie macht Schwarze auch zu ewigen Opfern. Wenn dem Weissen der Täterstatus eingebrannt ist, ist es dem Schwarzen das Opfertum. Tun wir jemandem damit einen Gefallen oder macht diese Sicht irgendetwas besser? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Menschen, so gesehen, wird auf diese Weise die Würde abgesprochen (auf beiden Seiten). Diese Argumentation leugnet, dass Menschen frei sind, sich zu ändern – darauf gründet unter anderem ihre Würde. Avishai Margalit schreibt in seinem Buch „Politik der Würde“:

„der grundlegende Respekt vor jedem einzelnen orientiert sich an dem, was er in Zukunft tun könnte, nicht an dem, was er in der Vergangenheit getan hat. Achtung ist dem Menschen nicht dafür zu zollen, in welchem Grad er sein Leben tatsächlich zu ändern vermag, sondern allein für die Möglichkeit der Veränderung.“

Margalit fährt fort, dass ein Mensch nicht durch seine Vergangenheit determiniert (wenn auch durchaus geprägt), sondern zu jedem Zeitpunkt frei ist, sich und sein Verhalten zu ändern. Wenn dies schon für das eigene Verhalten gilt, wie viel grösser muss also die Möglichkeit einer Veränderung über Generationen sein, in denen durchaus ein Denkprozess stattfand und auch Massnahmen zur Abschaffung von Rassismus erfolgreich durchgesetzt wurden. Leider ist er noch lange nicht aus der Welt, nur denke ich, es bedürfte eines Miteinanders und keiner neuen Fronten, diesen Weg erfolgreich weiterzugehen.

Ich bin der Meinung, es ist wichtig, genau hinzuschauen, wo heute noch strukturelle Benachteiligungen existieren. Diese dürfen nicht hingenommen werden. Die davon Betroffenen sollten aber nicht nur Opfer sein, sondern selbst Akteure. Sie sollten nicht nur von den anderen Veränderungen erwarten, sondern sich auch selbst in der Möglichkeit sehen, aktiv zu werden. Als Teil eines Ganzen mit anderen Teilen. Dafür ist ein Miteinander wichtig, Fronten schaden mehr. Es muss ein Raum geschaffen werden, in welchem es möglich ist, für die eigenen Rechte und gegen Benachteiligungen einzustehen. Dann gibt es keine Täter und Opfer durch von aussen definierte Kriterien, sondern eine gemeinsame Welt mit gemeinsamen Werten und Zielen, welche von allen miteinander gestaltet wird. Eine Welt, in der jeder seinen Platz hat.

Eine Utopie? Ich mag Utopien… und ich glaube, sie könnten oft verwirklicht werden. Und ich glaube, dass die Utopie das ist, was uns immer wieder antreibt, weil wir an etwas glauben, es als machbar sehen, unseren Platz in dem Vorhaben wahrnehmen und als ausfüllbar erachten. Wir sind als Ganze Teil eines Ganzen. Diese Doppelrolle wollen wir ausfüllen, denn nur durch diese sind wir ganz Mensch. Und weniger sollte kein Mensch sein müssen.

Corona, Gedanken und eine Utopie

Ich bin ein Mensch, der schnell zu viel hat. Zu viel Lärm, zu viele Termine, zu viel Müssen, zu viel von aussen, zu viel Einfluss, zu viel Druck. Vieles von all dem mache ich selber, vieles kommt einfach. Durch die Welt, wie sie ist. Ich suchte mir mein Leben lang Nischen und entzog mich. Das klappte mehrheitlich gut. Das Unverständnis ebenso. 
Es passt nicht in unsere Welt, gerne allein zu sein. In unserer Welt muss man präsent sein, man muss sich zeigen, man muss dabei sein, man braucht Termine, man stellt was dar. In unserer Welt repräsentiert man, fügt sich in Schubladen ein, ist nur genehm, wenn man darin Platz findet. In unserer Welt leistet man, und zwar immer das, was an Leistung gefordert ist aktuell. In unserer Welt ist man, wie man ist, weil man eben so ist und zu sein hat. Wie könnte man nur anders sein?

Und ja in unserer Welt ist man sehr tolerant, man spricht über alles und das soll so sein dürfen. Nur wenn jemand spricht, wie man das nicht möchte, dann grenzt man ihn aus. Das fällt in unserer Welt ja auch so leicht: Ein Klilck, er ist weg. Unsere Welt ist geprägt. Von genau dem. Von diesem Leben in einer pluralistischen und liberalen Gesellschaft, das man sich gross auf die Fahnen schreibt, von dem aber wenig zu spüren ist, da schlussendlich doch nur ein kleiner Teil des Pluralismus genehm und nur ein noch kleinerer Teil vom Liberalismus gedeckt ist. Über den Rest diskutieren wir bevorzugt nicht. 

Und nun sitzen wir in diesem Lockdown. Und mir ist es – um es in meiner Sprache zu sagen – vögeliwohl. Ich bin wohl der Profituer eines Umstandes, den ich mir in meinen wildesten Träumen nie gewünscht hätte. NIcht mal geträumt. Nein, schlicht nicht gewollt. Was aber wertvoll ist: Ich muss nirgends hin. Ich darf nicht. Keiner fragt mich, wieso ich nicht will. Es ist klar: Ich kann nicht. Endlich ist die Ruhe da, die mir gut tut. Endlich darf ich so leben, wie es für mich passt, ohne schräg angeschaut zu werden. Endlich bin ich kein Exot, sondern halt einfach so wie alle anderen. Etwas, das ich nicht kenne. Endlich muss ich mich nicht rechtfertigen – auf Arten und Weisen, die dann doch keiner versteht. 
Und langsam kommt die Angst auf: Es wird ein Nachher geben. Kommt dann alles doppelt und dreifach zurück? Was kommt auf mich zu? Kann ich dem bestehen? Was, wenn nicht? Was mir auffällt ist, dass sich meine schon vorher so ausgeprägten Züge nach Rückzug nicht nur gestillt, sondern verstärkt haben. Was vorher noch mal so ging, ist in der Vorstellung nun schon viel. Ich komme mehr als gut klar mit dem Rückzug (auch wenn sogar mir das Eine oder Andere durchaus fehlt), aber ich merke eine immer grössere Angst, dass ich mit einer Umkehr Mühe haben würde. 

Wird nachher mehr Verständnis da sein? Ich denke, dass eher das Gegenteil der Fall sein wird. Jeder, der Mühe hatte, wird umso mehr darauf bedacht sein, einen Zustand hinzukriegen, der all dem entgegen wirkt. Er wird kompensieren wollen. 

Noch ist es nicht so weit. Und noch behalte ich die Hoffnung, dass diese Zeit, die trotz allem nicht einfach ist und war, etwas bewirkt hat in den Köpfen. Und ich wünsche mir, dass wir mit mehr Miteinander daraus hervor gehen. Vielleicht ist das eine Utopie. Nur: Schon ganz viele Staatsphilosophien gründeten auf Utopien, die Amerikanische Verfassung war eine, um nur ein Beispiel zu nennen… und vieles konnte umgesetzt werden. Wieso nicht auch das?

Richard David Precht: Jäger, Hirten, Kritiker

Eine Utopie für die digitale Gesellschaft


„Dieses Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, aus dem Fatalismus des unweigerlichen Werdens aus- und zu einem Optimismus des Wollens und Gestaltens aufzubrechen. Es möchte helfen, ein Bild einer guten Zukunft zu malen.“


Unsere Welt ist in einem schnellen Wandel und manchmal scheint es, alle schauen gespannt zu. Es gibt verschiedene Lager der Zuschauer, die, welche die Entwicklungen als Fortschritt hochjubeln, und die, welche auf Ängsten gegründete Horrorszenarien an die Wand malen.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die fortschreitende Digitalisierung unser Leben stark verändern wird, dass wir uns in vielen Lebensbereichen mit neuen Umständen auseinandersetzen müssen. Berufe werden wegfallen, neue werden kommen, wie die genau aussehen, steht noch in den Sternen, was aber sicher ist: Diese Veränderungen werden sich sicher nicht zugunsten von den jetzt schon sozial Schwachen auswirken, die Schere zwischen Arm und Reich wird sich vergrössern, wenn wir nicht dagegen steuern und in einer humanen Weise auf die neuen Möglichkeiten reagieren.


„Die Digitalisierung wird bereits von allen Volkswirtschaften als Macht anerkannt. Und es ist hohe Zeit zu zeigen, wo die Weichen liegen, die wir jetzt richtig stellen müssen, damit sie sich in einen Segen und nicht in einen Fluch verwandelt. Denn die Zukunft KOMMT nicht! […] die Zkunft wird von uns GEMACHT! Und die Frage ist nicht: Wie WERDEN wir leben? Sondern: Wie WOLLEN wir leben?“


Richard David Precht zeichnet ein sehr realistisches Bild der aktuellen Situation, der vierten industriellen Revolution, welche in vollem Gange mit noch offenem Ausgang ist. Er ruft dazu auf, sich nicht hinter Fortschrittglauben und Ängsten zu verstecken, sondern aktiv die Idee einer wünschenswerten Welt zu schaffen, in welcher Maschinen nicht zur Optimierung oder zum Ersatz von Menschen werden, sondern diese unterstützen.

Er weist weiter auf die Chancen der Digitalisierung hin, welche es dem Menschen ermöglichen könnte, vom Arbeiten im Lohnhamsterrad zu einem selbstbestimmteren und erfüllteren Leben zu kommen, was allerdings nur mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zu verwirklichen wäre, da gerade die wegfallenden Berufe in vormaligen Ausbildungsberufen ein würdevolles Leben ansonsten verunmöglichen würden. Precht nennt seine Lösungsansätze selber eine Utopie, beklagt aber den negativen Klang, den dieses Wort heute hat. Wenn wir den Begriff der Utopie als das sehen, was wir uns wünschen würden, könnten wir es uns aufs Papier schreiben und damit anfangen, das Leben und dessen Bedingungen und Umstände so zu gestalten, dass aus der Utopie die nächste Wirklichkeit wird.

„Jäger, Hirten, Kritiker“ greift ein aktuelles Thema auf und vermittelt auf gut lesbare und verständliche Weise Hintergründe und Aussichten. Die Sprache ist ab und zu etwas gar plakativ und flapsig, die Ausführungen zu umfassend, doch die Grundbotschaft ist eine durchaus gute und bedenkenswerte.

Fazit:
Ein gut lesbares Buch über ein aktuell brennendes Thema, bei dem weniger mehr gewesen wäre, das aber viele bedenkenswerten Ansätze für den Umgang mit einer noch unsicheren Zukunft vermittelt.

Zum Autor:
Richard David Precht wird 1964 in Solingen geboren. Nach dem Abitur studiert er Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte und promoviert 1994 in Germanistik mit der Dissertation Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexivität in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Precht arbeitet fünf Jahre als Wissenschaftlicher Assistent in einem kognitionspsychologischen Forschungsprojekt, hält danach Vorträge und Vorlesungsreihen an unterschiedlichen Universitäten und Kongressen und wird 2011 Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg, 2012 Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin. Daneben schreibt er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften Essays, moderiert seit 2012 die Sendung „Precht“ im ZDF. Von ihm erschienen sind unter anderem Wer bin ich – und wenn ja, wieviele? (2007), Liebe . Ein unordentliches Gefühl (2010), Die Kunst, kein Egoist zu sein (2010), Warum gibt es alles und nicht nichts (2011), Anna, die Schule und der liebe Gott (2013).


Angaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag; Originalausgabe Edition (23. April 2018)
ISBN-Nr: 978-3442315017
Preis: EUR 20; CHF 29.90

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Das eigene Leben leben

So, es reicht. Ich habe mich immer redlich bemüht, lieb und nett zu sein, es allen recht zu machen. Ich habe Kohlen aus dem Feuer geholt, den Kopf hingehalten, Dinge gerade gerückt, die andere verbockt haben und am Schluss selber eins auf den Deckel gekriegt. Ich stand schon als Kind brav beim Examen, um dem Vater keinen Kritikpunkt zu liefern, wurde dann dafür gescholten, dass ich neben dem stand, der doof tat. Irgendwas ist immer, irgendwas stösst an. Allen macht man es nie recht.

Wieso will man eigentlich auf Gedeih und Verderb gefallen? Irgendwann hat man mal gelernt, dass man nur gut genug ist, wenn man das tut, was von einem erwartet wird. Die Problematik an dem Unterfangen ist nur, dass man

  1. nie genau weiss, was erwartet wird, das unterliegt der eigenen Findungsgabe, es erraten,
  2. nie weiss, wie der andere interpretiert, was man tut, das unterliegt, seiner Wahrnehmung,
  3. alles oft ganz anders kommt, als man sich das ausmalt.

Das Resultat beim Gefallenwollen sind meist Frust, Trauer, Wut – zumindest nichts Gutes und das bei allen betroffenen Seiten. Und trotzdem macht man weiter. Man denkt, dass es irgendwann gelingen muss, man sich nur nicht richtig angestellt, sich nicht genug bemüht hat. Und läuft immer wieder ins selbe Aus.

Wozu eigentlich? Hätte ich damals in der Schule mit dem Nachbarsbub die Sau rausgelassen, hätte ich wenigstens Spass gehabt. So wurde ich für etwas getadelt, wofür ich nichts konnte und hatte noch das ständige Gefühl, was zu verpassen.

Wieso soll ich den netten Mann von nebenan nicht anflirten, wenn er eine Frau hat? Ist er treu, ist es ein Spiel, ist er’s nicht, kriegte ihn sonst die Dritte, die sich traut, was ich aus sogenannt moralischen Rücksichtnahmen unterlasse. Wieso soll ich mein Glas Wein nicht trinken und das zweite noch dazu? Spiesser nennen es ungesund, ich habe Spass. Und wer von uns zuerst die Kurve kratzt, das zu entscheiden liegt eh nicht wirklich in unserer Hand – und auch sonst bei keinem, der uns nicht gerade mutwillig umbringt. Das Leben hat seine ungeschriebenen Gesetze, die menschlichen Versuche, denen auf religiösem, wissenschaftlichem oder esoterischem Wege beizukommen, sind eher der Sinn suchenden Verzweiflung denn dem Glauben an Erfolg gewidmet.

Ich denke an all die Menschen, die frisch fröhlich durchs Leben gehen, sich nehmen, was sie wollen, lügen, betrügen, opportunieren, wenn es ihnen in den Kram passt. Ich denke, was für eine Freude im Leben sie haben müssen, können sie tun und lassen, wie ihnen beliebt, wie es ihnen nützt, ohne Rücksicht auf Verlust. Frei nach dem Motto „Mir gehört die Welt und ich nehme sie mir“. Sollten sie je vom hohen Ross fallen, haben sie den Ritt bis dahin genossen, bleiben sie im Sattel, überspringen sie sämtliche Hürden.

Kürzlich sah ich einen Vortrag eines Neurowissenschaftlers und Psychologen. Er erzählte von einem Experiment, in welchem aufgezeigt wurde, dass kleine Babies zu altruistischem Verhalten neigen (sie neigen nicht nur, sie sitzen voll und ganz drin in dem Altruistentopf), erst das Wahrnehmen der Aussenwelt, die Adaption von Vorbildern dazu führe, egoistische Tendenzen auszubilden, sie sich anzueignen. So gesehen wäre jeder Altruist, der auf puren Egoismus verzichtet, schlicht lernresistent. Er hat es verpasst, sich von der Aussenwelt die überlebensnotwendigen egoistischen Tendenzen abzuschauen, die es später erleichtern, über Leichen zu gehen.

Was also tun? Pflicht oder Kür? Der Wunsch nach der Emanzipation vom Urteil von aussen, die Sehnsucht nach der eigenen Grösse, das zu tun, was gerade beliebt, ist gross. Einfach mal die Sau rauslassen, einfach mal den eigenen Weg gehen, fernab von allen Konventionen, Zwängen, Erwartungen. Im Wissen, immer noch geliebt zu sein, akzeptiert zu sein, wenn man ist, wie man ist und sein will. Einfach mal da stehen und wissen, man ist gut, wie man ist, und wer das nicht sieht, kann gehen. Man selber bleibt. Genau so. Der Wunsch bleibt, er fühlt sich gut an. Und doch hat er Grenzen. Sie sind da, wo andere leiden. Wirklich leiden. Nicht weil ihre überzogenen Erwartungen, die nur eigenem Egoismus entsprangen, verletzt werden, sondern weil man ohne Rücksicht auf wirkliche Verluste in ihre Welt eindrang, diese verletzte.

Also doch bleiben, was man zögerlich ist, der ständige Versuch, zu gefallen? Bei Weitem nicht. Augen auf und hinschauen lautet die Devise. Wer bin ich und wo will ich hin? Wieso soll das jemand anders für mich entscheiden? Es ist mein Leben, ich habe nur das eine. Andere geben Tipps und behaupten, alles besser zu wissen, leben lassen sie es doch mich. Wieso nicht gleich das tun, was ich will, wenn ich es sowieso selber tun muss? Dabei aber nie vergessen, dass jeder Mensch ein Recht auf sein Glück hat und mein Weg nicht zwangsläufig durch das Gebiet des andern gehen muss. Glücklich sein, weil andere leiden kann man nur, wenn man die Augen verschliesst vor dem wirklichen Leben. Ich muss mein Leben nicht nach den Erwartungen anderer richten, kann aber auch nicht erwarten, dass sie mein Leben durch ihr Leid mittragen. Würde jeder so denken, entstände ein Miteinander von selbstbestimmten, das eigene Ich lebenden Menschen.

Friede? Mit sich und den anderen? Alles blosses Hirngespinst und Utopie? Nachtgedanken einer heillosen Idealistin?

Eigentlich wäre es so einfach…

Das Leben könnte so einfach sein, merkte man, wie sehr man jemanden liebt, wenn er da ist, schätzte man, was er tut, so lange er es tut, lobte man, was gut ist, so lange es noch gut ist und wäre dankbar für das, was ist, so lange es ist, statt zu zürnen, was nicht ist. 

Irgendwann ist der nicht mehr, den man gering achtete, tut er nicht mehr, was einem gut tat, ist nicht mehr gut, was mal war und ist überhaupt alles ganz anders. Und man denkt plötzlich zurück und sieht, was man eigentlich hatte, aber zu wenig schätzte. Und man bedauert, nicht früher hingeschaut zu haben, denn oft ist es zu spät, es gibt keine zweite Chance. 

Das Leben ist kein Ponyhof und selten kriegt man alles, was man sich so sehr wünschen würde. Man sieht es immer deutlicher vor sich, denkt, wie schön es wäre, es zu haben. Man malt sich aus, wie das Leben wäre, wenn die Umstände rosiger, das Licht heller, der Erfolg grösser wäre. Man sieht die vielen positiven Aspekte des so sehr gewünschten und sehnlichst vermissten Abwesenden. Wie klein wirkt dagegen das, was da ist, wie langweilig, profan.

Und man fängt an zu zürnen, zu hadern, schimpft auf das, was ist, weil man es als Grund dafür sieht, nicht zu haben, was sein könnte. Man misst das Sein am Sollen und sieht es gleichzeitig als Hindernis hin zu diesem. Und verstrickt sich so selber in den Netzen der unendlichen Unzufriedenheit. Auf Dauer helfen da auch Zigaretten, Alkohol und Essen nicht mehr, der Schmerz des Nichterreichten nagt. 

Und plötzlich ist alles anders. Man hat sich vom Hindernis getrennt oder aber es fiel einfach weg. Und mit ihm das alte Leben. Alles neu. Alles frisch. Man fühlt sich frei, man fühlt sich… leer. Das vorher Gewünschte ist noch immer nicht da, das gering geschätzte aber weg. Und plötzlich merkt man, was es alles war. Viel mehr als man gesehen hatte. Viel mehr, als man in Worte fassen konnte. Es war nicht nur öde Langweiligkeit und fader Alltag. Es war das eigene Leben. All die kleinen Dinge, all die Puzzleteile des funktionierenden Lebens – sie sind weg. Und nun fehlt viel mehr als das, was man so erstrebenswert fand, weil es Luxus bedeutete. Nun fehlt die Basis. Das, auf dem das Leben fusste, das, aus dem man Kraft schöpfte. 

Zu spät….

Es ist nie zu spät. Nie zu spät, hinzuschauen, was ist, was man wirklich braucht im Leben, was wirklich zählt im Leben. Es ist nie zu spät, zu schätzen, was gut ist und gut tut. Und es zu sagen. Es ist nie zu spät für Dankbarkeit. Und jeder, der hier denkt, das sei gar kitschig und abgehoben, darf sich fragen, wieso er das so sieht. Und ja, vielleicht ist es auch klitschig, aber es ist, was momentan grad wahr und wichtig scheint. Manchmal ist Loslassen wichtig. Weil man sonst das wirklich Wichtige verpasst. Manchmal verkennt man das Wichtige, weil man vielen Kleinigkeiten nachtrauert. 

Bewusstsein ist das Zauberwort. Für das, was war, ist und sein soll. Aus diesem Grund habe ich das Wochenfazit eingeführt. Was war gut die Woche, was schlecht, was wünsche ich mir für die nächste. Und selbst wenn es keine hochtrabenden Dinge sind, sie lassen mich hinschauen zu den Wünschen, Träumen und Dankbarkeiten sie lassen mich hinsehen, was ich denke, fühle, will.

Mein Fazit für heute?

Schlecht war ein Abschied.

Gut ist das Wissen, dass Liebe existiert und so unendlich tief und schön ist, dass es fast weh tut – nein, dass es weh tut.

Wünschen tue ich mir nur, dass ich immer weiter schätzen kann, was ich habe und mich nicht in den Unendlichkeiten der eigentlich nichtigen Wünschen verliere. 

 

Der Mensch als Störfaktor im Idealismus

Wir träumen von einem Leben in Gerechtigkeit, einem Leben in einem Land, in welchem alle die gleichen Rechte haben, es allen so gut geht, dass sie ein menschenwürdiges Leben leben können, ein Leben, welches durch Rechte gesichert und geschützt ist. Wir wünschen uns ein Miteinander in Frieden und ohne Krieg. Und machen eigentlich ständig genau das Gegenteil von all dem. Woran liegt es?

Der Mensch stellt gerne ideale Konzepte auf, ohne zu berücksichtigen, dass sie an einem immer scheitern: Am Menschen selber.

Die Divergenzen zwischen Wunsch und Realität finden sich auf allen Stufen des Zusammenlebens. Die ideale Staatsform wird theoretisch immer wieder neu gesucht und gar gefunden. In der Praxis zeigen sich immer Schwächen, zeigt sich immer, dass jedes ideale Modell von einigen ausgenutzt werden kann und auch wird, was dann auf Kosten der anderen geschieht. Und einige fallen dabei durch die Masche in einen Zustand, der dem gewünschten nicht nur nicht ähnlich ist, sondern ihm entgegengesetzt ist.

Wo liegt der Ausweg? Zuerst müsste man die Variable Mensch in dem Spiel beachten und zur Kenntnis nehmen, dass der Mensch kein Übermensch ist, der nach moralischen Grundsätzen, frei von egoistischen Ansprüchen und ständig auf der Suche, Gutes zu tun, durchs Leben geht. Man müsste die menschlichen Abgründe mit in die Waagschale werfen und ihnen Rechnung tragen. Jedes Modell, das auf idealen Menschen fusst, wird zur Utopie verkommen.

Als Zweites müsste man sich wohl den realen Gegebenheiten stellen. Es bringt nichts, von Idealvorstellungen auszugehen, um neue Lebensmodelle zu verwirklichen, welche Ansprüchen genügen sollen. Was Sand gebaut wird, wird nie halten. Die heutige Realität ist weit davon entfernt, ein Idealzustand zu sein. Armut ist verbreitet, die Schere zwischen arm und reich tut sich immer mehr auf. Zwar hätte es genug Ressourcen für alle, niemand müsste hungern, doch sie sind so verteilt, dass einige immer noch mehr kriegen, andere immer ärmer werden.

Staaten sind über Jahrzehnte im Krieg, es gibt Länder, die über Jahre keinen Frieden mehr kennen oder aber nach einer langen Unterdrückung direkt in Unruhezustand übergingen. In anderen Ländern geht die ganze Wirtschaft kaputt, sie stehen kurz vor dem Bankrott. Krise klingt es von überall.

Auch im Kleinen drückt die Krise durch. Familien sind zum Auslaufmodell geworden, sie zerbrechen am laufenden Band. Der Kampf um das Danach wird gross. Wie soll man es regeln, was ist fair? Dabei geht man vom althergebrachten Modell aus und will möglichst wieder zusammenkleben per Gesetz, was der Mensch entzweite. Und alle sehen sich als Verlierer. Der Vater klagt, seine Kinder nicht mehr zu sehen, die Mutter klagt, keine Freiheit mehr zu haben, keine Stelle mehr zu kriegen, weil sie gebunden ist. Einer von beiden oder beide laufen in die Gefahr, zum Sozialfall zu werden. Die Kinder? Stehen mittendrin und leiden. Je grösser der Streit, desto grösser das Leiden. Der Staat will eingreifen. Will gerecht sein. Will per Gesetz regeln, wie die beiden zerstrittenen oder im besten Fall nur getrennten Parteien miteinander umzugehen haben. Er vergisst dabei, dass kein Gesetz Frieden bringen kann, wenn Gefühle verletzt sind. Kommunikation lässt sich nicht per Gesetz erzwingen und jede neue Regelung birgt wieder neue Unrechtsmöglichkeiten.

Wo liegt die wirkliche Lösung?  Wohl in einem kompletten Umdenken. Die Richtung wird noch zu finden sein, was offensichtlich scheint: Wir sind noch weit davon entfernt und bewegen uns eher davon weg als darauf zu.