Rainer Maria Rilke: Abschied

Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt.
Wie weiß ich’s noch: ein dunkles, unverwund’nes,
grausames Etwas, das ein schön verbund’nes
noch einmal zeigt und hinhält und – zerreißt.

Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen,
Das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
Zurückblieb, so als wären’s alle Frauen
Und dennoch klein und weiß und nichts als dies:

Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
Ein leise Weiterwinkendes -, schon kaum
Erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
Von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.

Schon kehrt der Saft aus jener Allgemeinheit,
Die dunkel in den Wurzeln sich erneut,
Zurück ans Licht und speist die grüne Reinheit,
Die unter Rinden noch die Winde scheut.

Die Innenseite der Natur belebt sich,
Verheimlichend ein neues Freuet euch;
Und eines ganzen Jahres Jugend hebt sich,
Unkenntlich noch, ins starrende Gesträuch.

Des alten Nußbaums rühmliche Gestaltung
Füllt sich mit Zukunft, außen grau und kühl;
Doch junges Buschwerk zittert vor Verhaltung
Unter der kleinen Vögel Vorgefühl.

Ab und an fehlen eigene Worte. Es sind meist Zeiten, die weniger Worte bedürfen, weil das, was ist, gefühlt ist. In den Zeiten ist die Lyrik besonders wertvoll, denn was, wenn nicht sie, stiesse vor ins Herz und träfe den Punkt?

Thomas Mann schrieb nach dem Zweiten Weltkrieg mal (sinngemäss) an Mascha Kaléko, sie solle weiterschreiben, denn Lyrik sei es, was die Menschen brauchen. Die beiden liegen mir sehr am Herzen, Rilke ist für mich der Stern am Himmel der Dichtung.

Drum möchte ich das Gedicht mit euch teilen. Es passt grad in mein Leben. Und bringt auch Hoffnung mit.

4 Kommentare zu „Rainer Maria Rilke: Abschied

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s