Prägende Bücher

Ich hörte eine Zeit lang den Podcast «Das Lesen der anderen», in welchem Menschen ihre fünf prägendsten Bücher vorstellten. Es blieb natürlich nicht aus, dass ich mir über meine Gedanken machte. Ich hatte vier auf Anhieb, es war kein Nachdenken nötig, kein Zögern fand sich ein. Das fünfte machte es mir schwer. Ich überlegte, ich kam nicht drauf, bis ich bei mir dachte, dass dies wohl das ist, was mich ausmacht: Das fünfte gibt es wohl, nur wechselt es immer mal wieder, je nach Alter, Zeit, Lust und Laune. Es gibt so vieles in der Welt, das interessant ist, so dass es mir oft schwerfällt, mich ein für alle Mal festzulegen, unwiderruflich (einige wenige Ausnahmen bestätigen die Regel). Und: Es wäre unfair all den Büchern gegenüber, die ich noch lesen wollte: Meine fünf Plätze wären belegt, da käme nichts mehr dafür in Frage. 

Wieso aber die gewählten vier Bücher?
– Mit «Grimms Märchen» fing alles an. Ich kriegte sie vorgelesen, ich liebte die Geschichten, allen voran «Der eiserne Heinrich», den ich mir immer wieder neu wünschte als Gute-Nacht-Geschichte. 
– Thomas Mann, Doktor Faustus: Ich habe das Buch gelesen, zerlesen, analysiert, damit gelebt in der Zeit meiner Masterarbeit. Die Zeit war durchtränkt von Thomas Mann und der Master ein erstes Etappenziel eines Traums, den ich schon als kleines Mädchen hatte: Studieren. 
– Goethes Faust: Ich las es wieder und wieder, dieses Streben nach Erkenntnis, nach Verstehen, dieses Verzweifeln oft auch am Leben und seinen Beschränkungen, die ich so gut kannte, haben mich immer wieder neu eingenommen – und die Sprache, die Kunst dahinter. 
– Rilke: Das Buch ist zerlesen, durchgearbeitet, es ist mein Begleiter seit vielen Jahren und immer wieder auch Zuflucht, wenn ich auf der Suche nach etwas Schönem, Tröstenden, Tiefen bin. 

Was sind für euch prägende Bücher?

Tagesgedanken: Was bleibt

Es gibt Tage, nach denen ist nichts mehr, wie es mal war. Es sind Tage, an denen etwas passiert, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, bei denen es ein Davor und ein Danach gibt. Es sind Tage, die einen Riss im Leben hinterlassen, eine Lücke. Und keiner ist davor sicher.

„Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.“
Masche Kaleko

Der Tod entreisst. Er trennt, was mal zusammen war. Er nimmt den einen mit und lässt den anderen ohne diesen zurück. Was nach dem Tod kommt, wissen wir nicht, was er uns nimmt, ist umso klarer. Und damit müssen wir weiterleben. Wo mal jemand war, ist keiner mehr. Und doch bleibt ganz viel. Und das ist nur da, weil der da war, der nun fehlt. Dieses Wissen legt einen Grundstein für Dankbarkeit, die weiter durchs Leben trägt nebst all den schönen Erinnerungen, die das Herz nähren.

Rilke schrieb:

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.“

Und wer weiss: Vielleicht ist der letzte Ring auch der Ring, den andere für uns weiterziehen. Durch ihre Erinnerung. Und wir gestalten diese Erinnerung durch unsere Gegenwart.

#abcdeslesens – P wie „Der Panther“ (Rainer Maria Rilke

Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris

Der Panther ist wohl eines der bekanntesten Dinggedichte Rilkes. Bei Dingggedichten werden leblose oder lebendige Objekte zum Sujet des Gedichts, sie tragen die Botschaft. Rilke gilt als Schöpfer der Dinggedichte, sie sind bei ihm vor allem in den Neuen Gedichten (1907/08) zu finden.

Der Panther hat drei Strophen mit je vier Versen, die als Reimschema jeweils den Kreuzreim aufweisen. Auffällig ist auch der Binnenreim in der dritten Zeile, des Weiteren die Häufung des Umlauts ä, welche dem Gedicht einen eigenen Klang geben. Der Rhythmus mit dem stets gleich bleibenden jambischen Metrum nimmt den Inhalt auf, er wirkt träge. Indem man das Gedicht laut liest, spürt man die Bewegung des Panthers förmlich. Man sieht und hört, wie er hinter Stäben hin und her geht, wie er ganz auf sich zurückgeworfen ist, weil da ausser tausend Stäben keine Welt mehr zu sein scheint.

Indem Rilke den Panther von aussen beschreibt, in der ersten Strophe den Blick, dann den Gang, schliesslich das Auge, von wo er im Herzen landet, legt er gleichzeitig die Innensicht des Panthers offen. Wie der Blick scheint auch der Panther müde, er läuft nur in dem ewig gleichen Rhythmus hin und her. Zwar sieht man noch die Kraft, die in ihm steckte, allein sie ist betäubt – wie es auch sein Wille ist.

Und doch gibt es Momente, da wird er wach, da sieht er ein Stück Welt, die ihm ins Herz dringt, wo alles wieder endet. Danach könnte das Gedicht wieder von vorne beginnen.

Der Erfolg des Gedichts kommt wohl unter anderem daher, dass man sich selbst erkennt in diesem Panther. Auch als Mensch ist man oft müde von all den Alltäglichkeiten des Seins, von (von aussen und innen gebildeten) Gefängnissen und Einschränkungen. Man folgt ewig gleichen Pfaden über Tage Wochen, Jahre, glaubt kaum mehr, dass es irgendwann anders sein könnte – ausser vielleicht dann, wenn ein kleiner Hoffnungsschimmer ins Herz sticht, ausgelöst durch ein Bild, ein Wort, einen Gedanken.

Danach nimmt das Leben wieder seinen Lauf. Und man geht ihn mit, Schritt für Schritt in all den Schranken, die um einen sind.

Zum Autor
René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke wird am 4. Dezember 1875 in Prag, welches damals zu Österreich-Ungarn gehörte, geboren. Glücklich kann man seine Kindheit wahrlich nicht nennen. Erst wollte die Mutter ihn eigentlich als Mädchen sehen, steckte ihn in entsprechende Kleider, später sollte er eine Militärlaufbahn anstreben, was gar nicht seinem Naturell entsprach und ihn entsprechend unglücklich machte. Nach sechs Jahren konnte er krankheitsbedingt abbrechen. Der nachfolgende Besuch der Handelsakademie wurde auch abgebrochen, dies wegen einer unstatthaften Beziehung zu einem Kindermädchen. Es folgte ein Studienbesuch und dann kam es zu der Begegnung, die wohl sein Leben am massgeblichsten geprägt hat: Lou Andreas-Salomé trat in sein Leben und änderte gleich mal seinen Namen hin zum (wie sie fand) männlicheren Rainer.

Rilke ist ein Nomade, wohnt an keinem Ort lange, hält es mit keiner Frau lange aus, mag Beziehungen eher auf Distanz als in der Nähe. Seine einzige und wirkliche Liebe scheint der Dichtung zu gehören. Immer wieder um seine Gesundheit kämpfend wurde 1926 bei Rainer Maria Rilke Leukämie diagnostiziert. Er stirbt am 29. Dezember 1926 in der Nähe von Montreux und wird am 2. Januar darauf im Bergdorf Raron beigesetzt, nahe seines letzten Wohnortes. Den Spruch für seinen Grabstein hat er selber verfasst:

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.

Rainer Maria Rilke: Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort


Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heisst Hund und jenes heisst Haus
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mir bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, 
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Rainer Maria Rilke schrieb einmal: „Ich habe mich, seit ich denken kann, als Anfänger gefühlt.“ Im Buddhismus gibt es das auch, den Anfängergeist. Es bedeutet, dass man die Dinge immer wieder mit neuem Blick sehen, sie nicht einfach in gewohnte Schubladen stecken, sondern in ihrem So-Sein wahrnehmen soll. Wie viel Neues bietet die Welt da plötzlich? Dieses Anfänger-Sein steckt auch in diesem Gedicht. Es ruft dazu auf, nicht einfach gleich für alles Namen zu finden und die Dinge so in Schubladen abzulegen. Es ruft dazu auf, demütig zu bleiben, nicht alles zu wissen meinen, sondern hinzuschauen, um Neues zu sehen und lernen.

Indem wir durch die Welt gehen und die Dinge mit den Augen der Gewohnheit betrachten, sehen wir nicht, was wirklich ist. Wir sind in einem Schleier gefangen, der die wahre Sicht verschliesst. Wir nehmen nicht mehr wirklich wahr, sondern bewegen uns eigentlich schlafend durch die Welt. Und wir töten diese förmlich ab, da wir ihr die Lebendigkeit absprechen durch das schlichte benennen. Wir nehmen damit auch der Sprache ihre Kraft, da dieses Benennen ein oberflächliches ist. Es geht nicht mehr in die Tiefe, es lässt alle Nuancen vermissen, sondern handelt die Dinge mit einem Wort ab. Es ist wohl kein Ding so flach, als es mit einem einzelnen Wort hinreichend beschrieben wäre.

Denken wir an einen Baum. Wir laufen durch die Strasse, sehen diesen, denken Baum und gehen weiter. Wir sehen nicht das kräftige Grün der Blätter, sehen nicht die kleinen, feinen Blüten, die in ihrer Mitte einen feinen Stempel haben. Wir sehen nicht die Maserung der kleinen Blätter, die wie Landschaften ganze Welten darstellen. Wir sehen nicht die Maserung der Rinde, in denen sich wunderschön natürliche Muster zeigen. Wir sagen Baum und sind an diesem vorbei. Sähen wir genauer hin, eröffnete sich uns eine Schönheit, die dann in unser Leben einzöge.

Aus diesem Grund ruft Rilke dazu auf, den Dingen fern zu bleiben mit einfachen Worten. Lass die Dinge zu dir sprechen, lass sie singen und höre zu. Wenn ihr sie benennt, sagen sie nichts mehr, dann sind sie tot. Und damit ist deine Welt um dich tot. In einer toten Welt lebt es sich nicht froh. Ein Leben, das ein wirkliches solches sein soll, das lebendig und reich sein soll, bedarf eines ebensolchen Blicks, eines aufgeschlossenen, nicht wertenden, offenen, der wirklich wahrnimmt.



Rainer Maria Rilke: Was mich bewegt

Nach meinem kürzlichen Text zum Thema Geduld möchte ich hier die wunderbaren Worte von Rilke nachreichen Geduld. Wer könnte sich schöner und tiefer ausdrücken, als der grosse Meister:

Man muss den Dingen
Die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann; alles ist austragen –
und dann
Gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen
des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind,
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit …
Man muss Geduld haben,
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages in die Antwort hinein.

Rainer Maria Rilke: Die Liebende

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

Die Liebende

Ja ich sehne mich nach dir. Ich gleite
mich verlierend selbst mir aus der Hand,
ohne Hoffnung, dass ich das bestreite,
was zu mir kommt wie aus deiner Seite
ernst und unbeirrt und unverwandt.

…jene Zeiten: O wie war ich Eines,
nichts was rief und nichts was mich verriet;
meine Stille war wie eines Steines,
über den der Bach sein Murmeln zieht.

Aber jetzt in diesen Frühlingswochen
hat mich etwas langsam abgebrochen
von dem unbewussten dunkeln Jahr.
Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiss was ich noch gestern war.

(1907)

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Projekt „Lyrische Helfer“ – Ein Gedicht, das man lesen kann, wenn man liebt oder wenn man sich sehnt

Was wollte man hinzufügen? Man kann es nur lesen, nochmals lesen, immer wieder lesen. Und immer findet man was, berührt einen etwas Neues, ist man bewegt.

Rainer Maria Rilke: Abschied

Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt.
Wie weiß ich’s noch: ein dunkles, unverwund’nes,
grausames Etwas, das ein schön verbund’nes
noch einmal zeigt und hinhält und – zerreißt.

Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen,
Das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
Zurückblieb, so als wären’s alle Frauen
Und dennoch klein und weiß und nichts als dies:

Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
Ein leise Weiterwinkendes -, schon kaum
Erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
Von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.

Schon kehrt der Saft aus jener Allgemeinheit,
Die dunkel in den Wurzeln sich erneut,
Zurück ans Licht und speist die grüne Reinheit,
Die unter Rinden noch die Winde scheut.

Die Innenseite der Natur belebt sich,
Verheimlichend ein neues Freuet euch;
Und eines ganzen Jahres Jugend hebt sich,
Unkenntlich noch, ins starrende Gesträuch.

Des alten Nußbaums rühmliche Gestaltung
Füllt sich mit Zukunft, außen grau und kühl;
Doch junges Buschwerk zittert vor Verhaltung
Unter der kleinen Vögel Vorgefühl.

Ab und an fehlen eigene Worte. Es sind meist Zeiten, die weniger Worte bedürfen, weil das, was ist, gefühlt ist. In den Zeiten ist die Lyrik besonders wertvoll, denn was, wenn nicht sie, stiesse vor ins Herz und träfe den Punkt?

Thomas Mann schrieb nach dem Zweiten Weltkrieg mal (sinngemäss) an Mascha Kaléko, sie solle weiterschreiben, denn Lyrik sei es, was die Menschen brauchen. Die beiden liegen mir sehr am Herzen, Rilke ist für mich der Stern am Himmel der Dichtung.

Drum möchte ich das Gedicht mit euch teilen. Es passt grad in mein Leben. Und bringt auch Hoffnung mit.

Rainer Maria Rilke: Der Blinde

Sieh, er geht und unterbricht die Stadt,
die nicht ist auf seiner dunkeln Stelle,
wie ein dunkler Sprung durch eine helle
Tasse geht. Und wie auf einem Blatt

ist auf ihm der Widerschein der Dinge
aufgemalt; er nimmt ihn nicht hinein.
Nur sein Fühlen rührt sich, so als finge
es die Welt in kleinen Wellen ein:

eine Stille, einen Widerstand -,
und dann scheint er wartend wen zu wählen:
hingegeben hebt er seine Hand,
festlich fast, wie um sich zu vermählen.

Das Gedicht entstand 1907 in Paris. Es steht in einer Reihe von Gedichten, die sich mit den menschlichen Sinnen, dem menschlichen Sehen oder auch unmenschlichem Wegsehen befassen. Das Sehen selber wird Gegenstand, der Gegenstand, auf den der Blick fallen könnte, rückt in die zweite Reihe.

Das Gedicht fängt mit einem Apell an: Sieh! Der Leser soll hinsehen, wo es nichts zu sehen gibt, weil alles im Dunkel liegt. Er soll das tun, was dem Blinden verwehrt ist, der mit seiner Blindheit alles in die Dunkelheit führt. Damit entstehen Fronten: Einer soll hinsehen, einer sieht nichts. Hellsicht und Blindheit stehen nebeneinander.

Rilke fordert den Sehenden auf, das zu sehen, was er wohl im Alltag selber nicht sieht. Er zeigt ihm, wie der Blinde durch die Welt geht und wie er sie wahrnimmt. Weil alles um ihn Dunkelheit ist, muss er die Stadt auf eine andere Weise erleben. Er muss sie fühlen, muss die anderen Sinne aktivieren. So wirken denn Wellen auf ihn, sie kommen als Stille und auch als Widerstand daher. Er nimmt seine Hand und tastet. Damit verbindet er sich mit der Stadt, geht mit ihr eine innige Beziehung ein.

So gesehen ist der Blinde tiefer in der Stadt als es ein Sehender meist ist. Während dieser quasi blind durchs Leben eilt, verweilt der Blinde und fühlt. Er wird eins mit der Stadt, vermählt sich mit ihr. Oft denken wir, der Blinde könne etwas, das wir können, nicht. Wir nennen ihn in seiner Wahrnehmung behindert durch diese Einschränkung. In Tat und Wahrheit nimmt er viel mehr wahr, als wir es tun, die wir sehen können. Geblendet von all den oberflächlichen Eindrücken gehen wir nicht mehr in die Tiefe. Wir vermählen uns nicht mit den Dingen, wir fühlen sie nicht, sondern sehen sie aus der Distanz von uns getrennt.

Erst, wenn wir lernen, mit allen Sinnen an einem Ort zu sein, werden wir ihn auch wirklich wahrnehmen und erleben. Dann leben wir an diesem Ort, dann sind wir ganz da. Dahin zielt der Appell am Anfang: Sieh! Und zwar wirklich – auch das, was für die Augen nicht sichtbar ist, im Dunkel liegt.

Fritz J. Raddatz: Rainer Maria Rilke (Rezension)

Überzähliges Dasein. Biogrraphie

„Ich bin wie eine leere Stelle“

Inhalt

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.

RaddatzRilkeAm 4. Dezember 1875 wird Rainer (eigentlich René) Maria Rilke in Prag geboren. Die Kindheit ist schwierig, die Mutter verlässt die Familie bald, die Narben davon und auch einer dem sensiblen Gemüt schadenden Schulzeit werden den Dichter ein Leben lang begleiten. Schon früh ist Rilke klar, dass er Dichter werden will, sein erster Gedichtband erscheint 1894. Es folgt ein Leben auf Reisen, ein Leben mehrheitlich finanziert durch Gönner und Mäzeninnen. Entstanden ist dabei ein literarisch wertvolles, und grossartiges Werk.

Beurteilung
Fritz J. Raddatz zeichnet anhand verschiedener Themen und Lebensetappen das Leben des Rainer Maria Rilke nach. Er tut dies in einer pointierten, schonungslosen Art. Die Sprache ist oft verschnörkelt, als ober der Autor selber literarische Höhenflüge vollbringen statt eine Lebensbeschreibung vollbringen wollte. Trotzdem beeindruckt Raddatz durch ein grosses Literaturwissen, durch das er immer wieder Bezüge zu anderen Schriftsteller aus Rilkes Zeit ziehen konnte und so das Leben und Schreiben des Dichters in einen grösseren Zusammenhang stellte.

Bei den Interpretationen verschiedener Stücke Rilkes beweist Raddatz eine scharfe Sicht auf Details und weist auch auf häufige Irrtümer anderer Interpreten einzelner Stücke hin. Alles in allem ist das vorliegende Buch eine sehr zu empfehlende Sicht auf das Leben eines der – wie ich finde – grössten Dichter der deutschen Literatur. Da kann man dem Autoren die manchmal etwas mühselig zu lesende Sprache nachsehen.

Abgerundet wird das Buch durch eine kurze chronologische Auflistung der wichtigsten Etappen von Rilkes Leben sowie eine Auflistung der benutzten Primär- und Sekundärliteratur. Ein Index hilft, gezielt die in dieser Biographie erwähnten Personen im Text zu finden.

Fazit:
Eine sprachlich etwas schwierige, inhaltlich aber sehr überzeugende Beschreibung von Rilkes Leben und Werk. Sehr empfehlenswert!

Der Autor
Fritz J. Raddatz ist der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Franςois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982-2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015.

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 240 Seiten
Verlag: Rowohlt Taschenbuch Verlag (18. Dezember 2015)
ISBN-Nr: 978-3499269936
Preis: EUR 10.99 / CHF 16.90
Zu kaufen in Ihrer Buchhandlung vor Ort oder online u.a. bei AMAZON.DE und BOOKS.CH

 

Heimo Schwilk: Rilke und die Frauen (Rezension)

Biografie eines Liebenden

Das Lieben und Leiden des Rilke

Der Dichter einzig hat die Welt geeinigt,
die weit in jedem auseinanderfällt.
Das Schöne hat er unerhört bescheinigt,
doch da er selbst noch feiert, was ihn peinigt,
hat er unendlich den Ruin gereinigt:
und auch noch das Vernichtende wird Welt.

SchwilkRilkeFrauenRilke, einer der wohl grössten deutschen Dichter, hat ein Thema immer wieder in seine Verse gepackt: Die Liebe. Aus seiner Feder stammen Gedichte, welche daraufhin über Jahrzehnte zwischen Liebenden ausgetauscht wurden. Es sind Gedichte, welche die Liebe feiern, sie hochheben. Es sind aber auch Gedichte eines Mannes, der selber einerseits zeitlebens auf der Suche nach (mütterlicher) Liebe war, sie andererseits aber nie auf Dauer leben konnte.

Heimo Schwilk zeichnet im vorliegenden Buch das Bild eines Mannes, welcher früh von der Mutter verlassen wurde und der unter diesem Verlust zeitlebens litt. So sehr er seine Mutter teilweise in Briefen an verschiedene Adressaten beschuldigte und beschimpfte, so wenig kam er von ihr los. Davon zeugen nicht nur sein ganzes Leben begleitende Rituale, sondern auch ein lebenslanger Briefwechsel mit der Mutter sowie wohl auch sein Verhalten Frauen gegenüber. Und um dieses geht es im vorliegenden Buch.

Heimo Schwilk stellt Rilkes Beziehungen zu den unterschiedlichsten Frauen vor, den meisten von ihnen war eines gemeinsam: Sie unterstützten ihn (vor allem finanziell und teilweise auch emotional) in seiner Kunst. Seinem Schreiben gehörte wohl seine ganz grosse Liebe, denn diesem unterordnete er alles andere. So war denn auch die grösste Angst in seinem Leben immer wieder, ausgeschrieben zu sein. Sein Leben, dessen war er sich bewusst, gehörte der Kunst und für diese brauchte er eines dringend: Einsamkeit. Und natürlich das nötige Geld, um sich das Leben angenehm zu machen.

Wer nun denkt, er sei ein blosser Profiteur der Gunst der reichen Frauen gewesen, dem muss insofern widersprochen werden, als diese ja – vor allem verführt durch seine Worte in der Dichtung und in Briefen – ihn freiwillig unterstützten, weil sie an ihn und seine Dichtung glaubten. Zudem zeichnete Rilke eines ganz gewiss aus: Dankbarkeit. So sagte denn auch der Philosoph Hans Blumenberg über Rilke:

Zwar kein Meister der Verführung, aber ein Meister der Dankbarkeit. Er war es.

Heimo Schwilk gelingt es, in einer leicht lesbaren Weise das Leben und Lieben (auf seine Weise tat er durchaus) des Rainer Maria Rilke nachzuzeichnen anhand seiner Beziehungen zu verschiedenen Frauen. Ab und an tut er das auf eine fast schon spöttisch anmutende Weise, die nicht immer angebracht scheint, dabei beweist er aber grosse Kenntnis des Lebens und Werks Rilkes und öffnet einen Blick hinter die Kulissen des ganz in seiner Kunst aufgehenden Dichters.

Fazit:
Ein gut lesbares, tiefe Einblicke gewährendes Buch über das Leben und Lieben Rainer Maria Rilkes. Absolut empfehlenswert!

Der Autor
Heimo Schwilk, geboren 1952 in Stuttgart, Dr. phil., ist Autor zahlreicher Bücher über Politik und Literatur. Seine großen Biografien über Ernst Jünger und Hermann Hesse wurden im In- und Ausland hoch gelobt. Er war lange Jahre Leitender Redakteur der Welt am Sonntag und lebt in Berlin. 1991 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis für herausragenden Journalismus ausgezeichnet.

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 336 Seiten
Verlag: Piper Taschenbuch (1. Juni 2016)
ISBN-Nr: 978-3492308878
Preis: EUR 11/ CHF 16.90
Zu kaufen in Ihrer Buchhandlung vor Ort oder online u.a. bei AMAZON.DE und BOOKS.CH

Rezension: Heimo Schwilk – Rilke und die Frauen. Biografie eines Liebenden

Rilke – auf der ständigen Suche nach der Mutter?

Rilke, bekannt für seine wunderbaren und tiefgründigen Gedichte, wurde in seinem Leben und Dichten hauptsächlich von Frauen beeinflusst. Frauen säumen sein Leben, darunter Namen wie Lou Andreas-Salomé, Clara Westhoff, Marie von Thurn und Taxis und viele mehr. Angefangen hat aber alles mit Sophia Rilke – quasi das ganze Übel nahm da seinen Lauf. Eine zu enge Beziehung sei es gewesen, die den kleinen Rilke und später auch den jungen Mann gefangen hielt, prägte bis in die tiefsten Tiefen.

Der Schlüssel zu Rilkes beziehung zum weiblichen Geschlecht ist sein Verhältnis zur Mutter.

Er hätte sich drum nie ganz auf eine andere Frau einlassen können, hätte wenn, dann eher mütterliche Typen gesucht um die Distanz zur Mutter zu überbrücken, nachdem er von ihr weggegangen war.

Rilke sehnt sich lebenslang nach der innigen Liebe, die er als Kind gegenüber seiner Mutter empfand. […] Der junge Dichter suchte eine Ersatzmutter, die nicht einreisst, sondern aufbauen hilft; der er nicht Lebensmut zusprechen muss, sondern zu der er aufschauen darf, um zu lernen und zu wachsen.

Oder:

Rilke liebte die Frauen wie ein Sohn die eigene Mutter. Deshalb erschrak er, wenn es in der Liebe zum Letzten kommen sollte. Er floh vor dem Feuer der Leidenschaft, das seine Briefe und Gedichte entfacht hatten.

Er hätte Frauen mehr dafür benützt, sie in seine Gedichte zu verstricken, denn in sein Leben. Der problemhafte Umgang mit Frauen führe im Grunde darauf zurück, dass Rilke eigentlich selber lieber ein Mädchen wäre. Dies die These von Heimo Schwilk. Und über allem schwebte immer Rilkes Hässlichkeit, die der Autor der vorliegenden Biographie nicht müde wird, zu betonen. Einige Zeugnisse:

Rilke war kein schöner Mann, erst in seinen späteren Lebensjahren gewannen seine weichen, mit den wulstigen Lippen und dem fliehenden Kinn irgendwie auch karikaturhaften Züge einen Anflug reifer Männlichkeit.

[…] dieser blasse Bursche […]

[…] dieser scheue, zur Hingabe bereite, feminin wirkende junge Mann mit dem ungesunden Teint und den suggestiven Augen […]

Zwar habe er ‚seelenvolle Augen’, aber einen dünnen Hals, schmale Schultern und keinen Hinterkopf (zitiert aus Lou Andreas-Salomés Tagebuch)

Rilke mag von unscheinbarem Äusseren gewesen sein und auch kein Adonis, allerdings entbehrt das Buch jeglicher Notwendigkeit, dies so herauszustreichen.

Das Buch verschafft in der Tat einen Überblick über die wichtigen Frauen in Rilkes Leben (es ist nicht vollständig, aber das ist wohl ein Anspruch, der nicht erfüllt werden wollte). Eine wichtige Quelle für dieses Werk waren die vielen Briefe, die Rilke geschrieben hat und die ein gutes Zeugnis abgeben. Das hebt diese Biografien von vielen der grossen Rilke-Biografien ab, die noch vor Erscheinen der zweibändigen, sorgfältig kommentierten Edition seiner Briefwechsel erschienen sind. Schwilke verweist auch immer wieder auf das Werk des Dichters, stellt Bezüge zwischen seinen Frauengeschichten und diesem her, bleibt dabei aber eher blutleer und vor allem immer lieblos. Insgesamt wirkt alles wie zusammengesucht, in eine Reihe gepackt und hingeschrieben. Der Geist des Werkes und des Dichters springt mich aus diesem Buch nicht an.

Fazit:
Solide Biografie mit dem Fokus auf Rilkes Beziehung zu Frauen. Fundiert recherchiert, zeugt von Sachkenntnis des Autors, wirkt aber trotz einiger interessanter Aspekte etwas uninspiriert und lieblos.

Zum Autor
Heimo Schwilk
Heimo Schwilk, geboren 1952 in Stuttgart, Dr. phil., ist Autor zahlreicher Bücher über Politik und Literatur. Seine großen Biografien über Ernst Jünger und Hermann Hesse wurden im In- und Ausland hoch gelobt. Er war lange Jahre Leitender Redakteur der Welt am Sonntag und lebt in Berlin. 1991 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis für herausragenden Journalismus ausgezeichnet.

Angaben zum Buch:
Schwilkrilke_und_die_frauenGebundene Ausgabe: 336 Seiten
Verlag: Piper Verlag (9. März 2015)
ISBN-Nr.: 978-3492056373
Preis: EUR 22.99 / CHF 31.90

Zu kaufen in Ihrer Buchhandlung vor Ort oder online u.a. bei AMAZON.DE und BOOKS.CH

Im Kreis

Der Panther

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris

Das Leben zieht an einem vorbei, man sieht die alltäglichen Kleinigkeiten des Seins, wird müde dabei. Man folgt den ausgetretenen Pfaden, täglich, wöchentlich, monatlich, jährlich gleich. Ab und an durchbrochen durch herausragende Momente trauriger oder schöner Natur. Immer wieder zurückkehrend in denselben Trott. Hat der Trott die Sicherheit der Kontinuität, so hat er auch den zerstörenden Charakter für das Leben, das Lebendige in einem.

Man gibt nicht auf, spürt in sich den Willen, weiter zu gehen. Will den Tag, die Woche, die Monate und Jahre bezwingen, tief drin wissend, dass noch mehr da ist, es noch mehr gibt – geben könnte auch für einen selber. Ab und an, da sieht man es, spürt es förmlich. Sieht all die Möglichkeiten, die es zu ergreifen gäbe, wären nur die Arme lang genug. Und ab und an stellt man sich vor, sie wären es, spürt sie wachsen gar. Und merkt dann, dass es doch nicht so einfach ist, Arme selten wachsen und wenn, Ziele sich ändern oder gar verschwinden. Und so geht der Trott von Neuem los. Und man geht weiter in den ausgetretenen Pfaden, ab und an dankbar, sie zu haben, dann wieder müde von dem stetigen Gehen.