Werde, wer du bist
Doktor Breuer,
ich muss Sie in einer dringlichen Angelegenheit sprechen. Die Zukunft der deutschen Philosophie steht auf dem Spiele. Ich erwarte Sie morgen früh um neun im Café Sorrento.
Lou Salomé
Diese drängende Nachricht erreicht Josef Breuer in seinen Ferien. War er extra mit seiner Frau nach Venedig gereist, um alle dringlichen Angelegenheiten hinter sich zu lassen, empfindet er das Schreiben von Lou Salomé, die er noch dazu nicht kennt, als besonders störend. Trotzdem lässt er sich auf das Treffen ein und ist mehr als angenehm überrascht und angetan von dieser sehr verführerischen, selbstbewussten, gradlinigen Frau. Nur eines geistert durch seinen Kopf:
Während er in Gesellschaft Lou Salomés gemächlich frühstückte, wurde er der Ironie der Situation inne. War es nicht seltsam, wie er, der nach Venedig geflohen war, um das Unheil wiedergutzumachen, welches eine schöne Frau angerichtet hatte, hier nun im Tête-à-tête mit einer noch reizvolleren Frau zusammensass?
Lou Salomés Anliegen betrifft nicht sie selber, sondern Friedrich Nietzsche, der an einer grossen Verzweiflung leidet und um den sie sich sorgt. Josef Breuer soll sich diesem annehmen, darf dem Patienten aber nicht verraten, wer seine Auftraggeberin ist.
Nietzsche kommt eher widerwillig nach Wien, im Glauben, das Klima hier schade seiner Gesundheit. Stattdessen beginnt ein Heilungsprozess – nicht nur für Nietzsche, auch für Breuer. Beide erkennen den Mangel in ihrem Leben: Das Vertrauen in ihre Natur und ihre Lebensumstände. Während Breuer gewahr wird, dass genau das beschauliche Familienleben, das er führt, ihm entspricht, er also nichts bereuen muss, sieht Nietzsche, dass sein Naturell das eines Rastlosen ist, der erforschen will.
Und der Mensch Nietzsche? ‚Verkehren wir nach wie vor ausschliesslich als gemeinsam Forschende miteinander?’ fragte sich Breuer. ‚Immerhin kennt er mich besser – oder weiss zum mindesten mehr von mir – als jeder andere. Bin ich ihm zugetan? Ist er mir zugetan? Sind wir Freunde?’
Und Nietzsche weinte handelt vom Leben und von der Selbsterkenntnis. Es geht darum, wie einer wird, was einer ist und darum, wie Psychotherapie damit umgeht. Yalom lässt Psychiatrie und Philosophie aufeinandertreffen und das Leben diskutieren. Breuer ist beauftragt, Nietzsche zu helfen und lernt dabei viel über sich selber kennen. Neben Nietzsche und Breuer treten noch weitere Namen wie Bertha Pappenheim, Lou Salomé, Paul Ree und Sigmund Freud auf, reden über ihre Gedanken, über ihre Sicht des Lebens und der Welt, über die Liebe, Sexualität, Narzissmus – und vieles mehr.
Zwar haben sich Breuer und Nietzsche nie persönlich getroffen, allerdings ist es durchaus realistisch, dass ihre Gespräche genauso ausgesehen hätten, wie Yalom diese beschreibt. Der Roman zeugt von grosser Belesenheit, akribischer Recherche und umfassendem Verständnis der jeweiligen Theorien, die er in einer klaren und doch der Zeit, in der der Roman spielt, angepassten Sprache und in eine fiktive Geschichte verpackt seinen Lesern präsentiert. Trotz der grossen thematischen Tiefe und der vielen Theorien und Hintergründe bleibt das Buch lesbar, wirkt nicht überladen oder theoretisch trocken.
Fazit:
Philosophie und Psychiatrie, historische Charaktere und die Stimmung Wiens Anfangs des 19. Jahrhunderts – dieser Roman vereint alles und er tut dies auf eine lesbare und literarisch grossartige Weise. Sehr empfehlenswert.
Zum Autor
Irvin D. Yalom
Irvin D. Yalom wurde am 13. Juni 1931 als Sohn jüdisch-russischer Einwanderer in Washington, D. C., geboren. Während die Eltern mit dem Lebensmittelladen und dem ökonomischen Überleben beschäftigt waren, zog sich der Sohn von der verarmten und gewalttätigen Nachbarschaft in die Welt der Bücher zurück. Die Liebe für Geschichten und deren biographische Bedeutung beeinflusste seine Studienwahl: Medizin mit der Fachrichtung Psychiatrie. Sein erstes Fachbuch, „Theorie und Praxis der Gruppentherapie“, enthielt zahlreiche biographische Fallvignetten, die den Band mit 700.000 Exemplaren zu einem Verkaufsschlager weit über Expertenkreise hinaus werden ließen. Yalom hat vier erwachsene Kinder und zahlreiche Enkel.
Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 448 Seiten
Verlag: btb Verlag (4. Februar 2008)
Übersetzung: Uda Strätling
ISBN-Nr.: 978-3442737284
Preis: EUR 9.99 / CHF 14.90
Zu kaufen in Ihrer Buchhandlung vor Ort oder online u.a. bei AMAZON.DE und BOOKS.CH
Durch den Stil des Covers wird eine Vertrautheit hergestellt, die nicht auf Anhieb eine Erinnerung wach ruft, denn es könnte sich um ein Bild von Gutav Klimt handeln, der uns irgendwo schon einmal begegnet ist. Damit ist die Psychologie des Buches eröffnet, bevor die erste Zeile gelesen wurde. Gerne hätte ich gewußt, ob zwischen Psychologie und Philosophie eine Art Wettsreit geführt wird, denn diese beiden Geisteswissenschaften unterscheiden sich in dem Punkt, dass der Philosoph lediglich über den menschlichen Geist nachdenkt, der Psychologe aber glaubt, den Geist mit erlernten Praktiken heilen oder begradigen zu können, also eine Art gewollte Manipulation durchführt. Es ist sicher spannend einmal in das Buch hineinzulesen.
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Das Klingt sehr spannend! Vielleicht lese ich es.
Zu dem Film „Anleitung zum Glücklichsein“ über Yalom muß ich sagen, daß er mich einigermaßen ratlos zurücklies. Was Yalom in dem Film sagte, waren allgemeine Dinge und schon garnicht hatte er ein Rezept. Seine Ehe klappte, sein Schreiben jeden Tag tat ihm gut, aber seine Kinder übten sich in Scheidungen, so schien es.
Ein ruhiger und zufriedener Mensch offenbar.
Zu Arnos Anmerkung über die Rivalität zwischen Psychologie und Philosophie möchte ich anmerken, daß es natürlich Philosophen gibt, die sich als Therapeuten betätigen: Etwa Wilhelm Schmid.
Es ist ja auch sehr die Frage, was hilft! Um 1750 begann nach allgemeiner Auffassung die Neuzeit der Therapie und was diese auszeichnete, das merkte man wohl erst im Nachhinein, war die jetzt besondere Beziehung des Therapeuten zum kranken Menschen. Diese Art von Involviertsein wohl war es, die half. Und so denke ich, daß ein Philosoph durchaus in vielen (aber nicht allen) Fällen hilfreich in der Behandlung von Menschen sein kann.
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Ich habe den Film auch gesehen und hatte nachher auch mehr Fragen als Antworten. Die grösste war: „Und nun? Was mache ich damit?“ Ich fand gewisse Sätze gut und inspirierend, vor allem die von ihr. Auch ihre Art zu lächeln hatte sowas Zufriedenes, etwas wunderbar Tiefes. Die schonungslose Offenheit und auch Einsicht, vielleicht für die Kinder zu sehr aufeinander fixiert gewesen zu sein, fand ich interessant, aber vermutlich ist das auch ein Rezept, wie Ehen eben überhaupt halten können. Der Partner muss die erste Priorität sein – und das müssen beide auch aushalten können. Und nur schon aus dieser Theorie kommen wieder so viele Fragen, dass der Film quasi ein Fass aufmachte, eines ohne Boden.
Zu Philosophie und Psychologie kann ich nur sagen, dass diese vor noch nicht so vielen Jahren gar nie getrennt waren, die Trennung der Disziplinen kam schrittweise. Ich sehe die Philosophie noch immer als Mutter aller Disziplinen, nicht umsonst hat es in jeder Fachrichtung immer einen Anteil Philosophie (zumindest Ethik). In der heutigen Zeit schiebt man das Fach gerne in die theoretische und nutzlose Ecke, während man bei anderen die angewandten Wissenschaften sieht. Da es aber durchaus angewandte Philosophie gibt, diese sich mit normativen Fragen des Lebens befasst, kann Philosophie durchaus für die Praxis helfen. Zudem: Was hilft eine Erkundung der eigenen Psyche, wenn man diese abkapselt von grösseren Fragen, denen sie immer ausgeliefert ist? Insofern sollte hier wie überall das Miteinander, die Interdisziplinarität wieder viel mehr in den Vordergrund rücken, nicht das Gegeneinander der Disziplinen.
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Ihr seid beide Philosophen, im positiven Sinne. Bereits die alten Griechen haben sich mit dem Zustand der Depression auseinandergesetzt und versucht zumindest eine Zustandbeschreibung zu formulieren. Letztendlich läuft es darauf hinaus, dass jeder Erkranke individuell zu behandeln ist. Auch deswegen gibt es so viele Zustandbeschreibungen, die von Psychologen miteinander kombinieren werden, bis sie der tatsächlichen Störung nahe gekommen sind.
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es gibt einen schönen Film zum Buch. soviel ich weiß, sieht yalom v.a. den existentialismus als bereicherung für die psychologie, wenn es um fragen nach dem sinn des lebens geht, die, wenn unbeantwortet, viele probleme bereiten können. es sind nicht nur beziehungskisten, die die leute in die psychotherapie treiben. diesen ansatz finde ich an yalom faszinierend. aber auch, dass er sich gedanken um die professionelle distanz zwischen therapeut und patient macht, diese hinterfragt.
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Ja , hatte ich schon vor.Es kommt auf den Büchertisch bzw. an den See. lg Sophie
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Viel Spaß beim Lesen!
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