Im Rahmen meiner Reihe Herausforderungen des Lebens hat sich Albert bereit erklärt, mir ein paar Fragen zu beantworten. Ich freue mich sehr über dieses wunderbare Porträt.
Albert, ich danke dir für deine Bereitschaft, einen Einblick in dein Leben zu gewähren. Stell dich kurz vor: Wer bist du, wie würdest du dich und dein Leben beschreiben?
Ich heisse Albert, bin 21 Jahre alt, habe seit drei Jahren eine Freundin und leide seit sieben Jahren an Epilepsie. Wobei das Wort ,leiden‘ nicht auf mich zutrifft, denn es ist mir möglich, mein Leben so zu leben, wie ich es möchte. Ich hatte bisher ein sehr vielseitiges und selbstbestimmtes Leben und beginne gerade eine Ausbildung zum Dipl. Krankenpfleger.
Du hast Epilepsie. Kannst du mir kurz verständlich erklären, was ich mir unter Epilepsie vorstellen kann?
Epilepsie äussert sich bei jedem Menschen sehr unterschiedlich. Ich selbst hatte immer regelmässig, sprich mehrmals im Monat, leichte (selten auch stärkere) Krampfanfälle. Ab und zu passierte es auch, dass ich einen ganzen Tag in regelmässigen, manchmal auch relativ kurzen Abständen, Anfälle hatte.
Wie sieht ein Anfall aus? Das kann ein kurzes Augenzucken sein oder auch ein Krampfen des ganzen Körpers, verbunden mit Bewusstlosigkeit und anschliessender Verwirrung.
Wann erhieltst du die Diagnose Epilepsie? Gibt es eine Vorgeschichte?
Die Diagnose erhielt ich 2007. Nachdem mein Vater mich zweimal krampfend im Bett aufgefunden hatte, waren wir bei einer Neurologin, die schnell auf Epilepsie schloss.
Wie waren die ersten Tage nach dieser Diagnose? Was ging dir durch den Kopf?
Die Antwort ist vielleicht unspektakulär. Mir ging nicht viel durch den Kopf, ich hatte gelernt, immer optimistisch zu sein. Und aus dem „mir wird nie etwas passieren“ wurde ein „ok, mir wird trotzdem nichts passieren“. Man könnte meinen, ich hätte es wohl einfach verdrängt, aber dieses Gefühl habe ich nicht. Die Krankheit war ab diesem Zeitpunkt selbstverständlicher Bestandteil meines Lebens, und selbstverständlich war es auch, dass ich ihretwegen nichts an meinem Leben ändern würde.
Wie ging deine Familie mit der Diagnose und mit dir um?
Im ersten Moment war es für meine Familie sicher nicht einfach, aber sie stärkten mir wie gewohnt den Rücken. Obwohl ich schon das Gefühl hatte, dass es sie mehr beschäftigte, als sie es mir gegenüber zeigten.
Später war die übermässige Fürsorge meiner Familie und meiner Freunde oft ein Thema. Auch wenn es verständlich ist und ich eigentlich nur dankbar dafür sein kann.
Am Anfang ging es darum, dass ich am besten nicht ausgehen sollte, nicht trinken sollte, nicht rauchen sollte und am besten auch keinen Sport machen sollte.
Das sind Beispiele, ich trinke weder übermässig, noch treibe ich übermässig Sport.
Hat sich in deinem Leben etwas verändert seit der Diagnose?
Es hat sich nicht wirklich etwas verändert.
Heute haben alle in meinem Umfeld akzeptiert, dass ich mich nie aus Angst einsperren werde und vertrauen darauf, dass ich selbst am besten weiss, was gut für mich ist.
Trotzdem gibt es Situationen, in denen plötzlich jemand hektisch an der Badezimmertür klopft und fragt, ob es mir gut geht, nur weil er ein Geräusch gehört hat.
Einmal stand meine Freundin mit meiner ganzen Familie vor meiner Wohnung und läutete mich aus dem Schlaf. Alle waren total besorgt und ausser sich, dabei hatte ich bloss verschlafen und der Handy-Akku war leer.
Aber wie gesagt, eigentlich bin ich dankbar für ihre Fürsorge.
Kennt dein ganzes Umfeld deine Krankheit? Wie offen gehst du damit um? Wie gingen deine damaligen Freunde damit um? Und heute? Hat die Epilepsie einen Einfluss auf Freundschaften?
Ich persönlich gehe sehr offen damit um und lasse mich von meiner Krankheit auch nicht unterkriegen. Auch Menschen, die ich neu kennenlerne, erzähle ich oft recht bald davon. Dies passiert meistens schnell, wenn Themen wie z.B. der Führerschein angesprochen werden.
Ich glaube, weil ich immer selbst sehr offen und nicht ängstlich damit umgegangen bin, war war es auch für meine Freunde kein grosses Drama. Auch heute ist dies nicht anders. Meine engsten Freunde kennen mich ziemlich gut und wissen, was zu tun ist, falls es zu einem Anfall kommen sollte. Nur bei meiner Ex-Freundin hatte ich das Gefühl, dass sie nicht 100% damit klar kam. Aber zusammenfassend möchte ich sagen, dass ich nicht glaube, dass Epilepsie Einfluss auf meine Freundschaften hat.
Gibt es im Alltag Dinge, wo du Hilfe brauchst? Wenn ja, welche? Würdest du dir grundsätzlich mehr Hilfe oder sonst Unterstützung wünschen?
Nein, ich bin grundsätzlich nicht eingeschränkt. Wichtig ist nur, dass ich genug schlafe und nicht allzu viel Stress habe. Was die Unterstützung betrifft, bin ich definitiv zufrieden, denn meine Familie und meine Freundin sind absolut immer für mich da.
Gibt es Tage, an denen dir alles zu viel wird, du haderst mit deinem Schicksal, die Frage nach dem Warum vielleicht hochkommt?
Ich denke, diese Tage kennt jeder, da geht es nicht um krank oder gesund. Wichtig ist, dass die guten Tage überwiegen, und das ist bei mir definitiv der Fall.
Wenn du nicht krank geworden wärst, denkst du, du wärst am selben Punkt im Leben heute oder hättest du Dinge anders gemacht?
Ich hätte einen Führerschein, würde Motorrad fahren, hätte ein paar Stunden weniger im Bett verbracht. Aber sonst wäre nichts anders gekommen und ich bin stolz auf das Leben, das ich bisher geführt habe.
Gibt es etwas, das du als positiv erachtest an deiner Krankheit? War sie „für etwas gut“?
Als Entschuldigung, wenn ich nicht in die Schule wollte.
Ich habe gelernt, die Gesundheit und das Leben zu schätzen, und sie hat mich darin bestärkt, im Augenblick zu leben.
Was wünscht du dir von den Menschen da draussen? Von den einzelnen, von der Gesellschaft?
Es gibt viele, denen es mit der Epilepsie und anderen Krankheiten wesentlich schlechter geht als mir. Ich wünsche mir, dass sie von der Gesellschaft gestützt werden.
Es gibt schon einige Projekte, um kranke und behinderte Menschen in die Arbeitswelt zu integrieren oder mit ihnen den Sport zu machen, von dem sie träumen. Bitte mehr davon!
Ist man heute wirklich so aufgeklärt oder findest du, dass Krankheiten (und auch Behinderungen) noch immer Tabu sind, Menschen, die betroffen sind, ausgegrenzt sind?
Die Aufklärung ist schon ganz gut, es geht aber noch mehr. Schliesslich ist es verständlich, dass jemand, der zum ersten Mal mit so etwas konfrontiert ist, nicht weiss, was zu tun ist und sich deswegen vielleicht lieber fernhält von Menschen, die „anders“ sind. Gilt übrigens auch für den Umgang mit Ausländern und anderweitig benachteiligten Menschen.
Gibt es etwas, das du einem ebenfalls Betroffenen sagen möchtest?
Ich würde ihm/ihr sagen, dass man immer optimistisch bleiben sollte, denn die innere Einstellung ist ein sehr wichtiger Teil des Lebens.
Es gibt Epilepsie-Foren im Internet, in denen man verurteilt wird, wenn man normal lebt, denn wie kann man nur daran denken, irgendetwas zu tun, das vielleicht ein Risiko birgt. Diese Einstellung ist für mich unvorstellbar! Jeder sollte sich selbst am besten kennen und das geht nur, wenn man sich nicht in einen gepolsterten Raum sperrt, sondern rausgeht und vorsichtig immer wieder seine Grenzen testet. Dann weiss man zu jeder Zeit, was für einen gut ist und was nicht.
Habe ich noch etwas vergessen? Gibt es noch etwas, das dir auf der Seele brennt?
Die Krankheit ist ein Teil von mir. Natürlich, ich würde lügen, würde ich sagen, ich wäre nicht lieber gesund. Doch ich würde es vermissen, so zu sein, denn das bin eben ich. Ich – mit allem, was dazu gehört. Ich bin jetzt erwachsen und aufgeklärt.
Als gesundes Kind dachte ich, mir geht es gut, weil ich gesund bin, heute denke ich, mir geht es gut, weil ich lebe.
Albert, ich möchte mich ganz herzlich für diese ausführlichen Antworten bedanken, die einen wunderbaren Einblick in deinen Alltag und deine Einstellung gewähren. Ich hoffe und wünsche mir, dass dieses Interview vielen Menschen Mut macht.
Ich bin erst mal sprachlos und ergriffen über die Offenheit des Befragten zu solch sensiblen Thema; bin echt erstaunt darüber – insbesondere, was seinen Lebensmut angeht.
Da werde ich mit meiner Gesundheit – meine schlimmste und eigentlich einzige ernste Krankheit war eine Blinddarm-OP – still und vor allem dankbar, dass das so ist. Kein Handicap, keine Schmerzen, noch nicht mal ab und an Kopfschmerzen trüben mein Leben. Da macht das Lesen solch Artikels demütig und dankbar.
Dank aber auch an dich, Sandra. Du hast so einfühlsam und klug gefragt, dass Albert mit Offenheit und Ehrlichkeit antwortete – einfach so antworten musste.
Ich freue mich schon auf die folgenden Beiträge.
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Danke Hubert. Ich bin sehr dankbar für dieses Interview, für die Offenherzigkeit, Sensibilität und Weisheit von Albert, mit der er die Fragen beantwortet hat. Ja, seine Sicht der Dinge, sein Umgang mit allem macht nachdenklich. Wie oft klagt man über Nichtigkeiten, übersieht das Gute, das Schöne. Meist ist dieses viel grösser als jedes Übel, das wir beklagen. Er hat schon recht: Die eigene Einstellung macht es aus.
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Vielleicht mobilisiert eine Behinderung im günstigen Fall Kräfte, die in der Bewältigung und Gestaltung des Alltags sehr nützlich sind. Man sorgt besser für sich. Für den nichtbehinderten Menschen hiesse das, etwas in sich zu mobilisieren, das dem gleichkommen kann. Es braucht diese Schubkraft wohl, um dem Alltag mehr Gutes abzugewinnen und ihn auch rundrum aktiv zu gestalten.
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Sind es nicht meist die schwierigen Zeiten, die uns Dinge lehren?
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Ich fürchte, genauso ist es! Das ist wohl – wenn es einen gibt – der Sinn des Leidens. Würde es uns immer gut gehen, wir wären fröhliche Neandertaler. Was Gesundheit ist oder sein könnte, lernen wir nur in der (Auseinandersetzung mit der) Krankheit. Was Beziehung sein könnte, lernen wir am besten in Zeiten, in denen es keine gibt. Und wer sich dafür interessiert, wie unser Gehirn funktioniert, vergisst am besten unsere wackeren modernen Gehirnforscher und lese bei Oliver Sacks die Extremfälle von „gestörten“ Gehirnen, da lernt man wesentlich mehr über Hirnfunktionen. Gesunde Gehirne erzählen uns ja nicht, wie sie funktionieren.
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Aber schwierige Zeiten mobilisieren (danach) nur für kurze Zeit! Man braucht etwas für den Alltag!
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Ab und an wächst in schwierigen Zeiten ein Bewusstsein, das im Alltag Wurzeln schlägt. Zuerst klein, dann tiefer… Wenn man dabei bleibt und achtsam?
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Ein sehr schönes Interview
Finde es sehr schön, dass Albert so viel aus seiner Epilepsie gewonnen hat. Ein wunderbares Beispiel dafür, wie wichtig es ist, sich selbst anzunehmen, wie man selbst mit einer Sache umgeht. Denn oft entstehen Probleme und Leiden, wenn man sie als solche bezeichnet und stark werden lässt. Die innere Einstellung und Offenheit von Albert zeigt, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was man alles tun kann oder hat als viel mehr darauf, zufrieden und dankbar zu sein, wer man ist. Jeder hätte wohl gern etwas, das er nicht besitzt, jeder wünschte womöglich jemand anderer zu sein, das aber macht einen unglücklich, egal ob man in den Augen anderer gesund oder glücklich ist, denn es kommt darauf an, wie man sich selbst fühlt und sieht.
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