Mein Leben – meine Wahl

*Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.» Epiktet

«Was macht das mit dir?» Es gibt kaum einen Satz, der mich immer, wenn ich ihn höre, dermassen nervt. Er impliziert, dass ich das arme kleine Opfer meines Lebens bin und dieses Leben kommt und etwas mit mir macht. Ich muss es still erdulden, habe keine Wahl. Nein! Es ist mein Leben, ich habe eine Wahl.

«Von allem, was existiert, hat Gott einen Teil in unsere Verfügungsgewalt gegeben, den anderen Teil nicht. In unserer Macht steht das Schönste und Wichtigste: der Gebrauch unserer Eindrücke und Vorstellungen.»

Das Leben mag sein, wie es will, ich habe nicht alles in meiner Hand. Leider. Zum Glück vielleicht auch, denn die Konsequenzen, wenn jeder alles in der Hand hätte, wären irgendwie gruselig. Was ich in der Hand habe, ist, was ich daraus mache. Nicht das Leben macht etwas mit mir, ich mache etwas mit meinem Leben. Der erste Schritt dabei ist, dass ich das, was im Leben passiert, interpretiere und bewerte. Aus dieser Interpretation und Bewertung speisen sich dann meine Gefühle, meine Haltung. Finde ich es gut, sehe ich mich als glücklichen Menschen, finde ich es schlecht, als Pechvogel. Aus dieser Einordnung leitet sich meine Stimmung ab. Ist sie gut, empfinde ich die Welt als hell, andernfalls versinke ich in der gefühlten Düsterheit der Welt.

«Nicht wie die Dinge wirklich sind, sondern wie sie in unserer Einstellung und Vorstellung sind, macht uns zufrieden oder unzufrieden.»

So gedacht kann das Leben also nichts mit mir machen. Ich habe die Wahl. Das wird nicht dazu führen, dass es plötzlich nur noch bunte Konfetti vom Himmel regnet und alles ein riesiges Fest wird, aber nur schon das Gefühl, nicht der Spielball sondern der Steuermann meines Lebens zu sein, hilft, mich doch besser zu fühlen. Und wer weiss, vielleicht hat Rilke ja recht, wenn er sagt:

«Du musst das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest.»

Habt einen schönen Tag!

Vom Suchen und Denken – Iris Murdochs Suche nach dem Guten

Iris Murdoch: Die Souveränität des Guten

Inhalt

«Was macht einen guten Menschen aus? Wie können wir uns moralische verbessern? Können wir uns moralisch verbessern? Das sind Fragen, die Philosoph:innen versuchen sollten, zu beantworten.»

Iris Murdoch geht der Frage nach, was das Gute wirklich ist. Sie beruft sich auf Kant, Platon, Kierkegaard, setzt sich von den Existenzialisten ab, indem sie deren Ansatz als zu wenig weit reichend darlegt. Das Gute ist in sich nicht fassbar, doch liegt es allem sonst zugrunde, ist es das, wonach alles strebt, allen voran die Liebe. Das Buch lässt einen roten Faden vermissen, es hat keine abschließende Antwort, es ist ein Suchen und sich Annähern, dessen letzter Schritt offenbleiben muss.

Gedanken zum Buch

«Das Gute ist ein leerer Raum, in den menschliche Entscheidungen einziehen können.» Iris Murdoch

Das Gute ist kein Wert an sich, es muss erst verwirklicht werden durch das, was man tut. Indem man sich auf eine Weise verhält, die frei von (negativen) Absichten ist, wenn wir mit einem Blick auf die Welt schauen, der von Liebe durchdrungen ist, kommen wir dem Guten auf die Spur.

«Nach dem Guten zu fragen, ist nicht das Gleiche, wie danach zu fragen, was Wahrheit oder was Mut ist, da die Idee des Guten in eine Erklärung der Letzteren einfliessen muss.»

Das Gute lässt sich nicht fassen, nicht definieren, es ist das, was allem zugrunde liegt, sofern dieses nach dem Guten, was immer auch das Schöne und Richtige ist, weil es von Liebe durchdrungen ist, strebt.

«Der gute Mensch ist demütig.» Iris Murdoch

Nach Iris Murdoch ist der Mensch von Natur selbstsüchtig, indem er immer sich im Blick hat und alles, was er sieht, durch dieses Ich passiert. Nun ist der Blick dieses Ichs nie ungetrübt, er kommt aus einem Geist, der ständig in Bewegung ist, oft mit Sorgen beschäftigt, die sich wie ein Schleier über die Welt legen.

Hier setzt nach Iris Murdoch die Demut an, indem sie den Menschen erkennen lässt, dass das eigene Selbst nichtig ist, so dass er die Dinge sehen kann, wie sie sind – und nicht, wie Anais Nin es ausdrückte, so wie er ist. Er liest keinen Zweck oder Sinn in die Welt hinein, sondern sieht sie als Wert an sich. Als solcher Mensch ist es ihm möglich, ein guter zu werden.

«Als moralische Akteure müssen wir versuchen, gerecht zu sehen, Vorurteile anzulegen, Versuchungen aus dem Weg zu gehen, Einbildungen zu kontrollieren und zu zügeln, unsere Gedankengänge zu lenken… Güte und Schönheit sollten einander nicht gegenübergestellt werden, sondern gehören weitgehend zur selben Struktur.»

Fazit
Ein Buch, das sich mit eigenständigen Gedanken auf die Suche nach dem Guten macht, das den Leser mitnimmt auf diese Suche und ihn zum Mitdenken anregt.

Gedankensplitter: Eigene blinde Flecke

«Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.» Roger Willemsen

Immer wieder lese oder höre ich von diesem «Gender-Seich». Kürzlich wurde ich gefragt, was ich denn davon halte, von diesem «Gender-Seich», die Hoffnung, dass ich mit ihm einen Empörungschor bilden würde, stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Auch Argumente wie:

«Wir haben wahrlich genügend Krisen, wir sollten uns nicht mit solchen Gender-Idiotien rumschlagen müssen.»

Oder:

«Langsam machen mich diese woken Identitätspolitischen und Gender-Propagierer richtig aggressiv.»

Und ja, aggressiv ist das Klima der Diskussionen. Es geht schon lange nicht mehr um die Sache, wie mir scheint, es geht darum, recht zu haben, weil man die Wahrheit kennt, weil man weiss, wie es richtig läuft, und vor allem bei den Gegnern: Weil man es schon immer so gemacht hat und es doch klar ist, dass dies gut war.

Und es wird argumentiert, dass wenn man N* sage, meine man es niedlich, wenn man die männliche Form verwende, seien natürlich alle mitgemeint, nur ein Idiot kenne das generische Maskulinum nicht[1], wenn man finde, Kopftuch-Frauen gehören nicht in unser Land, verteidig man nur die häuslichen Sitten und Gebräuche.

Die Argumentation, man brauche all diese Diskussionen nicht, sondern sie lenken nur von den wirklichen Problemen wie dem des Klimas ab, ist, wie ich denke, eine typische Vermeidungsargumentation aus einer Position, die es sich leisten kann.

Wir haben viele Probleme aktuell und ich denke, wir können sie nur gemeinsam angehen, da sie sich gegenseitig befruchten und wiederum so wirken. Diskriminierungen auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedenen Gründen sind sicher nicht einfach Kleinigkeiten, wenn man zur Gruppe der Unterdrückten gehört. Die Diskussion über das Gendern könnte man sich sparen, wenn nicht so viele teilweise aggressiv dagegen kämpfen würden (dann wäre auch eine gemässigtere Form als diese teilweise wirklich schwierigen Auswüchse) möglich. Wir könnten uns ebenso Diskussionen über Antisemitismus, Rassismus, Klassismus, soziale Ungerechtigkeiten auf lokaler und globaler Ebene sparen – wenn wir endlich hinsehen würden und gemeinsam für eine Welt kämpfen, die eine gemeinsame wird.

Aber: Wir sind nicht da. Menschen werden unterdrückt, Frauen sind in vielen Bereichen in einer benachteiligten Position und sind zu wenig gehört und gesehen. Migrant*Innen, Schwarze, Juden, Transsexuelle und viele nicht der weissen, westlichen Norm entsprechende Menschen werden diskriminiert und ausgeschlossen. Und solange das so ist, müssen wir darüber reden und dafür kämpfen, dass es ändern. Weil wir es ihnen und uns wert sind, weil es in der Verantwortung derer liegt, die es können, weil sie all die Privilegien haben, die anderen verschlossen sind.


[1] Das erinnert mich an die Frau Ende des 19. Jahrhunderts, welche vor Gericht ging, weil sie nicht zum Studium zugelassen wurde. Ihre Klage, die sich auf das Recht jedes Menschen auf Bildungszugang berief, wurde abgewiesen mit der Begründung, es sei klar, dass damit nur Männer gemeint seien. So viel zum generischen Maskulinum.

Lesemonat August

Der Monat glich eher einem April als einem August. Nach einer unsäglichen Hitze in strahlendem Sonnenschein, tobten bald schon Unwetter und das Grau in Grau der verregneten Umwelt verschleierte den Blick aus dem Fenster. Immerhin war es das passende Wetter, mich in die Bücher zu versenken, so dass ich teilweise wenig davon mitkriegte. Der Monat war – im Gegensatz zu den meisten anderen – thematisch konzentriert, die gelesenen Bücher behandelten Themen der Politik und der Gesellschaft, sie handelten von Herkunft und deren prägendem Charakter für den Menschen und die Gesellschaft, von Macht und Herrschaft und damit einhergehender Diskriminierung derer, welche nicht den Normen des dominanten Herrschaftsmehrs entsprechen.

Das erste Buch war ein Abgesang an die romantische Liebe, im zweiten sollten wütend Wände eingerissen werden. Danach ging es sachlicher zu und her, Mittel und Wege gegen Klassismus wurden aufgezeigt, die Fremde und ihre Grenzen wurden beleuchtet, das Gefühl der Entfremdung in der Gesellschaft erforscht. Ich befasste mich mit dem Liberalismus, um dann wieder zum Klassismus zurückzukehren. Ich beschäftigte mich mit Bildung und Ungerechtigkeit und der Frage, was das Gute ist. Und dann….

Dann kam das Highlight wohl nicht nur des Augusts, sondern einer langen Lesegeschichte – und es wird nachhallen: Didier Eribons «Rückkehr nach Reims» und dessen Fortsetzung «Gesellschaft als Urteil». Selten, dass mich ein Buch so gepackt hat. Selten, dass ich aus einem Buch so viel mitgenommen, so viel für mich erkannt habe. Selten, dass mich ein Buch so begeistert hat und ich daraus so viel Inspiration für eigene Projekte gewann.

Was waren eure Highlights im August?

Die ganze Liste:

Andrea Newerla: Das Ende des Romantikdiktats. Warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken solltenUnsere Liebesbeziehungen sind nicht Privatsache, sondern soziale Konstrukte, die wir verinnerlicht haben. Die Herausstellung der romantischen Liebesbeziehung ist eine neue, konventionelle Errungenschaft und sie unterliegt patriarchalischen und gesellschaftsrelevanten Normen. Dieses Bewusstsein sollte dazu führen, unsere Beziehungen neu zu denken, Freundschaft einen anderen Stellenwert einzuräumen, Sexualität aus der romantischen Beziehung zu nehmen und Intimität vielfältiger lebbar zu machen, um zu neuen Formen des Miteinanders zu kommen, die Individualität, Autonomie und Gemeinsamkeit besser vereinbaren lassen. Viele Wiederholungen, viele Gemeinplätze und Altbekanntes, wobei ein Aufruf zur Anerkennung vielfältiger Lebensformen und -gestaltungen durchaus wichtig ist. 3
Pia Klemp: Wutschrift. Wände einreissen, anstatt sie hochzugehenEin wichtiges, ein dringendes Thema (soziale, strukturelle und systematische politische Entscheidungen, die Flucht und Migration zu einem menschenunwürdigen und oft tödlichen Unterfangen machen), doch ich musste das Buch abbrechen. Die Sprache ist dermassen mündlich, fast vulgär, dass ich das so nicht lesen möchte. Es ist vielleicht des wirklich brennenden Themas wegen in Wut und Rage geschrieben, was zum Titel passen würde, doch hier verleidet mir die Form den Inhalt und wende mich lieber anderen Büchern zu dem Thema zu. 
Francis Seek, Brigitte Theißl: Solidarisch gegen Klassismus. organisieren, intervenieren, umverteilenKlassismus ist überall, und doch kaum ein Thema. Klassismus grenzt Menschen aus, führt in die Isolation, macht krank. Klassismus muss diskutiert werden, muss sichtbar werden, muss als Problem mit all seinen vielen Ausprägungen bewusst werden. Und wir brauchen Lösungen. 26 Texte, teils sachlich, teils Interviews, teils persönlich aus der Betroffenheit heraus zeigen die verschiedenen Aspekte von Klassismus. Das Ziel ist, das Problem sichtbar zu machen, Projekte vorzustellen, die Lösungen anstreben, Strategien zu erläutern, die wir ergreifen können, um etwas zu verändern.

Ein wichtiges Buch, ein Buch, das Pflichtlektüre werden sollte. 
5
Elisabeth Wellershaus: Wo die Fremde beginntGedankenräume über erfahrenen Rassismus, Nachdenken über blinde Flecken bei sich und in der Gesellschaft, eine persönliche Lebensreise durch verschiedene Stationen der eigenen Biografie, pendelnd zwischen Spanien und Deutschland, zwischen verschiedenen Identitäten und Zuschreibungen. Ein persönliches, ein augenöffnendes Buch, ein Buch über systemische, strukturelle und individuelle Diskriminierung. 5
Peter v. Zima: Entfremdung. Pathologien der postmodernen GesellschaftEine Untersuchung der verschiedenen Bereiche der Entfremdung wie Arbeit, Familie, Konsum, Psyche, Medien, etc. sowie das Aufzeigen der Verbindung derselben untereinander. Der Mensch in seinem Fremdsein im Umfeld wird beleuchtet, die Rolle von Geld, Tauschwirtschaft und immer grösser Partikularisierung aufgezeigt, welche den Menschen unter einen Leistungsdruck in zunehmender Anonymisierung der Umwelt treiben, so dass er versucht, ein Image aufrechtzuerhalten, um wenigstens auf Bewunderung zu stossen, so dass er (vermeintlich) seinen Selbstwert bewahren kann. Das Kranken der Gesellschaft an immer grösserer Indifferenz, in welcher sich der Einzelne, auf sich selbst zurückgeworfen und als dieser nicht wirklich anerkannt, von sich und der Welt entfremdet.  5
Elif Özem: Was ist Liberalismus?Was macht den Liberalismus aus, auf welchen Grundsätzen beruht er und wie lassen sich die in der Praxis durchsetzen, so dass eine Gesellschaftsform aus freien, gleichen und individuell pluralistischen Bürgern entsteht? Elif Özem diskutiert fundiert und tiefgründig vor dem Hintergrund von Rawls Gerechtigkeitstheorie, Hannah Arendts Ansätzen zum Pluralismus und anderen philosophischen Wegbereitern bis zurück in die Antike die Idee des Liberalismus und zeigt, wieso die liberale Demokratie «die schlechteste Regierungs- und Lebensform – abgesehen von allen anderen» ist. 5
Andreas Kemper, Heike Weinbach: Klassismus. Eine EinführungKlassismus als Begriff für individuelle, institutionelle und kulturelle Diskriminierung und Unterdrückung ist kaum bekannt als Form der Diskriminierung, dabei wirkt sie auf dieselbe Weise auf Menschen und Menschengruppen wie die besser erforschten Formen des Sexismus, Rassismus und anderer. Das Buch will die verschiedenen Formen des Klassismus aufzeigen, will die Stereotypen offenlegen, mit denen Menschen konfrontiert wird und den Blick auf das Unrecht lenken, das zu oft ignoriert wird sowohl von der Politik wie auch von der Gesellschaft. 5
Maria do Mar Castro Vaerla & Bahar Oghalai: Freund*innenschaft. Dreiklang einer politischen PraxisEs soll eine Vermittlung zwischen rechten Strömungen und linker Identitätspolitik sein, doch ich fand sie nicht. Das Thema der Fraundschaft in seiner Abhandlung bei anderen Philosophen, Begriffe wie Allyship und Solidarität oder Sisterhood wurden behandelt und es fehlte schlicht der rote Faden oder das Ziel, wohin das alles führen soll. 2
Meike Sophia Baader, Tatjana Freytag (Hrsg.): Bildung und Ungleichheit in DeutschlandArtikel zum Thema, welche eine Vielzahl an Studien kommentieren und zusammenfassen, Soziologen zitieren, Artikel nennen. Oft bleibt ein wirkliches Fazit aus, die Aussage, dass gewisse Bereiche noch zu wenig erforscht seien, findet sich nicht selten, und wirkliche Umsetzungsvorschläge sucht man vergeblich. So bleibt man mit vielen Fragezeichen zurück und hat keine Ahnung, wozu das Buch nun wirklich gut war. Vielleicht für angehende Bildungssoziologen, die den Stand der aktuellen Forschung kennenlernen wollen, wobei das Buch dazu wohl einen Anhaltspunkt, aber sicher keine abschliessende Antwort liefern kann. 3
Didier Eribon: Rückkehr nach ReimsDie autobiografische Erzählung von Didier Eribon, welcher zu seinen Wurzeln im Arbeitermilieu zurückkehrt, aus dem er für lange Zeit geflohen war – körperlich und geistig. Eribon verwebt autobiografische Erlebnisse mit politischen, soziologischen und psychologischen Erklärungen, er zeichnet das Bild einer Zeit und einer Gesellschaft, erläutert politische Gesinnungen und Gesinnungswechsel, legt eigene Gedanken und Verhaltensmuster offen. Ein kluges, ein tiefes, ein bewegendes, ein wichtiges Buch. Ein Herzensbuch.6 von 5
Iris Murdoch: Die Souveränität des GutenIris Murdoch geht der Frage nach, was das Gute wirklich ist. Sie beruft sich auf Kant, Platon, Kierkegaard, setzt sich von den Existenzialisten ab, indem sie deren Ansatz als zu wenig weit reichend darlegt. Das Gute ist in sich nicht fassbar, doch liegt es allem sonst zugrunde, ist es das, wonach alles strebt, allen voran die Liebe. Das Buch lässt einen roten Faden vermissen, es hat keine abschliessende Antwort, es ist ein Suchen und sich Annähern, dessen letzter Schritt offen bleiben muss. 4
Didier Eribon: Gesellschaft als UrteilDie Fortsetzung zu «Rückkehr nach Reims», eine weitere Innenschau und Analyse der äusseren Verhältnisse, der Klassenkämpfe und anderer Herrschaftskämpfe in der Gesellschaft. Die Aufschlüsselung verschiedener Macht- und Unterdrückungsstrukturen, die Beschreibung der eigenen verinnerlichten Muster und Zwiespältigkeiten, vor allem auch nach Klassenwechseln. Ein weiteres grossartiges Buch, das neben den Bezügen auf das eigene Leben auch vielfältige Verweise zu soziologischen, philosophischen und literarischen Werken macht. 5

Gedankensplitter: Ehrfurcht vor sich selbst

«Das Unrechte, das man getan hat, ist die Last auf den Schultern, etwas, das man trägt, weil man es sich aufgeladen hat.» Hannah Arendt, Denktagebuch

Hannah Arendt spricht hier im Sinne Sokrates’, welcher sagte, dass es besser sei, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. In einer Zeit wie heute, in der das Individuum zuoberst steht, in der das eigene Wohl vor dem der anderen gesichert sein will (was aber durchaus auch im Menschen angelegt ist), klingt das auf den ersten Blick widersinnig. Wie meint sie das?

Wenn ich Unrecht tue, bin ich mir dessen bewusst. In mir gibt es diese Stimme, die sagt, dass das, was ich tue, nicht richtig ist. Man kann sie Gewissen nennen, man kann sie aber auch Stimme der Vernunft sehen, wie Kant es sah, welcher die Vernunft als universalen inneren Massstab über richtig und falsch erachtete. Wenn ich also Unrecht tue, so wird das in mir zu einem Gefühl der Unstimmigkeit führen, weil ich grundsätzlich das Richtige tun will. Dieses Gefühl werde ich mitnehmen, auch wenn das Unrecht schon längst getan ist. Von diesem Gefühl kann ich mich nicht einfach lösen, weil ich mit mir zusammenleben muss. Also wirkt es in mir fort. Unrecht zu vermeiden ist also nicht nur Dienst am anderen, sondern vor allem auch an sich selbst. Ich kann mit mir nur in Frieden leben, wenn ich so handle, dass ich mit mir im Reinen bin. Man könnte sagen, richtiges Handeln geht auch zurück auf eine, wie Schiller sich ausdrückte, «rettende Ehrfurcht vor sich selbst».

Gedankensplitter: Neugier auf den anderen

«Der Sinn für Ungerechtigkeit, die Schwierigkeiten, die Opfer der Ungerechtigkeit zu identifizieren, und die vielen Weisen, in denen jeder lernt, mit den eigenen Ungerechtigkeiten und denen anderer zu leben, werden ebenso leicht übergangen wie die Beziehung privater Ungerechtigkeit zu öffentlicher Ordnung.» Judith Shklar

Wir sehen einen Menschen und schon ist es da: Das Bild in uns, wie er ist. Ein spontaner Impuls, eine quasi natürliche Eingebung, die durchaus ihre Berechtigung hat, hilft sie doch, Dinge schneller einzuordnen und damit eine gefühlt gesicherte Basis herzustellen. Das Problem ist, dass diese Eingebungen nicht aus dem Nichts kommt, sondern sozial, historisch und kulturell gewachsen ist. Vorurteile vererben sich förmlich weiter, so dass sie auch dann noch in den Köpfen im Versteckten ihr Unwesen treiben, wenn man rational neue Erkenntnisse gewonnen hätte. Auch wenn wir heute wissen, dass Frauen nicht dümmer sind, dass sie durchaus ohne gesundheitliche Gefährdung höhere Schulen besuchen können (ein Argument, mit dem es ihnen früher verwehrt war), dass sie gleich viel leisten können in bestimmten Berufen, und gleich viel wissen können wie die Männer, zeigt sich im sozialen, wirtschaftlichen und auch politischen Bereich oft ein anderes Bild.

Zum Beispiel: Argumente von Frauen (hier könnte auch Behinderte, POC, LGBTQIA, etc. stehen) werden weniger gehört, werden weniger ernst genommen. Das führt zu einer epistemischen Ungerechtigkeit, wie Miranda Fricker sich ausdrückt. Man verwehrt ihnen das Vertrauen in ihre Aussagen einzig aufgrund eines Vorurteils. Dadurch können sie sich nicht im gleichen Masse einbringen wie Männer das können, sie werden an ihrer aktiven Teilhabe gehindert.

Das Bild in den Köpfen ist gemacht, die Reaktion folgt. Das hat aber noch weitere (negative) Konsequenzen: Die so gering Geschätzten werden nicht gehört. Sie werden in ihrem Sein als Wissende, Fähige nicht tatsächlich wahrgenommen, sondern abgewertet. Das führt oft dazu, dass sich dieses mangelnde Vertrauen auch verinnerlicht, sich diese Menschen selbst weniger zutrauen – und noch schlimmer: Sie bilden Fähigkeiten erst gar nicht aus oder verlieren sie sogar.

Menschen haben eine tiefe Sehnsucht danach, gehört, gesehen, wahrgenommen zu werden. Tut man das nicht, nimmt man ihnen einen Teil ihrer Würde, man marginalisiert sie. Dem können wir nur beikommen, wenn wir (individuell und in Systemen) ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass in uns Vorurteile am Wirken sind, und aktiv versuchen, gegenzusteuern. Wir müssen lernen, mit Neugier auf andere Menschen zuzugehen, mit der Absicht, wirklich hören zu wollen, was sie sagen. Wir müssen unsere Vorurteile ablegen und offen zuhören, hinsehen. Das heisst nicht, dass wir allen blind vertrauen müssen, aber die Prüfung der Aussagen darf nicht aufgrund von vorgefassten Vorurteilen, sondern aufgrund sachlicher Kriterien geschehen.

***

Ein Buch zu diesem Thema:
Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens, C. H. Beck Verlag, 2023.

Miranda Fricker ist der Überzeugung, dass wir uns zu sehr auf die Gerechtigkeit ausrichten und damit vergessen, die tatsächlichen Ungerechtigkeiten genau zu beleuchten, die es zu beheben gilt. Oft denkt man bei Gerechtigkeit (und Ungerechtigkeit) an die Verteilung von Gütern, aber es gibt auch andere Formen. Bei Ungerechtigkeit, so Fricker, dürfe man nicht nur materielle Kriterien gelten lassen, sondern auch die Glaubwürdigkeit von Menschen sei ungerecht verteilt, weil soziale Vorurteile zu einer Marginalisierung bestimmter Gruppen und der Zugehörigen (Frauen, Arme, POC, etc.) führen. Nur indem wir uns dessen bewusst werden, und je einzeln und auch in Institutionen und Systemen die eigenen Vorurteile erkennen und diese für die Beurteilung von Zeugnissen ausschalten, können wir identitätsstiftende Machtsysteme ausschalten. Alles in allem nichts Neues, doch es wird in eine hochkomplexe Sprache verpackt und (zu) ausführlich mit Argumenten und Verweisen abgestützt. Das macht das Lesen mitunter etwas beschwerlich.

Gedankensplitter: «Ich bin so frei»

Ein höflicher Satz. Ein Satz des Anstands, oft begleitet mit einer entsprechenden Geste. So hat sich das eingeprägt, das ist unsere kulturelle und damit unhinterfragte Sicht. Schaut man aber genauer hin, holt man die Wendung aus ihrer gewohnten und damit unreflektierten Bedeutung heraus, zeigt sich ein anderes Bild. Verwendet wird diese Wendung mehrheitlich dann, wenn man einen eigentlichen Grenzüberschritt höflich verpacken will. Man würde es nicht sagen, wenn man nicht tief drin wüsste, dass das, was man zu tun vorhat, eine Grenze überschreitet, nämlich die des anderen: Man tritt ihm zu nah. Man begrenzt dessen Freiheit indem man sich explizit die eigene gewährt. Damit ist diese Wendung in Tat und Wahrheit eigentlich eine höfliche Entschuldigung, die aber nicht nach einer passierten Handlung nachgereicht wird und damit eine Einsicht des eigenen Fehlverhaltens impliziert, sondern eine vorweggenommene Rechtfertigung für ein noch auszuführendes Tun.

Würde man stattdessen fragen: «Darf ich?» und (ganz wichtig) die Antwort abwarten, um sie dann auch wirklich als Richtschnur für das eigene Handeln zu nehmen, sähe die Sache ganz anders aus. Dann hätten wir zwei Menschen auf Augenhöhe, von denen einer etwas will, bei dem er an die Grenzen eines anderen stösst. Der andere hat dann die Möglichkeit, seine eigenen Bedürfnisse oder Abneigungen zu formulieren, in denen er gesehen und respektiert würde. Ansonsten werden diese ignoriert und übergangen.

Ist das alles reine Sprachklauberei, eine weitere Form eines woken oder identitären Sprachverhunzungsprogramms, wie sie heute oft angeklagt werden? Nein, es ist die Aufforderung, hinzuschauen, was wir wirklich tun und sagen, die Worte auf ihren tatsächlichen Inhalt und die damit verbundenen Implikationen zu prüfen. Es ist die Aufforderung, Abwertungen und Machtverhältnisse im alltäglichen Sprachgebraucht zu sehen und zu überwinden, da diese die Strukturen unserer Welt schaffen. Sprache schafft Wirklichkeit oder wie Ludwig Wittgenstein sagte:

«Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.»

Die Art und Weise, wie ich spreche, offenbart viel von meinem Weltbild. Oft agieren wir unbewusst aus diesem heraus, weil wir schon die Sprache unbewusst verwenden. Wenn wir mit einem «Ich denke, also bin ich» durch die Welt gehen, unsere Gedanken als die richtigen sehen und diese den anderen überstülpen wollen, bleiben wir in unserer eigenen kleinen Welt gefangen und sehen die Weite hinterm Horizont nicht. Es entstehen Fronten von lauter Ichs, die die Welt erklären können, nur verstehen sie sich leider gegenseitig nicht, so dass jeder in seiner eigenen Welt vereinzelt lebt.

Wir müssen hin zu einem «Wir denken, also sind wir» kommen, im Wissen, dass der gemeinsame Blick auf eine Sache diese erst wirklich sichtbar macht – nämlich von verschiedenen Seiten. Indem wir unser Denken durch eine zugewandte und respektvolle Sprache mit dem Denken anderer zusammenbringen, schaffen wir eine gemeinsame Welt, in der jeder seinen Platz findet, weil durch das gegenseitige Verständnis und die Erweiterung des eigenen Blicks ein Miteinander möglich wird. So finden wir eine gemeinsame Sprache und schaffen damit eine gemeinsame Welt. Dann ist diese Welt grösser, da die Grenzen meiner Sprache nicht mehr die Grenze meiner Welt ist, sondern sie sich ausweitet hin zu den Grenzen unserer Sprache, die eine gemeinsame Welt begründen.

Lesemonat Juli 2023

Der Juli begann im warmen, sonnigen Spanien, ging dann bald in der zuerst warmen, sonnigen, dann kühleren und verregneten Schweiz weiter. Es war ein Monat voller Emotionen, tiefer Gedanken, grosser Lebensfragen und neuer Erkenntnisse. Ich habe mich vier Wochen ziemlich zurückgezogen, habe innerlich und äusserlich aufgeräumt, mich in die Lese- und Schreibarbeit gestürzt, und es wirklich genossen, die Zeit mit mir für mich zu gestalten. Ich bin mir aber bewusst, dass ich dies in der wunderbar privilegierten Position mache, Menschen im Leben zu haben, die da sind, die einen Rahmen und ein Beziehungsgefüge geben, in dem ich aufgehoben bin. Der August steht vor der Tür und damit zieht auch der Alltag wieder ein – und auch das wird wieder schön sein.

Mein Lesemonat war sehr philosophisch-politisch, also ganz so, wie es mir gefällt. Es war teilweise sehr schwere Kost drunter, die so manche Rauchwolke aus dem Hirn aufsteigen liess, aber insgesamt war es ein bereichernder Monat. Ich habe mit Charles Taylor die Quellen des Selbst erforscht, bin dem Ursprung dieses Konstrukts nachgegangen, um nachher mit Franz Wuketits zu fragen, wie viel Moral überhaupt menschlich ist und wie diese zustande kommt. Ich habe mich mit dem Bösen beschäftigt und mit der Freiheit, habe mich des Wertes der Menschenrechte nochmals versichert, die in den Geschlechter- und epistemischen Ungerechtigkeiten sicher oft tangiert werden, habe mich mit Demokratie und der notwendigen Pluralität in dieser befasst, damit, wo und wie wir fremd sein können und andere zu Fremden machen. Und ich bin mit Julian Nida-Rümelin einig gewesen, dass all das in der Schule gelernt und gelebt werden sollte, so dass das letzte Buch eigentlich komplett hätte markiert werden können.

So kann es weitergehen.

Was waren eure Lesehighlights im Juli?

Hier die komplette Leseliste:

Charles Taylor: Die Quellen des SelbstEin Blick auf die Entwicklung der menschlichen Moral und ihren Bezug zum Selbst (-bild) des Menschen. Wie hat sich die Identität des Menschen entwickelt, worauf gründet seine Auffassung dessen, was es heisst, ein handelndes Wesen zu sein. Sehr ausführlich, sehr tief in der Philosophiegeschichte verankert, ab und zu geht der rote Faden gefühlt verloren und es bleibt am Schluss das Gefühl, was nun damit anzufangen sei. Aber: ein Grundlagenwerk, das die verschiedenen philosophischen Standpunkte kompetent zusammenführt. 4
Franz Wuketits: Wie viel Moral verträgt der MenschEine Studie zur Moral, welche nie universal und absolut ist, sondern immer konstruiert von Menschen in bestimmten Gruppen, getrieben von egoistischen Wünschen. Verabsolutierung von Moral zusammen mit Macht wird gefährlich. Viel Geplauder, viel Populismus, einige gute Gedanken, aber mehrheitlich nichts Neues. 3
Bettina Stagneth: Böses DenkenMit Kant und Hannah Arendt auf der Suche nach der Moral, sie zwischen dem radikalen Bösen und der Banalität desselben einpendeln, für eigenes Denken plädieren und Moral als Gefühl der inneren Stimmigkeit sehen, als Hoffnung auf eine bessere Welt, indem wir als aufgeklärte Menschen unseren eigenen Verstand gebrauchen und nicht blinden Gehorsam an den Tag legen. Gute Gedanken in einem Buch über ein spannendes Thema, und doch wurde ich nicht warm damit. Der Sprachstil war zu plauderhaft. 3
Gerhart Baum: FreiheitEin kluges, kleines Buch darüber, was Freiheit bedeutet und was sie von uns fordert. Freiheit ist dem Menschen als Sehnsucht eingeschrieben, wir müssen an einer Welt arbeiten, welche diese möglich macht, eine Welt, in der unsere Werte unser Handeln leiten zugunsten von mehr Gleichheit und Teilhabe, von freiem Leben für alle. Freiheit ist auch eine Verantwortung, nämlich die Missstände zu sehen und dazu beizutragen, sie zu beheben. 5
Gerhart Baum: MenschenrechteEin Blick auf die Menschenrechte, auf ihre Geschichte, auf ihre Notwendigkeit, auf ihre Probleme, und darauf, wie wir für eine bessere Zukunft für die Menschenrechte einstehen müssen. Menschenrechte sind immer Einmischung, aber diese ist notwendig, im die Menschenwürde zu bewahren – für alle. Viele Berichte aus Baums eigener Erfahrung aus seiner Arbeit für die Menschenrechte, aktuelle Analysen. Ab und zu dringt die Parteipolitik durch, aber nie dominant. 4
Scherger, Abramowski, etc.: Geschlechterungleichheiten in Arbeit, Wohlfahrtsstaat und FamilieEine Festschrift für Karin Gottschall mit diversen Aufsätzen zum Thema der Geschlechterungleichheiten. Beleuchtet werden institutionelle, arbeitsmarktstechnische und familiäre Umstände und die jeweiligen Geschlechterverhältnisse. Die Aufsätze sind qualitativ sehr unterschiedlich, von in Wissenschaftssprache verpackten Alltagsweisheiten hin zu analytisch interessanten Erkenntnissen ist alles dabei3
Wendy Brown: Wir sind jetzt alle Demokraten… (in: Demokratie? Eine Debatte)Ist Demokratie zu einer symbolbeladenen leeren Hülse verkommen, in die jeder seine Hoffnungen  stecken kann? Ein Blick auf das Kranken unserer Demokratien, dessen Gründe und die offene Frage: Ist Demokratie wirklich (noch) die richtige Staatsform? Es gilt, genau hinzusehen, was wir wollen, können und was für eine wirkliche Demokratie nötig wäre. 5
Michel Friedman: FremdEine Vergangenheitsbewältigung in Bruchstücken, formal fast lyrisch anmutend, doch es sind mehr Worte. Es sind Fetzen, die sich Zeile für Zeile zu Gefühlen und Bildern formen. Man darf es nicht einfach schnell lesen, sonst lenkt die Form zu sehr vom Inhalt ab. Man muss es langsam, am besten laut (noch besser vorlesen lassen), lesen – und fühlen. Dann berührt es. Tief in der Seele, es bewegt und macht nachdenklich. Und sprachlos.  5
Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz. Miteinander anders denkenEin Buch darüber, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die keine Anderen mehr kennt, sondern durch mehr Offenheit, durch die Anerkennung von Menschen in ihrer Diversität, durch gegenseitige Solidarität und Unterstützung ein Verbündetsein von Menschen mit all ihren Verschiedenheiten anstrebt. Dazu bedarf es der Bereitschaft, zuzuhören, Vorurteile, auch eigene, zu entdecken und zu verlernen, um ein neues Miteinander zu lernen. 5
Eva Lohmann: Das leise Platzen unserer TräumeEin Paar, das sich auseinander gelebt hat, er geht schon lange fremd. Doch trennen können sie sich nicht. Eine alleinerziehende Mutter, die Geliebte, denkt an die Frau, deren Mann in ihrem Bett liegt, spricht mit ihr in Gedanken. Lesend gerät man immer tiefer in die Geschichte hinein, denkt mit, fühlt mit, ist gefangen, kann nicht loslassen. Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen mag.5
Miranda Fricker: Epistemische UngerechtigkeitBei Ungerechtigkeit dürfe man nicht nur materielle Kriterien gelten lassen, sondern auch die Glaubwürdigkeit von Menschen sei ungerecht verteilt, weil soziale Vorurteile zu einer Marginalisierung bestimmter Gruppen und der Zugehörigen (Frauen, Arme, POC, etc.) führen. Nur indem wir uns dessen bewusst werden, und je einzeln und auch in Institutionen und Systemen die eigenen Vorurteile erkennen und für die Beurteilung von Zeugnissen ausschalten, können wir identitätsstiftende Machtsysteme ausschalten. Alles in allem nichts Neues in eine hochkomplexe Sprache verpackt und (zu) ausführlich mit Argumenten und Verweisen abgestützt. 3
Julian Nida-Rümelin: Demokratie in die Köpfe. Warum sich unsere Zukunft in den Schulen entscheidetWie steht es um unsere Demokratie und was müssen wir tun, um die Demokratie wieder lebendig zu gestalten. Und: Wo müssen wir damit anfangen? Demokratie ist abhängig von demokratischen Bürgern. Demokratisches Verhalten muss gelernt werden und das sollte in den Schulen beginnen – nicht als Wissensvermittlung, sondern durch direkte Erfahrung. Generell bedarf es einer dringenden Umgestaltung unserer Schulen, um diese wieder als Ort des freudigen Lernens für Schüler zu machen, an welchem diese zu demokratischen, selbstwirksamen, aktiven Demokraten werden, die das gemeinsame Leben und die gemeinsame Politik gestalten. Das Buch sollte Pflichtlektüre in Lehrerzimmern, in Schulbehörden und bei Eltern werden.     5+

Gedankensplitter: Authentisch sein

Viele kennen ihn wohl, den Satz: «Was werden bloss die anderen denken?» Dieser Satz war keine Frage, es war ein Hinweis darauf, dass etwas Ungehöriges im Gange war, und es gab eine richterliche Instanz: Die anderen, die die Stimme der Moral verkörpern. Sätze wie dieser haben die Angewohnheit, sich in einem festzusetzen. Fortan leben sie gemütlich im eigenen Sein, breiten sich aus und melden sich zu allen möglichen Gelegenheiten wieder zu Wort. Man möchte etwas tun, und zack: «Was werden bloss die anderen denken?»

Wir versuchen uns oft, anzupassen, wollen dazugehören, geben dafür Dinge auf, von denen wir denken, dass sie nicht genehm sind. Dass wir uns damit stückweise selbst aufgeben, nehmen wir in Kauf, wollen wir doch nicht Fremde sein und bleiben in dieser Welt, sondern einen Platz in ihr haben – es ist nicht nur ein Wollen, es ist ein Brauchen. Nur: Auch dann noch wird es Situationen geben, in denen wir in Konflikt geraten mit anderen Wertvorstellungen. Auch dann noch werden wir nicht allen gefallen. Nicht zu gefallen bei allem Bestreben, gefällig zu sein, ist ungleich schmerzhafter, weil man dann alles verloren hat: Sich selbst und das, was man damit erreichen wollte.

Vielleicht darf der Satz «Was werden die anderen denken?» bleiben, man darf ihm aber antworten. Zum Beispiel mit «Lass sie reden!» Wegzukommen von der Fremdbestimmung hin zu einer authentischen Lebensweise ist sehr befreiend. Das wird nie allen gefallen, nur: Wer soll der Massstab sein? Wer einen wegen seines So-Seins ablehnt, beweist damit nur die eigene Intoleranz, sagt aber nichts über einen selbst aus. Mit Humor geht das alles noch viel besser, Epiktet machte es vor:

«Wenn dir jemand mitteilt, dir sage jemand Böses nach, dann rechtfertige dich nicht, sondern antworte: Er kannte wohl meine anderen Fehler nicht; denn sonst würde er nicht nur diese hier erwähnen.»

Habt einen schönen Tag!

Gedankensplitter: Als Verschiedene Gleiche sein

«Jeder Mensch hat ein eigenes Mass, gleichsam eine eigene Stimmung aller seiner sinnlichen Gefühle zu einander.» Johann Gottfried Herder

Das Leben in diversen Gesellschaften bringt viele Probleme mit sich. Wir sehen das an den täglichen Problemen des Zusammenlebens. Es herrscht ein Gefälle von oben und unten, einige wenige Menschen haben Macht, einige fühlen sich ohnmächtig, die Mehrheit schwimmt irgendwo in diesem Spannungsfeld, wobei die Dichte hin zur Ohnmacht zunimmt, je näher man zur Macht kommt, desto weniger tummeln sich da. Das gleiche Bild zeigt sich beim Ansehen, bei Geld, bei den Möglichkeiten, das eigene Leben nach eigenen Massstäben und Fähigkeiten zu leben.

Der Mensch als soziales Wesen ist dazu genötigt, Regeln als Ordnungsstruktur und Leitplanken des eigenen Verhaltens zu haben, die das Zusammenleben ermöglichen. Doch sind wir weitergegangen, als das blosse Zusammenleben zu ermöglichen, wir haben Normen aufgestellt, die festlegen, was nicht nur in einem pragmatischen Sinne nötig ist, sondern in einem dogmatischen gefordert wird. An ihnen ist ausgerichtet, ob jemand dazugehört oder ausgestossen ist. Daran wird gemessen, ob jemand genehm ist oder unbequem. Es ist der Versuch, etwas zu homogenisieren, das von der Natur nicht homogen vorgesehen ist. Dass dies mitunter dramatische Auswüchse hat, konnten wir in der Geschichte mehrfach auf grausame Weise sehen.

Jeder Mensch ist einzigartig und in dieser Einzigartigkeit liegt seine Bestimmung, seine Schönheit und seine Würde.

«Die Würde des Menschen ist unantastbar.»

Diese menschliche Würde gilt es zu schützen, sie ist das höchste Gut, an welchem sich alles ausrichten sollte. Wir werden in diversen Gesellschaften nur friedlich zusammenleben können, wenn wir anerkennen, dass jeder Mensch in seinem Sosein seine Daseinsberechtigung hat. Wir können den anderen nicht an unseren Massstäben messen, sondern nur an seinen. Er hat ein Recht auf diese wie wir auf die unseren. Nur so sichern wir gegenseitig unsere Freiheit, unsere Autonomie, unser Sein. All das ist nicht sicher zu haben auf Kosten anderer.

Hanno Sauer: Moral. Die Erfindung von Gut und Böse

Inhalt

«Denn wer in einer Gesellschaft lebt, grenzt andere aus; wer Regeln versteht, will diese überwachen: wer Vertrauen schenkt, macht sich abhängig; wer Wohlstand erzeugt, schafft Ungleichheit und Ausbeutung; wer Frieden will, muss manchmal kämpfen.»

Unsere Gesellschaft hat sich über die Jahrhunderte hinweg verändert, neue Institutionen, Technologien, Wissensgebiete und -bestände sind entstanden und mit ihnen haben sich auch unsere Werte und Normen verändert. All diese Veränderungen haben das Verhalten der Menschen als Einzelne und als Gesellschaft verändert. Wir stehen vor der Aufgabe, mit diesen Veränderungen umzugehen und immer wieder Wege zu finden, die ein Miteinander möglich machen.

Hanno Sauer macht sich auf die Reise durch die Jahrtausende, er zeichnet die Geschichte der Gesellschaft und ihrer kulturellen und moralischen Entwicklung nach, um die aktuelle Krise zu erklären und aus dieser Erklärung heraus Hoffnung für die Zukunft abzuleiten.

Gedanken zum Buch

Moral ist immer eine konventionelle Entscheidung darüber, was zu einer Zeit an einem Ort von der entscheidenden Mehrheit als gut oder böse, als richtig oder falsch gesehen wird. Daraus ergeben sich dann die entsprechenden moralischen Normen, die für das Zusammenleben verbindlich sind. Diese Normen entstehen also nicht im luftleeren Raum, sondern sie fussen auf dem menschlichen Naturell und dessen Handlungmotivationen, auf Werten und Interessen.

«Als kooperativ wird ein Verhalten genau dann bezeichnet, wenn es das unmittelbare Selbstinteresse zugunsten eines grösseren gemeinsamen Vorteils zurückstellt.»

Menschen sind soziale Wesen, die allein und ohne Zugehörigkeit zu einer Gruppe kaum überleben können, zumal sie von Natur ziemlich verletzlich und damit auf Schutz angewiesen sind. Das Zusammenleben in einer und das Überleben einer Gruppe ist auf Kooperation angewiesen. Der Einzelne muss seine eigenen Interessen zugunsten des grossen Ganzen zurückstellen.

«Strafen halfen dabei, uns zu domestizieren, weil wir durch sie wichtige Fähigkeiten wie Selbstkontrolle, Fügsamkeit, Weitsicht und Friedfertigkeit erlernten, die ein Leben in wachsenden Gruppen möglich machten.»

Bei aller Einsicht in die Vorteile von gemeinsamen Normen und kooperativem Verhalten sind nicht immer alle bereit, sich auch daran zu halten, weil sie sich aus von diesen abweichenden Handlungen Profit versprechen. Um den Rest der Gruppe und damit auch das Zusammenleben zu schützen, hat man Sanktionen erfunden, welche das gemeinschaftsgefährdende Verhalten sanktionieren.

«Imperativ der Integration: Moderne Gesellschaften haben sich gefälligst zu bemühen, ererbte Formen sozialer Segregation und Benachteiligung durch aktive Inklusionsmassnahmen endlich zu überwinden.»

Man hört oft von der Krise der Gesellschaft und davon, dass diese gespalten sei. Rassismus, Sexismus und andere -ismen gefährden ein gerechtes Miteinander von verschiedenen und doch gleichwertigen Menschen. Unsere Anstrengung muss dahin gehen, diese Diskriminierungen und Ausgrenzungen zu überwinden. Die Hoffnung, dass das gelingen kann, besteht.

Fazit
Ein fundiertes, tiefgründiges, kompetentes und dabei doch gut lesbares Buch darüber, wie die Moral in die Gesellschaft kam, wozu sie gut ist, und wohin wir mit ihr gelangen wollen als Gesellschaft. Eine absolute Leseempfehlung für dieses grossartige Buch!

Zum Autor
Hanno Sauer, Jahrgang 1983, ist Philosoph und lehrt Ethik an der Universität Utrecht. Er ist Autor zahlreicher Fachaufsätze und mehrerer wissenschaftlicher Werke. Zahlreiche Vorträge in Europa und Nordamerika. Hanno Sauer lebt in Düsseldorf.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Piper; 2. Edition (30. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 400 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3492071406

Gedankensplitter: «Jeder ist jemand.»

Der Schriftsteller George Tabori sagte einst:

«Jeder ist jemand.»

In diesem Satz steckt eigentlich die ganze Menschlichkeit, die ganze Ethik, derer es für ein friedliches Zusammenleben von verschiedenen Menschen als Gleiche bedürfte. Jeder Mensch, egal, woher er kommt, was er glaubt, was er fühlt, wie er aussieht, was er will und was er braucht oder nicht kann, ist jemand. Und als dieser Jemand gehört er zu uns, ist er ein Teil dieses «Uns». Er ist zwar ein anderer, vielleicht auch ein Fremder, aber kein Ausgestossener, sondern ein Zugehöriger. 

Früher hat man diese Gemeinschaft in religiösen Gruppen, familiären Verbänden oder auch in anderen kleinen Organisationn aktiv leben können. Man hatte den öffentlichen Raum als Zusammenkunftsort, wo man als Verschiedene aufeinandertraf und die gemeinsamen Belange diskutierte. All das ist in der angestammten Form weggefallen. Geblieben sind vereinzelte Individuen, die auf dem Papier eine Gesellschaft bilden, von der sie sich mehr und mehr emanzipieren wollen – und dabei in die Haltlosigkeit und oft auch in die Einsamkeit fallen. 

Wenn wir nur schon anerkennen könnten, dass jeder jemand ist, dass er damit den Respekt verdient, den wir für uns selbst wünschen, weil auch wir jemand sind und als jemand wahrgenommen werden wollen, ist schon viel gewonnen. Den anderen wahrnehmen als jemanden, ihm zuhören, ihn sehen als dieser Jemand. Das ist ein Geschenk und wir sollten grosszügig damit umgehen. 


Ewig lockt der Buchtitel

Manchmal gibt es Buchtitel, die sind so witzig, dass die Phantasie gleich auf Reisen geht und sich etwas vorstellt. Ob das dann schlussendlich viel mit dem wirklichen Inhalt des Buches zu tun hat, ist zweitrangig (ausser wenn die Phantasie Grund für den Kauf ist und das folgende Lesen zur Ernüchterung führt). 

Ich sehe die trunkenen Philosophen vor mir, wie sie um den Stammtisch im Wirtshaus sitzen, Kant ruft «no a Mass» und Paracelsus findet, das richtige Mass müsse eingehalten werden, um das Bier nicht zum Gift zu machen. Epikur wird einwenden, dass Lust das grösste Glück sei und Kant mit verschwörerischem Augenzwinkern zuprosten.

Während die Herren es sich gut gehen lassen, macht die Daniel Klein auf die Suche nach dem Sinn des Lebens, doch er wird nicht fündig. Der gute Sinn scheint ein windiges Ding, das sich einem Fisch gleich immer wieder entwindet. 

Wenn schon der Sinn nicht zu finden ist, dann doch bitte das Ich. Kommissar Northoff sitzt in der Hotellobby und linst hinter der Zeitung hervor, in der Hoffnung, dass das zur Fahndung ausgeschriebene Ich vorbei kommt. Da er da nicht fündig wird, geht er in sich. 

Kant hat mittlerweile seinen Rausch ausgeschlafen und steht schon wieder Red und Antwort auf die Frage, wie man denn mit einem disziplinlosen Gehirn umgehen solle. Nun, ob der Trunkenbold von oben darauf eine Antwort hat? Aber: Wir wollen den Kant nicht mit dem Bier ausschütten, ist er doch ein kluger Kopf und wird durch Vernunft und Urteilskraft sicher eine Lösung finden. 

Der langen Rede kurzer Sinn: Die Bücher sind nicht ganz so wie oben beschrieben, teilweise aber doch. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sehr lesenswert sind. Deswegen hier mehr zu den einzelnen Büchern:

Daniel Klein: Immer wenn ich den Sinn des Lebens gefunden habe, ist er schon wieder woanders
Wie lebt man ein gutes Leben, was ist ein gutes Leben überhaupt? Das hoffte Daniel Klein zu erfahren, als er sein kleines Notizbüchlein mit Zitaten grosser Philosophen anlegte. Er ergänzte die Sammlung über viele Jahre, bis das Buch irgendwann auf dem Dachstock verschwand, wo er es mit fast achtzig Jahren wieder fand, drin blätterte und beschloss, ein Buch daraus zu machen.

Die Buchbesprechung: HIER

Georg Northoff: Das disziplinlose Gehirn
Kant kam doch aus Königsberg heraus und nimmt im Berlin unserer Tage an einer Tagung von Neurowissenschaftlern teil. Begleitet wird er von einem jungen Studenten, welcher zwar angetan von Kant ist, diesen aber im Namen der Neurowissenschaft widerlegen will. Dies ist die Rahmenhandlung von Georg Northoffs Buch über die Suche nach dem Bewusstsein. Auf amüsante und gut lesbare Art stellt Northoff die heutigen Erkenntnisse der Hirnforschung dar, zeigt auf, was durch Experimente beobachtet werden kann und wo diese Experimente ihre Grenzen haben. Diese  Erkenntnisse werden quasi durch Kants Augen kritisch beäugt, indem die Begrifflichkeiten genau geprüft werden und darauf geachtet wird, dass es zu keinen falschen Zuordnungen kommt. Es soll ja alles seine Ordnung haben.

Die Buchbesprechung: HIER

George Northoff: Die Fahndung nach dem Ich
Zwei Ermittler machen sich auf die Suche nach dem Ich. Ein Hirnforscher und ein Philosoph wollen herausfinden, was es mit dem Ich, dem Selbst auf sich hat. Eine witzige Idee, gut lesbar, ein guter Einstieg in das Thema.

Wolfgang Martynkewicz: Das Café der trunkenen Philosophen
Das Buch behandelt die Leben und das Denken einiger führenden Denker damaliger Zeit, die sich zum Diskutieren ihrer Ideen oft im Café Laumer in Frankfurt trafen. Adorno, Horkheimer, Mannheim, Elias, Hannah Arendt, Hans Jonas und einige mehr werden zueinander in Beziehung gesetzt und durch die Zeit bis 1943 begleitet. Entstanden ist ein Bild der damaligen Denkgebilde, welche vor allem auch durch die Frankfurter Schule bis heute nachhallen, sowie ein Zeugnis der Zeit.

Die Buchbesprechung: HIER

Haben Buchcover und -titel Einfluss auf euer Kaufverhalten?

Judith Shklar: Liberalismus der Furcht

Inhalt

«Der Liberalismus muss sich auf die Politik beschränken und darauf, Vorschläge zur Verhinderung von Machtmissbrauch zu unterbreiten, um erwachsene Frauen und Männer von Furcht und Vorurteil zu befreien, damit sie ihr Leben ihren eigenen Überzeugungen und Neigungen gemäss führen können, solange sie andere nicht davon abhalten, dasselbe zu tun.»

Wird unter Liberalismus landläufig die Sicherung von Freiheit verstanden, zeichnet Judith Nisse Shklar ein neues Bild, indem sie als Ziel des Liberalismus die Vermeidung von Furcht definiert. Damit strebt er nicht nach dem höchsten Gut, sondern versucht das grösste Übel zu vermeiden.

Über Jahrhunderte lebten Menschen in Angst vor Gräueltaten, Machtmissbrauch, Ausbeutung und Unterwerfung. Diesem Umstand soll der Liberalismus entgegenwirken, indem er ein politisches System sein soll, dass jeden Menschen ungeachtet seiner Anlagen und Fähigkeiten als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft definiert und ihm ein Leben in Freiheit und frei von Furcht ermöglicht. Darüber hinaus kommt dem Staat im Liberalismus keine Aufgabe zu, er beschränkt sich auf die rein politische öffentliche Ebene.

Gedanken zum Buch

«Der Liberalismus hat nur ein einziges übergeordnetes Ziel – diejenigen Bedingungen zu sichern, die für die Ausübung persönlicher Freiheit notwendig sind.

Jeder erwachsene Mensch sollte in der Lage sein, ohne Furcht und Vorurteil so viele Entscheidungen über so viele Aspekte seines Lebens zu fällen, wie es mit der gleichen Freiheit eines jeden anderen erwachsenen Menschen vereinbar ist.»

Furcht lähmt, sie ist ein apolitisches Gefühl, das den Menschen in eine Handlungsunfähigkeit führt. So ist sich Shklar sicher, dass systematische Furcht Freiheit unmöglich macht, weswegen es dem Liberalismus darum gehen muss, diese zu beseitigen. Dabei sind alle Menschen gleich. Damit betont Shklar wie schon Hannah Arendt den Pluralismus der Gesellschaft, welchem Rechnung getragen werden muss: Eine Gesellschaft besteht aus vielen Verschiedenen, die als solche respektiert werden und am öffentlichen Geschehen teilhaben sollen.

«Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt» (Immanuel Kant)

Zentral für Shklars Gedanken des Liberalismus ist zudem, dass er die Freiheit sichern soll für jeden. Allerdings hat die jeweilige Freiheit ihre Grenzen, die sich schon bei Kant finden lassen: Sie endet da, wo sie die Freiheit des anderen beeinträchtigt.

«Wir würden viel weniger Schaden anrichten, wenn wir einander als empfindungsfähige Wesen anzuerkennen lernten, unabhängig davon, was wir sonst noch sind, und wenn wir verständen, dass körperliche Unversehrtheit und Tolerierung keineswegs weniger wert sind als all die Ziele, die wir sonst noch verfolgen.»

Wir müssen lernen, dass wir als Menschen vieles gemeinsam haben, allem voran unsere Verwundbarkeit. Als fühlende Wesen leiden wir, wenn man uns Leid zufügt. Wenn wir fürchten müssen, durch unser Sein und Tun Opfer von Unrecht zu werden, bringt uns das dazu, untätig zu werden, uns zurückziehen, unserer Aufgabe als Mensch in einer Gesellschaft, die in der (politischen) Teilhabe besteht, nicht mehr wahrzunehmen. Davor soll der Liberalismus schützen.

Fazit
Ein schmales Buch mit grossem Inhalt, eine Theorie des Liberalismus, die zu mehr Menschlichkeit durch Wahrung der Pluralität und der Leidvermeidung aufruft.

Zur Autorin und weiteren Mitwirkenden
Judith N. Shklar, 1928 in Riga geboren, lehrte Politikwissenschaften an der Harvard University und starb 1992 in Cambridge, Massachusetts. Die Relevanz ihres Werks findet erst in den letzten Jahren Anerkennung. Ihr Essay Der Liberalismus der Furcht gilt inzwischen als Klassiker der jüngeren politischen Philosophie und als Schlüsseltext der Liberalismustheorie.

Axel Honneth, 1949 in Essen geboren, ist ein deutscher Sozialphilosoph. Seit 2001 ist er Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS) an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er lehrt und forscht seit 2011 als Lehrstuhlinhaber der Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York.

Hannes Bajohr, 1984 in Berlin geboren, ist Übersetzer und Herausgeber der Werke Judith N. Shklars. Er wohnt in New York und Berlin und gehört zum literarischen Experimentalkollektiv oxoa.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Matthes & Seitz Berlin; 3. Edition (1. August 2013)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 174 Seiten
  • Übersetzung‏ : ‎ Hannes Bajohr
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3882219791

Gedankensplitter: «Memento mori»

«Der Tod ist groß
Wir sind die Seinen
Lachenden Munds
Wenn wir uns mitten im Leben meinen
Wagt er zu weinen
Mitten in uns»
Rainer Maria Rilke

Kaum ein Thema meiden wir wohl so wie den Tod. Viele fürchten ihn, die meisten ignorieren ihn, indem sie ihn aus dem Bewusstsein streichen, manche tun alles, um ihn möglichst zu vermeiden – ganze Forschungszweige beschäftigen sich damit, ewige Jugend, Vermeidung des Alterns, Hinauszögern des Sterbens zu ermöglichen. 

«Der Gedanke an die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge ist ein Quell unendlichen Leids – und ein Quell unendlichen Trostes.»
Marie von Ebner-Eschenbach

Was macht uns Angst am Tod? Das eigene Nicht-Sein? Das Aufhören von etwas, das für uns so zentral ist, nämlich das Sein des eigenen Selbst? Der Tod nimmt uns was. Er nimmt uns die Möglichkeit, all das noch zu erleben, was wir, sind wir erst tot, nicht mehr erleben können. Dabei ist der Tod an sich weder gut noch schlecht, da nicht nur das Freudvolle nicht mehr sein wird, sondern auch das Leidvolle. Und doch denken wir beim Tod mehrheitlich an all das, was wir noch wollten, was wegfällt. 

Irvin D. Yalom sagte in diesem Sinne, dass sich die Angst vor dem Tod aus der Fülle der ungelebten Wünsche speist. All das, was wir gerne tun wollen und in die Zukunft schieben, trägt zur Angst bei. Und wenn wir dann irgendwann auf dem Sterbebett liegen, denken wir: Hätte ich doch… ich wollte doch noch. 

«Nicht der Mensch hat am meisten gelebt, welcher die höchsten Jahre zählt, sondern derjenige, welcher sein Leben am meisten empfunden hat.»
Jean-Jacques Rousseau

Wieso nicht einfach mal tun? Wieso nicht Wünsche leben, statt sie für später zu notieren? Wieso statt einer Bucking List einen konkreten Umsetzungsplan erstellen und umsetzen? Was hält uns zurück? Sind es wirkliche Hindernisse oder nur Dinge, von denen wir glauben, sie zu müssen, die wir aber in Tat und Wahrheit auch ändern könnten – natürlich mit Einbussen, bei denen sich dann die Frage stellt: Was ist mir mehr wert?

Hast du Angst vor dem Tod? Und: Was willst du unbedingt mal noch machen und schiebst es hinaus? Und wieso?