Lieber Papa
Mir fällt auf, dass ich mehr Erinnerungen ans Berner Oberland habe als an Winterthur, wo wir zuhause waren. Fast scheint es, als ob wir in den Ferien mehr gelebt hätten, sicher mehr erlebt. Obwohl wir auch in Winterthur viel unternahmen. Und ich ja mein Leben mit Schule und mehr hatte da.
Auf alle Fälle erinnere ich mich an eine Wanderung. Aufs Stockhorn sollte es gehen. Es war Sommer und es war heiss. Darum starteten wir früh am Morgen beim Bergli, unserem Hotel, und liefen den Hügel hinunter ins Tal. Unten angekommen tagte es schon, die ersten Leute standen bei der Talstation der Luftseilbahn an. Ich wusste, dass wir uns nicht in die Kolonne einreihen würden. Wir würden laufen. Wir liessen die Talstation links liegen und folgten erst einer Strasse, die den Berg hinaufführte, bis wir auf einen Waldweg abzweigten.
Langsam stiegen wir höher, verliessen den Wald, kamen über Kuhweiden, vorbei an Ställen. Über uns der blaue Himmel und zwei Drähte, von denen einer immer stärker schwankte, weil von unten die rote Kabine hinauf schwebte. Als sie direkt über uns war, legte ich den Kopf in den Nacken und schaute hoch. Die Fenster der Kabine waren runtergelassen und Kinder winkten fröhlich zu uns nach unten. Ich winkte zurück. Etwas weniger fröhlich. Die Kinder lachten und riefen etwas, was ich nicht verstanden habe. Ich beneidete sie. Erinnerst du dich noch? Die Szene ist mir nie mehr aus dem Sinn gegangen. Ich drehte mich zu dir um und sagte:
«Wenn ich einmal Kinder habe, frage ich sie, ob sie laufen oder fahren wollen.»
Ein wenig später kamen wir zur Mittelstation. Du schautest mich an und fragtest:
«Und? Willst du den Rest mit der Seilbahn fahren oder wollen wir weiterlaufen wir geplant.» Ich wusste natürlich, was deine Präferenz war. Ich wusste aber auch, dass du mir zuliebe gefahren wärst. War es ein Gefallen an dich, dass ich mich fürs Laufen entschieden habe? Oder war es der eigene Ehrgeiz, der mich nun doch gepackt hatte? Auf alle Fälle sagte ich:
«Jetzt bin ich so weit gelaufen, nun laufe ich auch den Rest.»
Ein wenig Trotz war sicher mit dabei. Und Stolz. Ich wollte nicht schwach erscheinen vor dir. Ich wollte zeigen, dass ich das schaffe. Dass ich die Dinge zu Ende bringe und nicht mittendrin abbreche. Das war dir immer wichtig.
Und ich habe es geschafft. Bis zum Gipfel. Und wieder runter und den anderen Berg wieder hoch zum Hotel. Wir kamen erst am späten Nachmittag wieder oben an. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen, und doch fühlte es sich auch gut an. Ich hatte nicht aufgegeben. Als wir beim Hotel ankamen, sagtest du:
«Das war doch nun schön, nicht wahr?»
Ja. Nein. Irgendwie doch.
(«Alles aus Liebe», XXV)
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Ich erinnere mich gerade an eine Radtour, die mein Vater mit uns Kindern machte. Viel zu weit und viel zu schwer für uns, aber wir schafften es. Wir hatten keine Wahl, mussten ja irgendwie wieder nach Hause kommen. Völlig erledigt waren wir doch stolz auf unsere Leistung. Und er hat gelernt, uns nie wieder so zu überfordern.
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Geblieben ist mir das Wissen, wie erhebend es ist, oben zu stehen nach geschafftem Aufstieg. Geblieben ist mir das Gefühl des Höhersteigens und die Welt immer weiter unten zu sehen. Geblieben ist mir eine Sehnsucht, das wieder zu erleben, da ich die Schönheit noch vor Augen habe. Auch geblieben ist aber, dass ich das lieber nicht mehr machen möchte. Es lebe die Ambivalenz.
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