Olga Tokarczuk: Übungen im Fremdsein

Inhalt

«Mir scheint, die Literatur als unaufhörlicher Prozess des Erzählens der Welt hat grössere Möglichkeiten als irgendetwas sonst, diese Welt in ihrer gesamten Perspektive gegenseitiger Einflüsse und Verbindungen zu zeigen.»

Die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk hat in diesem Buch zwölf Essays und Reden zusammengestellt, die sich mit dem eigenen Schöpfungsprozess beschäftigen. Sie schreibt über die Motiviation zum Schreiben, zur Konstruktion von Figuren, zu den politischen, psychologischen, soziologischen und biographischen Quellen ihres Schreibens. Sie beleuchtet, wie wir durch Sprache neue Welten schaffen, beleuchtet den Lauf der Welt und die Art und Weise, wie Literatur damit umgeht.

«Existiert denn überhaupt die eine Welt…. Oder leben wir, die wir uns in der einen räumlichen Sphäre befinden, in Wahrheit in den jeweils eigenen Phantasmen?»

Entstanden ist ein Blick hinter die Kulissen ihres Schreibens und Denkens, ein kritischer Blick auf die Welt und unser Leben in ihr. Es ist zudem ein Aufruf, die Welt mit verschiedenen Augen aus verschiedenen Perspektiven zu sehen.

Gedanken zum Buch

«Wunder des Lesens… die Bereitschaft, sich mittels einer bewussten Verwendung von Sprache, durch das Spiel mit den Zeichen, Kontexten und Verweisen geduldig in vielschichtige, komplizierte, bedeutungsvolle Struktur der Welt ringsumher zu vertiefen, stetig weiter hinabzusteigen oder auch, wie über die Wendeltreppen eines perspektivischen Verwirrbildes, immer höhere Höhen zu erklimmen.»

Olga Tokarczuk bezeichnet sich als buchabhängig. Sie liest, sie liest Bücher auch mehrfach, und sie schaut, was in diesen Büchern steckt, wie sich die Geschichten ihr gegenüber öffnen, wie sich verschiedene Schichten beim wiederholten Lesen entfalten. Literatur ist ein Blick auf die Welt, welche diese sichtbar werden lässt in ihren Zusammenhängen und Strukturen.

«Ich bin überzeugt, dass unser Leben nicht nur eine Summe von Ereignissen ist, sondern ein verschlungenes Sinngefüge – das wir selbst schaffen, indem wir den Ereignissen jeweils einen Sinn zuschreiben.»

Literatur ist ein Sinnstifter, da durch das Schreiben den Dingen zugeschrieben wird. Geschichten kreisen um einen Sinn, der nicht den Dingen innewohnt, sondern den die Dinge für uns haben, weil wir ihnen diesen zusprechen.

«Die Geschichte, das Erzählen ist somit das fünfte Element, das uns die Welt auf ebendiese und keine andere Weise sehen lässt, das uns ihre unendliche Vielfalt und Vielschichtigkeit verstehen, unsere Erfahrung einordnen und sie von Generation zu Generation, von einer Existenz zur anderen weitergeben lässt.»

Seit Menschengedenken erzählen wir uns Geschichten. Es sind diese Geschichten, welche die Welt erfahrbar machen, indem sie eine Einordnung der Phänomene in einen Zusammenhang vornehmen. Indem wir unterschiedliche Geschichten von verschiedenen Menschen hören, eröffnet sich ein weiterer Blick, der aufzeigt, dass es mehrere Sichtweisen auf die eine Welt gibt, dass quasi diese eine Welt aus ganz vielen Welten besteht, die wir erst durch die Geschichten anderer Menschen erfahren können. Damit das so ist, bedarf es auch einer Offenheit. Wir müssen uns von unserem Standpunkt lösen und uns neuen Standpunkten, neuen Perspektiven gegenüber neugierig zeigen.

«Im Grunde nimmt der Reisende des Westens die Welt als nicht wirklich wahr. Gleich einem ewig eilenden Schatten bewegt er sich durch die Länder und Kulturen, die er besucht. Nichts berührt er, in nichts ist er einbezogen, er bleibt verkapselt in seinem Überlegenheitsgefühl.»

Tokarczuk wirft einen kritischen Blick auf die Welt und die Menschen in ihr. Sie thematisiert die Vereinzelung, die oft mit Entfremdung einhergeht, ebenso wie die wohl aus dieser hervorgehende Haltung der eigenen Überlegenheit. Zu oft verharren wir in der Meinung der eigenen Deutungshoheit, wir sehen uns und unser Erleben als Massstab, den wir auf den Rest der Welt anwenden. Was aus einer gefühlten Überlegenheit heraus passiert, führt uns eigentlich bei Lichte betrachtet in eine Verarmung der Wahrnehmung, da wir diese selbst beschränken.

Fazit
Ein klarer, scharfer und durchdringender Blick auf die Welt, das Leben, Lesen und Schreiben. Eine Hommage an die Sprache und ihre Möglichkeit, mit ihr die Welt erst zu schaffen.

Zur Autorin
OLGA TOKARCZUK, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Sie zählt zu den bedeutendsten europäischen Autorinnen der Gegenwart. Ihr Werk wurde in 37 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, ausgezeichnet und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast, für den sie auch 2019 wieder nominiert war: Ihr Roman Der Gesang der Fledermäuse stand auf der Shortlist. 2019 wurde Olga Tokarczuk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zum Schreiben zieht sie sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Kampa Verlag; 1. Edition (14. Oktober 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 320 Seiten
  • Übersetzung ‏ : ‎ Bernhard Hartmann, Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein ,  
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3311100751

Ein Kommentar zu „Olga Tokarczuk: Übungen im Fremdsein

  1. Sandra: „…wie wir durch Sprache neue Welten schaffen.

    ◾ Sprache ist nur eine Hilfskonstruktion zur Verständigung.
    ◾ Das Werkzeug Sprache hat keine schöpferische Fähigkeit.

    Es ist der menschliche Geist, der die Phantasmen kreiert. Die Sprache ist nur das Medium… für die Verteilung von Phantasmen.

    Lesen ist die Flucht der Gelangweilten, eine Droge für Privilegierte.
    Die mit den Händen Schaffenden haben für so etwas keine Zeit.

    🌷

    Olga: «Existiert denn überhaupt die eine Welt…. Oder leben wir, die wir uns in der einen räumlichen Sphäre befinden, in Wahrheit in den jeweils eigenen Phantasmen?»

    Interessante Frage.

    Bei nur etwas genauerem Hinsehen wird sofort klar, daß nicht die eine Welt existiert, sondern acht Milliarden Welten, die alle wiederum nicht real, sondern Phantasmen sind.

    „Es gibt keine Materie an sich.“ ― Max Planck
    Und das ist keine theoretische Formulierung.

    Albert Einstein konnte das auch sehen, er sagte: „Es gibt keine Materie“ und nannte das, was wir als Materie interpretieren, „reduzierten Geist“.

    🌷

    Der größere Teil der Literatur besteht – wie jeder andere Film – aus Illusionen innerhalb des Illusionären.

    Nur sehr wenig an Literatur hat das Potenzial
    zum Aufwecken aus der Welt der Phantasmen.

    🌷

    Sandra: „Wir müssen uns von unserem Standpunkt lösen und uns neuen Standpunkten, neuen Perspektiven gegenüber neugierig zeigen.“

    Das wunderbare am menschlichen
    Geist ist, daß er mühelos verschie-
    dene Standpunkte einnehmen kann.

    – Dalai Lama

    🌷

    Einen heiteren Frühling 🌼
    in der für jeden einmaligen
    und unbesuchbaren
    phantastischen Illusion
    wünscht Nirmalo

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