Rainer Maria Rilke: Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden
Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangen Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.
Das Leben läuft nicht immer so, wie wir uns das erträumt haben. Manchmal beginnen wir einen neuen Lebensabschnitt voller Freude und Hoffnung, um dann vor einer Mauer zu stehen, wo es nicht mehr weiter geht. Oder wir leiden an einer Krankheit, die unsere Tage mit Schmerzen füllen. Oder Menschen, auf die wir gebaut haben, enttäuschen uns. Beispiele gäbe es viele. Nicht zu selten hadern wir dann. Wir trauern unseren geplatzten Hoffnungen nach, sehen die Welt dunkel und düster. Nur wollen wir die dunkle Seite eigentlich nicht in unserem Leben, wir suchen das Licht. Leider ist es erstens eine Illusion, zu glauben, ein Leben könnte nur aus lichtvollen Momenten bestehen, zudem ist es zweitens nicht mal sicher, ob das wirklich wünschenswert wäre.
Oft zwingen uns gerade diese Situationen dazu, genauer hinzuschauen. Und dann sehen wir plötzlich etwas, das uns vorher gar nicht klar war. Wir sehen unsere Irrtümer, sehen, wo wir uns selbst falsch eingeschätzt haben, stossen auf Träume, Wünsche oder Ziele, die uns viel mehr am Herzen liegen als die, welche wir verfolgt haben. Oft sind es die problematischen Situationen, an denen wir wachsen.
Vielleicht sind dunkle Stunden Chancen und Möglichkeiten. Trauern, hadern, seine Wunden zu lecken sind auch immer Zeiten, in denen wir innehalten. Es sind Zeiten, in denen wir unser Leben und uns selbst hinterfragen. Dieses Hinterfragen führt zu Einsichten in das eigene Sein und Tun, es bringt förmlich Licht ins Dunkel des Unterbewusstseins, holt Dinge hervor, die tief darin verborgen waren. Vielleicht sehen wir das im ersten Moment nicht, da der Schmerz über das Scheitern einer Hoffnung zu gross ist. In diesen Momenten hilft es wohl nur, im Wissen darum zuversichtlich zu sein, dass auf Dunkelheit auch wieder Licht folgen wird, so wie Udo Jürgens singt:
«Immer, immer wieder geht die Sonne auf
und wieder bringt ein Tag für uns ein Licht,
Ja, immer, immer wieder geht die Sonne auf,
denn Dunkelheit für immer gibt es nicht»
Meine Gedanken dazu, ohne zu recht zu wissen und zu verstehen, warum. Mir scheint im Hintergrund die Selbstverständlichkeit zu liegen, den eigenen Erwartungen eine gewisse Berechtigung zu unterstellen – aber warum? Erwartungen sind Hoffnungen, als solche durchschaut nicht mehr als Wünsche, und als Wunsch ein fröhliches Ziel und eine Absicht, die es aktiv zu gestalten gilt. Die Passivität selbst, im Warten etwas zu erhalten, was nur durchs Gestalten entsteht, vielleicht besteht darin dieses Licht- und Schattenspiel, das verpufft, sobald das Neue Platz zum Entfalten bekommt. Nur so ein Gedanke! Ich mag den Rilke sehr. Erinnert mich an:
Und wieder rauscht mein tiefes Leben lauter,
als ob es jetzt in breitern Ufern ginge.
Immer verwandter werden mir die Dinge
und alle Bilder immer angeschauter.
Dem Namenlosen fühl ich mich vertrauter:
Mit meinen Sinnen, wie mit Vögeln, reiche
ich in die windigen Himmel aus der Eiche,
und in den abgebrochnen Tag der Teiche
sinkt, wie auf Fischen stehend, mein Gefühl.
Das Namenlose wäre das Erleben, das keiner weiteren Berechtigung mehr bedürfe. Ein Fortschritt nach innen 🙂 Guten Wochenstart!
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Ganz lieben Dank für deine Gedanken! Liebe Grüsse
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Welch ein tolles Gedicht, was mich daran erinnert, in meinem Zurückgeworfen Sein das
Licht erkennen zu dürfen.
Auch mir fällt es schwer, dunkle Stunden als Basis oder weitere Entwicklung erkennen zu können.
Oftmals bringen nur dunkle Stunden mich weiter, aber auch das Licht selbst kann uns zu Höhenflügen veranlassen.
Das Gedicht erinnert mich auch an ein Gedicht von Eugen Roth, der es sehr radikal zu formulieren wusste:
Ein Mensch schaut in der Zeit zurück und sieht, sein Unglück war sein Glück.
Wünsche uns einen bunten Oktober Tag!
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Herzlichen Dank!
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