«Das Selbstgefühl jedes Menschen wird von seiner Herkunft geprägt, angefangen bei der Familie, aber darüber hinaus auch von vielen anderen Dingen – von der Nationalität die uns an einen Ort bindet; vom Geschlecht, das uns jeweils mit der Hälfte der Menschheit verbindet; von Kategorien wie Klasse, Sexualität, race und Religion, die über unsere lokalen Bindungen hinausreichen.»
Werde ich gefragt, wer ich bin, lautet eine mögliche Antwort: Ich heisse Sandra, bin Philosophin, bald 50 und wohne in der Schweiz. Es gäbe noch viele andere Kategorien, in die ich mich einordnen könnte, je nach Umfeld, in welchem diese Frage gestellt wird. Einige dieser Kategorien habe ich mir selbst ausgesucht. Ich wollte Philosophie studieren, ich bin zwar in der Schweiz geboren, aber ich hätte diese auch irgendwann verlassen können, was ich aber nicht tat. In andere bin ich quasi hineingeboren. Ich bin eine Frau, ich habe ein bestimmtes Alter, weil ich zu dem Zeitpunkt geboren wurde, den ich seit da als meinen Geburtstag feiere. Kategorien helfen, mich in unserem Gesellschaftssystem zu positionieren, einzuordnen.
«Den Ausgangspunkt bilden bei Identitäten Kategorisierungen und Vorstellungen darüber, warum und auf wen sie anzuwenden seien. IN einem zweiten Schritt prägen Identitäten Vorstellungen hinsichtlich des richtigen Verhaltens. Drittens haben sie Einfluss darauf, wie andere Menschen Sie behandeln. Und schliesslich sind all diese Dimensionen der Identität bestreitbar und geben stets Anlass zu Streitigkeiten über die Frage, wer dazugehört, wie die betreffenden Menschen beschaffen sind, wie sie sich verhalten und wie sie behandelt werden sollten.»
Kategorien, in die ich mich einordne, wende ich auch bei anderen an, so dass sie für mich als Menschen fassbarer werden. Das ist grundsätzlich unproblematisch, so lange ich diese Kategorien dann nicht dazu nutze, andere aufgrund dieser Zuordnung schlecht zu behandeln, was leider immer wieder getan wird auf sexistische, rassistische oder andere unterdrückende Weise. Wir vergessen dabei, dass die Kategorien allesamt menschgemacht sind, es sind Strukturen in unserem System, die unser System verständlich machen sollen. Die Kategorien sind dem Menschen nicht immanent, sie gehören nicht zu seiner Essenz. Schon Sartre sagte, dass die Existenz der Essenz vorausgeht, wir also zuerst alle Menschen sind, erst dann bilden wir Identitäten aus.
Leider wird das oft vergessen, wenn es darum geht, Menschen entgegenzutreten. Vor allem wenn diese einer Gruppe oder Kategorie angehören, der wir kritisch gegenüberstehen, sehen wir sie oft mehr als Vertreter dieser Gruppe und weniger als einzelnen Menschen. Wir stützen uns auf Klischeevorstellungen der Kategorie und verhalten uns so, als wären diese dem Menschen eingeschrieben, als machten sie ihn aus, statt wirklich hinzusehen, mit wem wir es zu tun haben. Damit werden wir nicht nur dem einzelnen Menschen nicht gerecht, wir laufen auch Gefahr, Fronten zu bilden zwischen uns hier und unserer Kategorie, und denen da mit ihrer. Dass so keine wirkliche Begegnung von Mensch zu Mensch möglich ist, liegt auf der Hand. Und genau diese brauchen wir, wenn wir wirklich als Menschen unter Menschen leben wollen.
Es gab mal ein Lied „Das ganze Leben ist ein Spiel, und wir sind nur die Kandidaten“ – irgendwie hat das was für sich. Rollen sind wichtig in gewissen Umfeldern, damit man zugeordnet werden kann. Als Arzt übernimmt man für die Zeit des Tätigseins die Rolle des Arztes. Beim Lehrer dasselbe. Oft fällt dann im Privaten auf, dass die Rolle nicht ganz abgelegt werden kann (vornehmlich bei Lehrern). Um ernst zu bleiben: So gesehen sind Rollen wichtig. Noch wichtiger ist aber, zu erkennen, dass es Rollen sind, die an- und abgestreift werden können. Und darunter liegt was. Im Indischen gibt es die schöne Begrüssung „Namaste“. Das Göttliche in mir grüsst das Göttliche in dir. Damit ist genau dieser Kern gemeint, der uns tief in uns ausmacht – und auch verbindet.Und dieser Kern will gesehen werden. Von dir. Von mir. Gegenseitig. Und von jedem bei sich selbst.
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Buchtipp: Kwame Anthony Appiah: Identitäten. Die Fiktion der Zugehörigkeit, Hanser Berlin, München 2021.
Da ist „es“ wieder: deine theoretische „Abhandlung“ skizziert meine frische, praktische Erfahrung. Beeindruckend; auch die Feststellung, in wie viele Kategorien man sich selbst einordnen kann, Rollenspiel Leben. Liebe Grüße
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Es gab mal ein Lied „Das ganze Leben ist ein Spiel, und wir sind nur die Kandidaten“ – irgendwie hat das was für sich. Rollen sind wichtig in gewissen Umfeldern, damit man zugeordnet werden kann. Als Arzt übernimmt man für die Zeit des Tätigseins die Rolle des Arztes. Beim Lehrer dasselbe. Oft fällt dann im Privaten auf, dass die Rolle nicht ganz abgelegt werden kann (vornehmlich bei Lehrern 😉 ). Um ernst zu bleiben: So gesehen sind Rollen wichtig. Noch wichtiger ist aber, zu erkennen, dass es Rollen sind, die an- und abgestreift werden können. Und darunter liegt was. Und das will gesehen werden. Von dir. Von mir. Gegenseitig.
Sei lieb gegrüsst.
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Ich nenne es Seele! Und Lehrer: d’accord 🥳😂
Was für ein Glück, dass wir Philosophin und Pädagogin sind und Frauen und Dichterinnen und Freundinnen und Geliebte und und und … hab einen guten Tag, Sandra!
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Den wünsche ich dir auch!
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Sandra: „Ich wollte Philosophie studieren“
Vielleicht hast du herausgefunden, daß das nicht möglich ist?
Das Philosophieren können wir so wenig studieren
(im Sinne von: Nachschlagen, was andere dazu zu
sagen haben), wie wir das Lieben studieren können.
In beiden Bereichen handelt es sich eher um ein Sichein-
stimmen in die Frequenz der Liebe oder der Weisheit.
🌻
Zitat: „Schon Sartre sagte, dass die Existenz der Essenz vorausgeht“
Auch Sartre hatte nicht nur lichte Momente.
Die Essenz bringen wir mit. Sie ist schon da.
Was mit der Inkarnation kommt, sind der Körper,
später der Verstand und der „Emotionalkörper“
und obendrauf dann noch die Konditionierungen.
Die Konditionierungen haben aber keine Allgewalt.
Das Bewußtsein bestimmt, wie viel davon wir unser
„Eigen“ nennen, womit wir uns identifizieren werden.
Wir sind nicht Körper mit Geist,
sondern Geist mit einem Körper.
🌻
Sandra: „…wenn es darum geht, Menschen entgegenzutreten“
Das Wort entgegentreten hat es in sich: Entgegen und treten.
Selbst das Wort Begegnung hat etwas von Gegnerschaft.
🌻
Sandra: „…sehen wir sie oft mehr als Vertreter dieser Gruppe und weniger als einzelnen Menschen“
Das kann man aber ganz gut lernen, die Vorurteils-Schubladen nicht fest zu verschließen – indem man zum Beispiel nur auf das schaut, was jemand gerade JETZT sagt und nicht auf das, was er vermeintlich ist oder schon mal gesagt hat.
Es ist eine Frage der Bewußtheit und damit der
Reife…, ob und wie weitgehend das möglich ist.
🌻
Sandra: „Dass so keine wirkliche Begegnung von Mensch zu Mensch möglich ist“
Die gibt es ja auch gar nicht, die „wirkliche“ Begegnung, in dieser Frequenz.
Was es aber gibt, ist die weit verbreitete Illusion von „wirklicher Begegnung“.
Wie können sich eine Vorstellung von sich selbst mit einer Vorstellung von sich selbst begegnen, wobei auch noch der eigene Vorstellung vom jeweils Anderen anwesend sind? Von den Bedürftigkeiten, Erwartungen und Empfindlichkeiten der sich Begegnenden mal abgesehen.
In der körperlichen/intellektuellen/emotionalen Peripherie
kann es keine wirkliche Begegnung geben, aber in unserem
Kern… sind wir nicht einmal getrennt und waren es noch nie.
Wir sind Einheit, die sich als
Getrenntheiten identifizieren.
Fröhlichen 🍁
Herbstbeginn!
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Ich lasse das alles so stehen und wirken – auf dass sich jeder seines dazu denke. Die liebe Grüsse
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