„Was ist das Eine, das alle anderen Tugenden in sich fasst? Mitgefühl.“ (Buddha)
Mitgefühl. Ich fühle, was du fühlst. Nicht im Sinne eines Leidens, wenn du leidest, sondern im Sinne der Fähigkeit, dein Leiden von tiefstem Herzen zu verstehen. Wenn ich mit jemandem mitfühle, höre und sehe ich ihn in seinem Leid, ich nehme ihn als den wahr, der er ist, mit dem, was er fühlt. Nur schon das Gefühl, gehört, gesehen zu werden, nimmt oft einen Teil der Schwere des Leids.
Manchmal sehen wir Menschen in ihrem Sein und Tun und be- oder verurteilen sie dafür. Dies ist ein Zeichen für fehlendes Mitgefühl, was nicht heisst, dass es uns generell an Gefühlen mangelt. Fehlendes Mitgefühl ist ein Zeichen dafür, dass wir nicht bereit sind, den eigenen Standpunkt zu verlassen, um die Welt aus den Augen eines anderen zu sehen. Diese Bereitschaft aber ist nötig, wollen wir mit anderen, die nicht so sind, wie wir sie gerne hätten oder es von ihnen erwarten, zusammenleben wollen.
Nun kann ich mich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass ich selbst richtig, die anderen also falsch sind. Ergo müssen sich die anderen ändern, oder aber ich schliesse sie aus dem Kreis derer, die sind, wie sie sein sollen, aus. Nur: Wäre ich dazu in der Lage, würde ich für einen Moment innehalten und mich fragen, wie es denen gehen muss, die ausgeschlossen werden, nur weil sie sind, wer und wie sie sind? Wie würde ich mich fühlen im gleichen Fall? Durch dieses Hineinfühlen in den anderen entsteht Mitgefühl und damit eine Verbindung zwischen Menschen.
Mitgefühl ist zentral im Buddhismus. Mitgefühl verbindet Menschen als lebende Wesen, als Gleiche unter Gleichen trotz ihrer Unterschiedlichkeit. Mitgefühl basiert auf Wertschätzung, auf dem Wunsch, dass alle Lebewesen frei von Leid sein mögen. Wenn wir uns das wünschen, werden wir uns hüten, anderen Leid zuzufügen, im Gegenteil: Wir werden alles versuchen, Leiden zu vermeiden oder ihm ein Ende zu setzen, so es in unserer Macht liegt.
Umfassendes Mitgefühl wertet nicht. Es sortiert nicht aus. Es weiss, dass jeder Mensch glücklich sein will, dass jeder Mensch frei von Leid sein will. Egal, wo er geboren wurde, welche Sprache er spricht, welche Religion er zu seiner erklärt oder welche Hautfarbe er hat. Auch der unliebsame Nachbar hat tief drin die gleichen Sehnsüchte wie wir. Ebenso der grantige Chef oder die schrullige alte Dame im Park. Keiner steht wohl am Morgen auf und denkt: „Ich will heute mal ein Ekel sein, egal, ob mich die Menschen mögen.“ Wenn wir uns dieses vor Augen halten, gelingt es vielleicht, unser Mitgefühl auch auf die auszuweiten, denen wir im ersten Moment eigentlich negativ gegenüberstehen. Das heisst nicht, dass wir fortan beste Freunde sein müssen, aber es ist der Ausdruck einer Wertschätzung des Menschen als Menschen in seinem So-Sein und damit ein Anfang für ein gelingendes Zusammenleben von Verschiedenen als Gleichwertige und Gleichwürdige. Und das wäre etwas, das ich mir für mich und für diese Welt wünschen würde.