Wir werden in eine Welt geworfen, die wir uns nicht ausgesucht haben und die nicht auf uns gewartet hat. Wir wachsen in diese Welt hinein, lernen, wie sie funktioniert, was von uns erwartet wird. Je nach Kultur und Zeit und sozialem Umfeld sehen diese Erwartungen anders aus, was überall gleich ist: Wir sollten sie erfüllen. Doch was, wenn sich diese Erwartungen nicht passend anfühlen? Was, wenn wir es nicht schaffen, sie zu erfüllen? Was, wenn wir uns fremd in dieser Welt fühlen, die doch die unsere ist, entfremdet von der Welt durch unser und in unserem Sein?
„Ob Leben gelingt oder misslingt, hängt davon ab, auf welche Weise Welt (passiv) erfahren und (aktiv) angeeignet oder anverwandelt wird und werden kann…Zentral ist die Idee einer Differenz zwischen gelingenden und misslingenden Weltverhältnissen, die sich nicht am Ressourcen- oder Verfügungsreichtum und auch nicht an der Weltreichweite festmachen lässt, sondern am Grad der Verbundenheit mit und der Offenheit gegenüber anderen Menschen (und Dingen).“ *
Eine Welt, die wir als für uns passend wahrnehmen, muss etwas in uns zum Klingen bringen. Wir müssen eine Verbindung wahrnehmen, etwas, an das wir mit unserem Sein anknüpfen können. Wir müssen in unserem So-Sein die Welt als etwas erfahren, in dem wir aufgehoben sind, das uns etwas angeht, weil sie zu uns spricht.
„Subjektivität [entsteht] immer schon aus und in einer Bezogenheit auf Welt… Subjekte erfahren sich als in eine Welt gestellt, die sie etwas angeht, und dieses ‚Angehen‘ ist von positiver oder negativer Bedeutsamkeit. Die Dinge sprechen uns an oder sagen uns zu – oder sie stossen uns ab; wenn uns etwas nichts sage, so impliziert dies, dass wir keine Beziehung dazu haben.“*
Wir leben als Individuen nie unabhängig von der Welt, unser Selbst bestimmen wir immer relational zur Umwelt. Egal, ob uns diese gefällt oder eher abstösst, wir setzen uns dazu in Bezug und schaffen aus dieser Beziehung unser Selbstbild. Diese Bestimmung ist allerdings nicht für immer festgesetzt, sie ist nicht in Stein gemeisselt, sondern sie kann sich über die Zeit auch verändern.
„Weltbeziehungen sind stets dynamisch, sie konstituieren sich in und durch die prozesshaften Begegnungen von Subjekt und Welt.“*
Das hängt damit zusammen, dass sich die Welt verändert durch das, was tagtäglich in ihr vorgeht, aber auch, weil wir uns selber verändern – besonders stark im Heranwachsen, aber auch später noch. Je nach Lebensabschnitt befinden wir uns an einer anderen Stelle in unserem Sein und damit auch in einer anderen Rolle in der Welt, die uns umgibt. Einerseits haben wir andere Bedürfnisse an diese je nach Lebensplan, andererseits hat auch sie andere Erwartungen an uns. Dieses Zusammenspiel von Erwartungen und Anpassungen, von Beziehungsgefügen ist ein dynamisches, aber in dieser Dynamik kontinuierlich wandelndes.
Die Frage nach dem eigenen Sein, nach dem gelingenden Leben, kann nie im luftleeren Raum gestellt werden. Wir sind als soziale Wesen in eine Welt und ein menschliches Umfeld eingebettet, mit dem wir in einer irgendwie gearteten Beziehung stehen. Einerseits prägt uns dieses Umfeld, andererseits wollen wir uns in diesem Umfeld behaupten als die, die wir sind. Wir wollen ein Leben leben, das dem entspricht, das wir für uns als die, als die wir uns sehen, passend erachten.
Fühlen wir uns mit diesem Lebensentwurf nicht mehr zur Welt passend, kommt es zu einem Gefühl von Entfremdung. Zwar können wir uns nicht aus der Beziehung zu dieser Welt lösen, doch wir können sie auch nicht leben. Wenn wir uns zu sehr in die Welt einfügen, kann es dazu führen, dass wir uns von uns selbst entfremden. Ein gelingendes Leben kann also nur dann stattfinden, wenn zwischen uns und der Welt eine Beziehung besteht, die lebt.
„Die Vorstellung, dass Menschen selbstinterpretierende Wesen sind, impliziert, dass ihre Weltbeziehungen niemals schlechthin gegeben sind, sondern in individuellen und kulturellen Deutungsprozessen stetig artikuliert, re-konstituiert, verhandelt und transformiert werden. Sie bedeutet zugleich, dass Selbstinterpretation immer und notwendig auch Weltinterpretationen sind und umgekehrt.“*
Nun ist die Welt nicht einfach gesetzt im Sinne einer unveränderlichen objektiven Grösse. Die Welt ist immer auch das, was wir in ihr sehen, wie wir sie deuten, interpretieren. Insofern schaffen wir uns unsere Welt zu einem Stück selber durch die Perspektive, die wir ihr gegenüber einnehmen. Um also zu einem gelingenden Leben innerhalb der Welt um uns zu gelangen, bedarf es eines offenen Blickes auf diese Welt. Wir müssen bereit sein, uns von der Welt berühren zu lassen. Wir müssen sie mit all ihren Möglichkeiten und von verschiedenen Seiten betrachten und nach Antworten suchen auf unser Fragen an das Leben und die Welt. Wo finden wir einen Resonanzrahmen, wo die Möglichkeit, uns mit unseren Bedürfnissen wahr- und angenommen zu fühlen? Ebenso müssen wir offen bleiben gegenüber den Bedürfnissen der Menschen um uns und auf diese antworten. Erst durch dieses gegenseitige In-Beziehung-Treten, das sich als gegenseitige Anerkennung*** äussert, wird ein gelingendes Leben als soziale Menschen in einer gemeinsamen Welt möglich.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass für ein gelingendes Leben zuerst ein Selbstbild nötig ist, welches wir durch unseren Weltbezug und unsere Bedürfnisse für unser in der Welt Sein festlegen. Zweitens bedarf es eines aktiven In-Beziehung-Tretens, indem wir nach Antworten suchen und im Gegenzug auch auf die Welt antworten, so dass ein Resonanzraum entsteht. Durch diese Interaktion des gegenseitigen Aufeinander-Beziehens, durch die gegenseitige Anerkennung, verhaften wir uns in der Welt als selbstbestimmte Wesen, die gemeinsam mit anderen als je eigenständige und selbstbestimmte Wesen an dieser Welt partizipieren.
*Zitate aus: Hartmut Rosa, Resonanz
**mehr zum Thema Entfremdung: Rahel Jaeggi, Entfremdung
***mehr zum Thema Anerkennung: Axel Honneth
Buchtipps zum Thema
- Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
- Rahel Jaeggi: Entfremdung, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
- Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
Sandra: „In der Welt zu Hause sein“
Klingt nach einem unerfülltem Wunsch.
Jesus soll mal gesagt haben: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Ich habe den Verdacht, daß das nicht nur für ihn zutrifft. Die Vergänglichkeit erinnert uns täglich daran, daß unser Erdenleben keine „feste Burg“ ist, sondern eher wie Pappmaché im Regen anfühlt.
Das Leben ist nur eine
flüchtige Erscheinung.
Wir sind hier nicht zuhause.
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Sandra: „Wir werden in eine Welt geworfen, die wir uns nicht ausgesucht haben“
Wenn das mal nicht ein Irrtum ist, Sandra. 😊
Irgendwann konnte ich mich an eine Szene erinnern, in der er darum ging, in dieses Leben zu gehen oder nicht. Ich entschied es zusammen mit der gesamten Existenz. Das „ich“ und die Existenz waren aber nicht zwei, sondern eine EINheit.
Seit dieser Erinnerung war mir immer wieder schnell klar, daß ich auch die Umstände, in die ich via Geburt „geworfen“ wurde, (mit-)bestimmt habe. Also lohnt es sich nicht, über irgend etwas länger als einen Moment lang zu klagen, das verdirbt bloß die Laune. 😉
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„In der Wahl seiner Eltern kann
man nicht vorsichtig genug sein.“
― Paul Watzlawick
Auch wenn es scherzhaft klingt…
Das Beteiligtsein an einer Entscheidung nicht zu erinnern,
heißt noch lange nicht, Opfer dieser Entscheidung zu sein.
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Sandra: „Wir wachsen in diese Welt hinein, lernen, wie sie funktioniert, was von uns erwartet wird. Je nach Kultur und Zeit und sozialem Umfeld sehen diese Erwartungen anders aus“
Diesen Teil nennen wir Konditionierung.
In meinem Fall eine katholisch-autoritäre.
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Sandra: „Erwartungen … Wir sollten sie erfüllen.“
Eine Zeitlang war ich entsprechend „brav“ und
wollte alles „richtig“ machen. Zum Teil aus Angst.
Mit der Pubertät kam die Revolte und mit ihr
zwangsläufig… die geistige Eigenständigkeit.
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Sandra: „Erwartungen … Was, wenn wir es nicht schaffen, sie zu erfüllen?“
Wenn wir Erwartungen erfüllen wollen, hat das Gründe:
◾ Angst (vor Verletzung)
◾ Bedürftigkeit (nach Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit, Zuwendung…)
In diesen Fällen passen wir uns an.
Wenn wir aber etwas aus
◾ Liebe tun (also ohne etwas zu wollen), sind wir frei.
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Jemand sagte mal:
„Wir sind nicht auf der Welt,
um Erwartungen zu erfüllen.“
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Sandra: „Was, wenn wir uns fremd in dieser Welt fühlen, die doch die unsere ist, entfremdet von der Welt durch unser und in unserem Sein?“
Dann haben wir eine gewisse Distanz zu ihr. Wie der Schauspieler, der sich mitten im Spiel bewußt ist, daß es sich bloß um ein kurzes Stück handelt, in dem wir versuchen, unsere Rolle über die Bühne zu bringen.
Von unserem „Sein“ können wir gar nicht getrennt oder entfremdet sein.
Friedrich Nietzsche spricht poetisch, aber wahr, wenn er sagt:
Wir können in keinen Abgrund fallen
― außer in den der Hände Gottes.
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Ich stimme Dir zu in Deinen Gedanken und möchte sie ergänzen durch die Frage: Wie viele Welten gibt es. Ökologisch und geografisch haben wir nur eine Welt. Stimmt das?
Sind Welt und Erde identisch? Meine Welt ist für mich meine Wirklichkeit, deren Architekt ich bin. Ich konstruiere sie so, dass sie Deinen Forderungen entspricht (Eine Welt, die wir als für uns passend wahrnehmen, muss etwas in uns zum Klingen bringen. Wir müssen eine Verbindung wahrnehmen, etwas, an das wir mit unserem Sein anknüpfen können. Wir müssen in unserem So-Sein die Welt als etwas erfahren, in dem wir aufgehoben sind, das uns etwas angeht, weil sie zu uns spricht.)
Nur ich selber kann in meinem Verständnis in meiner Welt etwas zum Klingen bringen. Ich bin für mein Aufgehobensein zuständig, niemand sonst. Der Gedanken von mehreren Welten hat den Vorteil, dass ich sie, wenn ich sie nicht zum Klingen bringen kann, auch verlassen kann, um in eine neue oder andere Welt einzutauchen.Es gäbe auch keine falschen oder richtigen Welten sondern nur für mich geeignete oder ungeeignete.
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Ich denke schon, dass es eine Welt ist, so gesehen, und doch teilt sie sich auf in verschiedene Welten, die oft wenig Verbindung haben miteinander. Ein Kind, das in die Welt in den Favelas Brasiliens geworfen wird, lernt eine andere Welt kennen als eines, das an der Upperstreat in New York auf die Welt kommt. Und beide müssen sich in ihren Welten zurechtfinden. Und wer weiss, wie sie das tun. Von aussen betrachtet würde man beim Amerikaner wohl mehr Möglichkeiten, Architekt zu sein, annehmen als beim Brasilianer. Aber es könnte auch anders sein.
Ob es keine falschen Welten gibt? Ob das auch für einen Unberührbaren in Indien gibt? Er hat kaum eine Chance, seine Welt zu verlassen. Das System lässt es nicht zu. OB wir das ändern können? Wer könnte es? Und wie?
Wenn ich so drüber nachdenke, komme ich doch zum Schluss, dass es verschiedene Welten gibt und nicht alles sind Welten, die für irgendjemanden geeignet sein könnten – sein sollten…
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