Nicole Seifert: Frauenliteratur: Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt

Inhalt

«Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen ist der Normalfall in Kultur und Gesellschaft. Vergessen geschieht lautlos, unspektakulär und allüberall. Erinnern ist demgegenüber die unwahrscheinliche Ausnahme, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht.» (Aleida Assmann)

Nicole Seifert hat es sich in diesem Buch zur Aufgabe gemacht, die Ungleichverteilung der Aufmerksamkeit gegenüber Literatur von Frauen und Männern aufzudecken. Sie beleuchtet einerseits die Verlagsprogramme, andererseits die Feuilletons von Zeitungen und Zeitschriften sowie verschiedene Literaturkanons, darunter auch den der Schulen und Universitäten. Die Ergebnisse sind frappant: Frauen sind nicht nur stark untervertreten in allen Bereichen, die Behandlung von Literatur von Frauen in den unterschiedlichen Medien erfolgt ebenfalls in reduzierter Form (weniger umfangreich und oft mit dem Schwerpunkt auf Attributen der Autorin statt auf dem Werk selber).

«Damit Künstlerinnen und ihre Werke in Erinnerung bleiben, müsste demnach aktiv etwas dafür getan werden.» (Nicole Seifert)

Es ist wichtig, diese Missstände mal zu durchleuchten und ins Bewusstsein zu bringen, denn nur so kann sich etwas ändern.  

Weitere Betrachtungen
Nicole Seifert hat sich vorgenommen, ein Jahr nur noch Literatur von Frauen zu lesen. Es wurden drei daraus und das Vorhaben, das vorliegende Buch zu schreiben.

«Es ist ein sich selbst erhaltender Kreislauf – und die Frage, wer dafür verantwortlich ist, führt nicht weiter. Gegen strukturelle Probleme helfen nur strukturelle Veränderungen, und die sind nur zu erreichen, wenn genug Menschen aus den unterschiedlichen Bereichen ein Interesse daran haben oder sich für die Benachteiligten einsetzen – in den Verlagen, in den Redaktionen, in den Kultusministerien. Und auch Leser*innen und Konsument*innen können dazu beitragen.»

Nicole Seifert hat einen gut fundierten und breit abgestützten Bericht darüber geschrieben, wie Frauen in der Literatur vergessen, ignoriert und abwertend behandelt werden. Sie räumt dabei mit landläufig ins Feld geführten Argumenten auf. Zwar stimmt es, dass früher weniger Frauen geschrieben haben als Männer, aber selbst damals gab es viele, die Erfolg hatten und dann in Vergessenheit gerieten. Die Gründe für das Vergessen sind wohl vielfältig, sicher aber lag es nicht an der mangelnden Qualität des Geschriebenen. In der heutigen Zeit stimmt das Argument noch weniger, gibt es doch viele schreibende Frauen, welche durchaus qualitativ hochstehende Literatur schreiben. Und doch fristen Sie ein Dasein in der Wahrnehmung im unteren Drittel der Berücksichtigung und damit Sichtbarkeit.

Persönlicher Bezug
Ich habe Literatur studiert und lange Jahre keinen Gedanken darauf verwendet, ob ein Buch von einem Mann oder einer Frau geschrieben worden ist. Die Mehrzahl der von mir gelesenen Bücher während der Schule und dem Studium waren von Männern (in der Kindheit war es anders) – das fiel mir auf, als ich bewusst hinschaute. Und ja, als ich nachdachte, wären mir einige Frauen in den Sinn gekommen, die zu lesen sich gelohnt hätte. Als ich mich weiter mit der Thematik befasste, stiess ich auf mir unbekannte Namen, die ich nach eigener Lektüre als lesenswert und zu Unrecht vergessen anerkennen musste.

Das Thema ist mir wichtig geworden, wie mir das Thema Frausein in unserer Gesellschaft immer wichtiger wird. Ich finde dieses Buch aus diesem Grund wertvoll und bedenkenswert, hoffe, dass es Menschen anstösst, sich aktiv einzusetzen. Es geht mir dabei nicht um einen Feldzug gegen die Literatur von Männern, sondern es ist nötig, das Bewusstsein für einen Missstand zu wecken.

Dass sich dieser Missstand von selbst irgendwie ausgleichen wird in der heutigen Zeit, ist ein Irrglaube, den man in der jüngeren Vergangenheit gut nachweisen kann. Selbst wenn dann und wann der Ruf nach einer ausgeglicheneren Verteilung von Frauen und Männern in Literaturkanons aufkam, wurde dies selten wirklich ausreichend umgesetzt. Der Wurm liegt in der Gesellschaftsstruktur, welche über Jahrzehnte und mehr patriarchische Mechanismen förderte und in den Köpfen festsetzte. Das wächst sich nicht einfach aus, daran muss aktiv gearbeitet werden.

Fazit
Ein wichtiges Buch. Nicole Seifert liefert einen fundierten, breit abgestützten Überblick auf die Situation der Literatur von Frauen und deutet damit auf einen Missstand hin, der behoben werden sollte. Sehr empfehlenswert.

Autorin
Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und gelernte Verlagsbuchhändlerin und arbeitet in Hamburg als Übersetzerin und Autorin. Ihr Blog »NachtundTag«, der sich ausschließlich mit Schriftstellerinnen beschäftigt, wurde 2019 mit dem Buchblog Award von Netgalley und dem Börsenverein des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. 

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ Kiepenheuer&Witsch; 2. Edition (9. September 2021)
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
ISBN-Nr.: ‎ 978-3462002362

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5 Kommentare zu „Nicole Seifert: Frauenliteratur: Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt

  1. Das ist alles noch viel unerträglicher in der Philosophie. Es ist beinahe kaum möglich, jenseits der Hochbekannten, also Hannah Arendt, Judith Butler, Julie Kristeva, Simone de Beauvoir, Simone Weil, Luce Irigaray Informationen über weitere zu finden. Ja, es gab Hildegard von Bingen, aber wünschte mir hilfreichere Kompendien, um Philosophinnen zu finden. Ist mir nur als Gedanke gekommen, als ich den Beitrag las. Hab bestimmte viele wichtige vergessen bei der Aufzählung … für Vorschläge wäre ich dankbar.

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    1. Wie wahr, das fiel mir auch auf. Im Studium kamen bei mir Philosophinnen praktisch nicht vor, Martha Nussbaum habe ich selber gelesen, Hannah Arendt war glaube ich auch nie Thema, Simone de Beauvoir eh nicht, die wird ja oft gar nicht als Philosophin gesehen (zu Unrecht) oder wenn, dann als Anhängsel von Sartre (ebenfalls zu Unrecht).

      Ich habe grad gestern nach Büchern über Philosophinnen gegoogelt, sie haben mich alle nicht wirklich überzeugt, aber es gibt ein paar wenige. Immerhin.

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  2. Ehrlich gesagt habe ich meine Bücher noch nie nach dem Geschlecht der Autorin oder des Autoren ausgewählt, ausser wenn es um geschlechtsspezifische Themen ging, wo mich die unterschiedlichen Sichtweisen interessierten. Aber in eine Buchhandlung zu gehen und dort nach dem Geschlechterkriterium Bücher zu suchen, kam mir nie in den Sinn. Dass mich Hannah Arendt mehr interessiert als Martin Heidegger, liegt nicht am unterschiedlichen Geschlecht sondern meiner Faszination an ihrem Engagement, ihrem Tiefgang der Gedanken, ihrer Ehrlichkeit und ihrer Plausibilität. Ihr Sein in ihrer Zeit überzeugt mich mehr als Heideggers Sein und Zeit. Allerdings hat mich Dein Text angeregt, der Thematik etwas Aufmerksamkeit zu widmen.

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    1. Es ging mir bis vor kurzem wie dir. Für Hannah Arendt hatte ich schon lange eine Schwäche, was aber nie mit ihrerm Geschlecht zu tun hatte. Auch ein paar andere Philosophinnen habe ich gelesen (Martha Nussbaum – sehr interessant mit ihren Gedanken zu einer humanistischen Bildung und ihren Theorien zur Gerechtigkeit, Judith Butler mit ihrer Geschlechtertheorie vor vielen Jahren) und halt die Lyrikerinnen (Strittmatter, Kaleko, Bachmann, Lasker-Schüler, Domin, etc).

      Gerade habe ich verschiedene Philosophie-Überblickswerke durchgeschaut: Kaum eine Frau, in einer ein kurzer Abschnitt über Simone de Beauvoir, in der anderen nichts. Das finde ich dann halt doch auch befremdlich – und es war auch mir nie so bewusst.

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