Ausgesetzt
In einer Barke von Nacht
Trieb ich
Und trieb an ein Ufer.
An Wolken lehnte ich gegen den Regen.
An Sandhügel gegen den wütenden Wind.
Auf nichts war Verlaß.
Nur auf Wunder.
Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht,
Trank von dem Wasser das dürsten macht.
Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen,
Fror ich mich durch die finsteren Jahre.
Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.*
Ein trauriges Gedicht, das von der Vertriebenheit, von der Fremdheit spricht. Das lyrische Ich befindet sich an einem Ort, an dem es nicht zu Hause ist, an einem Ort, den es nicht selber gewählt, sondern an welchem es ausgesetzt wurde. Es ist ein düsterer Ort, ein Ort der Dunkelheit, dafür spricht die Nacht. Die Barke deutet darauf hin, dass nicht wirklich auf ein Ziel hin treibt, mastlos, antriebslos liegt sie im Wasser, bis dieses sie an einem Ort an Land spült.
Die Welt selber zeigt sich von ihrer harten Seite mit Regen und Wind. Alle Orte, wo das Ich Zuflucht erhofft, zeigen sich als wenig vertrauenswürdig. Sie geben nach, sie geben nicht den gewünschten Schutz. Es gibt nur eines, was noch hilft: Ein Wunder.
Die Sehnsucht nach diesem Wunder ist gross, und es besteht Hoffnung. Beides wird geschürt, denn es ist alles, was ist in dieser Fremde, in diesem unbekannten Land. Die Fremdheit und die Einsamkeit lassen Kälte aufkommen, nichts ist da, was wärmt.
In dieser Kälte, Dunkelheit und Fremdheit gibt es nur eines, das Zuflucht verspricht: Die Liebe. Sie ist der Hort, sie ist, worauf sich bauen lässt. In der Liebe liegt ein Gefühl von Heimat, von Aufgehoben-Sein.
Erst noch ohne Punkt und Komma gleitet das Gedicht dahin gleich dem Treiben der Barke auf dem Wasser. Dann die Versuche, Schutz zu finden, die Orte als einzelne Zeilen durch Punkte getrennt. Das Fazit, dass es vergebens ist, ebenso abgesetzt. Man spürt förmlich, wie bei jedem Ich eine Stagnation, eine Resignation steht. Es folgen neue, hoffnungsvolle Versuche, fast atemlos über zwei Zeilen hinweg. Und wieder ein Punkt, an dem die Hoffnung stockt, gefolgt von der Bilanz und wohl auch Hoffnungslosigkeit, das Gesuchte, Erhoffte im Aussen zu finden.
Was bleibt, ist die Liebe.
Zur Autorin
Mascha Kaleko war eineVertriebene und Heimatlose. Am 7. Juni 1907 als Tochter eines russischen Vaters und einer österreichischen Mutter in Chrzanow geboren, floh die Familie 1914 vor den Pogromen nach Westen. 1918, der Vater war grad aus Gefangenschaft (in die er wegen seiner russischen Staatsbürgerschaft gekommen war) freigekommen, zog Mascha mit ihren Eltern nach Berlin, wo sich Mascha endlich zu Hause fühlte. Nach der Schule begann sie eine Arbeit im Büro, belegte daneben Abendkurse an der Universität (das gewünschte Studium versagte ihr der Vater) las daneben viel und schrieb Gedichte. Sie heiratete 1928 den Philologen Saul Kaléko, veröffentlichte ein Jahr später erste Gedichte, 1933 ihren ersten Gedichtband und feierte grosse Erfolge, die 1935 ein jähes Ende nahmen, als das Regime ihre jüdische Identität bemerkte.
1935 lernte sie den Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver kennen. Als bald darauf das gemeinsame Kind unterwegs war, wollte sich Mascha scheiden lassen, erst ohne Erfolg, ihr Mann willigte nicht ein. Erst 1938 kam es zur Scheidung, die zweite Hochzeit und die Emigration in die USA. Mascha fühlt sich entwurzelt, vermisst die Sprache. Erst 1955 besucht Mascha erstmals Deutschland. 1960 der nächste Ortswechsel, Mascha und Chemjo ziehen nach Palästine, wieder eine Fremde für Mascha, die ewig Heimatlose. Der Tod des Sohnes 1968 stürzt die beiden Eltern in ein tiefes Loch, Chemjo stirbt nach schwerer Krankheit 1973, lässt Mascha einsam und noch melancholischer zurück. Sie rafft sich nochmals auf, geht auf Reisen nach Deutschland, in die Schweiz, wo sie 1975 stirbt.
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[1] Zit. nach „Die paar leuchtenden Jahre“ © 2003 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München Suchergebnis | dtv
Mascha Kalekos Gedichte berühren mich immer wieder sehr
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Geht mir gleich
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Von allen Gedichten von Mascha Kaléko ist mir dies eines der liebsten. Danke dir! 🧡
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Sehr gerne, geht mir gleich.
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„Zur Heimat erkor ich mir die Liebe“ sagt es kurz und sehr, sehr treffend. Und ich selber mache meine Heimat wohnlich-schön und freue mich an der Heimat aller.
Vielen Dank für die guten Gedanken
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Zum niederknien schön. Musik von Einaudi dazu. Dann lohnt sich das mit den Tränen im Auge.
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Einaudi ist grossartig.
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