Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt
in euch? Was, wie der Klang der Narrenschellen,
um Beifall bettelt und um Würde wirbt,
und endlich arm ein armes Sterben stirbt
im Weihrauchabend gotischer Kapellen, –
nennt ihr das Seele?
Schau ich die blaue Nacht, vom Mai verschneit,
in der die Welten weite Wege reisen,
mir ist: ich trage ein Stück Ewigkeit
in meiner Brust. Das rüttelt und das schreit
und will hinauf und will mit ihnen kreisen …
Und das ist Seele.
Die Grundfrage hinter vielen von Rilkes Gedichten ist eine anthropologische: Was/Wie ist der Mensch? Oft verortet er ihn ganz explizit zwischen Engel (reines Geisteswesen, spirituelles Bewusstsein) und Tier (pure körperlichkeit, Instinktwesen). Zwischen diesen Polen sitzt der Mensch und er ist in diesem Dazwischensein ein Mängelwesen. Hier spricht er nur noch den Mangel an: Was der Mensch Seele nennt, deckt nie das volle, mögliche Bewusstsein ab, es ist ein begrenztes, kleines Etwas, das noch dazu auf das Falsche ausgerichtet ist.
«Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt in euch?»
Es finden sich Worte wie Narr, betteln, arm, alles ist nur gewollt, es wird nur um Würde geworben, sie wird nie erreicht, selbst das Sterben ist würdelos, es ist nur arm. Eine Seele, die den Namen verdiente, wäre grösser, sie würde über die Begrenzungen des irdischen Lebens hinausreichen:
«ich trage ein Stück Ewigkeit / in meiner Brust»
«und will hinauf und will mit ihnen kreisen…
Und das ist Seele.»
Rilke stellt eine grosse Frage, nämlich die, was wirklich ein gutes Leben ist, eines, das mit den richtigen Werten und Ansprüchen gelebt wird. Setzen wir nicht viel zu oft auf das falsche Pferd, indem wir uns von Beifall und Aufmerksamkeiten anderer abhängig machen, anstatt auf unseren eigenen Wert zu vertrauen und in uns zu ruhen?
Das Problem dabei ist doch oft, dass wir uns beweisen wollen, dass wir uns für die Anerkennung auch mal so verbiegen, dass wir selber gar nicht mehr wirklich durchscheinen, sondern nur noch als Erfüllung einer gefühlten Erwartung durchs Leben gehen: Nur: Wer kriegt dann den Beifall? Doch nicht wirklich wir, sondern nur das, was wir, um anderen zu entsprechen, vorgeben, zu sein. Das ist kein Leben aus vollem Herzen, das wir führen, das ist Bemühen darum, in fremdbestimmte Schubladen zu passen.
Ein Leben aus eigenem Antrieb, ein Leben aus vollem Herzen wäre ein Leben, in welchem wir für uns selber einstehen, an uns selber glauben, zu uns selber schauen. Damit nicht gegen andere, aber für uns. Nur so können wir Selbstwirksamkeit erfahren, nur so können wir authentisch leben, nur so können wir als der, der wir sind, geliebt werden. Und nur so ist es möglich, Eigenverantwortung zu übernehmen, da wir das, was wir tun, aus vollem Herzen tun, und dann auch dahinter stehen.
«Und das ist Seele»
😘
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