Mascha Kaleko: Rezept

Jage deine Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
Wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
Und der Anzug im Schrank.

Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
Wie wenig du brauchst.
Richte dich ein. 
Und halte den Koffer bereit.

Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muss, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
Sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.

Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
Geht es um dich oder ihn.
Den eignen Schatten nimm
Zum Weggefährten.

Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
Und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
Unter dem Dach im Einstweilen.

Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
Im großen Plan.
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.
(1966)*

Das Lyrische Ich ruft das Du an, gibt ihm Rat mit auf den Lebensweg. Es ist wohl der Rat, dessen es selber bedarf. Fast muten die Zeilen an wie eine Selbstbeschwörung. Ängste plagen und belasten das Leben. Es sind Ängste ums Überleben: Wird genug da sein? Reicht das, was ich habe, bis zum Ende? Was, wenn ich etwas verliere? Kann ich etwas abgeben, wenn jemand etwas von mir wünscht oder fordert? Mit solchen Fragen treibt sich das Ich um und sagt dann selber: Lass sie sein. Es wird alles reichen. Es ist genug. Schau genau hin: So viel brauchst du gar nicht. Wenn du helfen kannst, hilf, schlussendlich gehört nichts wirklich dir. Und irgendwann trittst du die letzte Reise an. Sei darauf vorbereitet.

Das Leben nimmt seinen Lauf und wir können wenig daran ändern. Statt aber zu geniessen, was gut ist, leiden wir durch unsere Ängste schon, bevor die Dinge eintreten, die wir fürchten. Wie hilfreich wäre hier eine gelassenere Sicht und vor allem auch das Wissen: Alles ist vergänglich, nicht nur Glück, auch das Leid. Die Botschaft erinnert an die Stoiker, allen voran Epiktet, welcher genau das als Rezept für ein gutes Leben anführt: Schaue auf dein Leben, schaue, was du in der Hand hast und was nicht. Und dann geh die Dinge, die du selber ändern kannst, an, akzeptiere die anderen. Sich über diese aufzuregen wird nichts verändern, ausser dass du dir selber Leid zuführst.

Es ist ein kleines Gedicht voller Moral und Lebensklugheit, ein Gedicht, das aufzeigen will, wie man auf eine gute und gelassene und zufriedene Weise durch das Leben kommt. Es ist ein Gedicht, das auf die Fallgruben des guten Lebens hinweist und Mittel an die Hand gibt, diese zu umgehen. Es ist sicher keine hohe Poesie, aber beschriebene Lebensklugheit. Es sind keine nie gehörten Ratschläge, aber man spürt aus jeder Zeile, dass sie aus dem eigenen fühlenden Herzen geschrieben ist, um andere fühlende Herzen zu finden und zu beruhigen (und das eigene wohl damit). Das macht dieses Gedicht so menschlich, so tröstlich.

_____
* zitiert nach „Die paar leuchtenden Jahre“ © 2003 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München – zu kaufen direkt beim Verlag: HIER

2 Kommentare zu „Mascha Kaleko: Rezept

  1. Ich liebe dies Gedicht.
    „Sei klug und halte dich an Wunder. Sie sind lang schon verzeichnet im großen Plan.“ –
    Es bleibt ja nichts weiter übrig als eben dies. Oder doch nicht? Wäre es nicht doch besser, die Glocke am Tor nicht zu flicken, sondern abzumontieren? Reicht es, den eigenen Schatten als Weggefährten zu nehmen? Ist der Mensch tatsächlich so hilflos, dass er annehmen muss, was kommt, als sei er ein Baum? Dem Baum droht die Hacke im Forst (Kafka), dem Menschen aber – dem droht der Verrat des Bruders? Die Angst vor der Angst ist so zermürbend!

    Gefällt 1 Person

    1. Das Gedicht erinnerte mich ein weig an das Gelassenheitsgebet:

      Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
      den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
      und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

      Gefällt 1 Person

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