Gleichheit und Gleichberechtigung sind Themen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel diskutiert wurden und für deren Erreichen (auf verschiedenen Ebenen) grosser Einsatz geleistet wurde. Dies sicher zu recht. Allerdings wurde im Zuge dieser Aktionen aus einem Bestreben, die Menschen als gleiche zu sehen, eine Gleichmacherei. Man verwechselte die Gleichheit des Menschen qua seines Mensch Seins mit einer Ausmerzung jeglicher Unterschiede, mit einer Gleichförmigkeit.
Erich Fromm definierte Gleichheit folgerichtig:
Gleichheit bedeutete, dass jeder von uns die gleiche menschliche Würde besitzt trotz aller bestehenden Unterschiede;*
Sie bedeutet aber nicht, dass wir alle gleich sind im Hinblick auf unsere Anlagen, Eigenschaften, Bedürfnisse und Möglichkeiten. Geht man davon aus, kommt man zum Schluss, dass für jeden Menschen die gleichen Bedingungen geschaffen werden müssen, jeder Mensch denselben Weg einschlagen müsse, da es nur einen richtigen gibt. Das zeigt sich schon in den heutigen Schulsystemen, welche nach dem 7G-Prinzip funktionieren:
Gleichaltrige Schüler, haben beim gleichen Lehrer im gleichen Raum zur gleichen Zeit mit den gleichen Lehrmitteln die gleichen Ziele gleich gut zu erreichen.**
Daraus resultieren ganz viele Kinder, welche mit der Schule nicht klar kommen, welche es nicht schaffen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, welche sogar zu Lernkranken oder Lerninvaliden werden. Viel besser wäre doch, Kinder (und eben auch Erwachsene) in ihrer Individualität wahrzunehmen und auf sie abgestimmte Wege zu entwickeln. In der Schule könnte man von 8V-Unterricht sprechen:
Wir gelangen auf vielfältigen Wegen mit vielfältigen Menschen an vielfältigen Orten zu vielfältigen Zeiten mit vielfältigen Materialien in vielfältigen Schritten und mit vielfältigen Ideen in vielfältigen Rhythmen zu gemeinsamen Zielen.***
Dahinter steht eine Haltung: Menschen sind Menschen und als solche individuell. Zwar haben sie als Menschen gleiche Werte und Rechte und sollen auch die gleichen Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und die gleichen Chancen, die auszuleben, erhalten.**** Das Ziel eines jeden Menschen ist wohl, das eigene Leben zu meistern und es als ein gutes Leben zu empfinden. In der Schule haben wir einen Lehrplan mit Kompetenzen, die am Schluss der Schullaufbahn auf jeder Stufe erreicht werden müssen. Das sind die gemeinsamen Ziele. Nur: Die Wege dahin sind individuell, da Individuen sie gehen.
Wenn wir nun wollen, dass alle gleich sind, auf gleiche Weise handeln, dies im gleichen Tempo tun sollen, und so weiter: Dann pressen wir Menschen in Schemen, in die sie schlicht nicht passen. Nur:
Was ist die Alternative?
Und:
Wie soll das umgesetzt werden?
Die erste Reaktion in Schulen ist meist: Das klappt bei uns nicht, das können wir nicht leisten.
Bezogen auf die Philosophische Praxis heisst das, dass es nicht einen Weg gibt, sich selber zu erkennen, die eigenen Probleme und Unsicherheiten zu analysieren und Haltungen, damit umzugehen, zu entwickeln. Jeder Mensch hat andere Fähigkeiten und Stärken, baut auf anderen vorhandenen Ressourcen und Möglichkeiten auf. Es gilt, den einzelnen Menschen sich mit seinen Stärken und Anlagen kennenzulernen und dann gemeinsam einen Weg zu finden, der dem einzelnen Menschen entspricht.
Das geht auch in einem System, konkret in einer Schule. Es bedingt aber eines Umdenkens. Aus einem distanzierten Lehrer-Schüler-Verhältnis heraus funktioniert das nicht. Es bedingt eine Beziehung, ein „In-Beziehung-Treten“, bei welchem sich beide Seiten öffnen und vertrauen. Es funktioniert nicht mit Frontalunterricht, wo einer das Wort hat, die anderen nur zuhören. Es funktioniert dann, wenn neue Wege beschritten werden, Schüler in ihrer Autonomie als Menschen und als Lernende wahrgenommen und unterstützt werden, Lehrer keine Befehlshaber sondern Begleiter sind.
Immer mehr Kinder leiden. Sie entwickeln Ängste, Depressionen, bringen sich gar um. Es gibt Lernverweigerer, Schulverweigerer, so genannte Schulversager. Kinder fallen durch die Netze. Die alten Netze scheinen zu grosse Löcher zu haben. Wir müssen neue knüpfen, um wieder die auffangen zu können, um die es geht: Die Kinder. Sie sind es, die unsere Gesellschaft in die Zukunft führen.
Wie wollen wir diese Zukunft haben?
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* Erich Fromm, Der kreative Mensch
** Peter Fratton, Lass mir die Welt, verschule sie nicht
*** Peter Fratton, Lass mir die Welt, verschule sie nicht
**** Es sei hier auf die Gerechtigkeitstheorie Amartya Sens und auch Martha Nussbaums verwiesen. Sie weiter auszuführen, würde den Rahmen hier sprengen.
Ich habe eine Meisterklasse eines Wortes erhalten, das viel gehandhabt wurde, ohne dessen Konzept klar zu kennen. Ihr Artikel ist sehr interessant. Es gibt keinen besseren Weg, um zu wissen, wie wir unser Leben beherrschen können. Vielen Dank für Ihr Wissen. Es tut uns sehr gut.
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Herzlichen Dank!
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Liebe Sandra
Ich finde es ausgezeichnet, wie Du Pädagogik und Philosophie verbindest. Wie viel weiter wäre diese Welt, wenn die Gesellschaftspolitik zwischen Gleichberechtigungund Gleichmacherei unterscheiden würde. Der häufig noch praktizierte 7G-Unterricht rührt bestimmt auch daher, dass auch und vor allem in den pädagogischen Hochschulen genau nach diesem Prinzip gelernt werden muss. Zudem haben die Studentinnen und Studenten oft auch als Schüler im Gymnasium nichts anderes erlebt. Da verwundert es nicht, dass sie sich die 8V-Begleitung nicht zutrauen. Ich glaube, es sollte an den pädagogischen Hochschulen weniger Fachdidaktik geben und mehr Philosophie.
Danke für den Beitrag und einen Gruss
Peter
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Lieber Peter
Den Menschen gibt es nur im Plural. Das sagte Hannah Arendt einmal und ich stimme ihr da zu. Wie sehr fordern wir im Alltag, in unserer Individualität angenommen zu werden? Und dann gehen wir dahin und bauen Systeme, die aus vielfältigen Menschen Einheitstiere machen? Die Rechnung kann für mich nicht aufgehen.
Indem wir Menschen gleichschalten, entziehen wir ihnen das Menschliche. Wir nehmen ihnen das, was sie als Menschen ausmacht, nämlich die Fähigkeit, selber Gründe und Wege für eigenes Verhalten zu finden – und dann danach zu handeln. Ich stimme dir zu: Ein genauer Blick auf die Menschen könnte durchaus helfen, Schule so zu gestalten, dass sie eben diesen Menschen zugute kommt – und damit aus vielfältigen Menschen eine tolerante, die Pluralität lebende Gesellschaft macht.
Herzliche Grüsse
Sandra
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Ein toller Beitrag!!! Als DaZ Lehrerin für Erwachsene ein aktuelles Thema. Liebe Grüße. Priska
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Ich danke dir! Witzig, das habe ich auch mal unterrichtet. Liebe Grüsse zu dir, Sandra
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