Bertolt Brecht (1898 – 1956)
Sonett Nr. 19
Nur eines möchte ich nicht: dass du mich fliehst.
Ich will dich hören, selbst wenn du nur klagst.
Denn wenn du taub wärst, braucht ich, was du sagst
Und wenn du stumm wärst, braucht ich, was du siehst
Und wenn du blind wärst, möchte ich dich doch sehn.
Du bist mir beigesellt, als meine Wacht:
Der lange Weg ist noch nicht halb verbracht
Bedenk das Dunkel, in dem wir noch stehn!
So gilt kein „Lass mich, denn ich bin verwundet!“
So gilt kein „Irgendwo“ und nur ein „Hier“
Der Dienst wird nicht gestrichen, nur gestundet.
Du weißt es: wer gebraucht wird, ist nicht frei.
Ich aber brauche dich, wie’s immer sei
Ich sage ich und könnt auch sagen wir.
(1939)
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Projekt „Lyrische Helfer“ – Ein Gedicht, das man lesen kann, wenn man liebt
Man kennt Brecht mehrheitlich anders, zynischer, politischer – aber: Er kann auch so. Eines meiner liebsten Liebesgedichte!
Liebe ist, wenn man auch in dunklen Stunden zueinander steht. Sie ist, wenn man sich dem anderen mit all seinen Schwächen zeigen kann und weiss, er ist da. Gebraucht zu werden und zu brauchen mögen unfrei machen, nur: Was nützt schon alle Freiheit, wenn man am Schluss alleine ist, ungeliebt, nicht liebend? Udo Jürgens sang dazu mal: „Du sagst, du bist frei, und meinst dabei, du bist alleine…“. Tief im Herzen wollen wir wohl alle das gleiche.