Der Mensch
Empfangen und genähret
vom Weibe wunderbar,
kömmt er und sieht und höret
und nimmt des Trugs nicht wahr;
gelüstet und begehret
und bringt sein Tränlein dar;
verachtet und verehret;
hat Freude und Gefahr;
glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
hält nichts und alles wahr;
erbauet und zerstöret
und quält sich immerdar;
schläft, wachet, wächst und zehret;
trägt braun und graues Haar,
und alles dieses währet,
wenn’s hoch kommt, achtzig Jahr.
Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder,
und er kömmt nimmer wieder.
1783 schrieb Matthias Claudius dieses Gedicht. Es umfasst das Menschsein von Geburt bis Tod, eine ganze Lebensspanne. 80 Jahre soll es dauern, dieses Leben und am Schluss endet es da, wo auch die Leben der Vorfahren endeten und die der Nachfahren enden werden. Eine zweite Chance gibt es nicht.
Der Mensch wird nicht gezeugt, er wird empfangen. Die Frau als Empfangende, der Mensch als Empfangenes. Nimmt man den Titel und die ersten zwei Zeilen, scheint der Mensch Mann zu sein, die Frau tritt nach dem Empfangen nicht mehr auf.
Sobald der Mensch auf der Welt ist, sieht und hört er viel und merkt dabei nicht, dass eigentlich alles Schein ist, er die Wahrheit dahinter nicht erblickt. Er sitzt Trugbildern auf, die er für die Wahrheit hält, sehnt sich nach Dingen, um die er weint, wenn er sie nicht kriegt.
Das Leben bietet Gefahren und auch Freuden, alles, was der Mensch baut, zerbricht irgendwann und trägt dabei die Ahnung des endgültigen Abschieds in sich, der jedem irgendwann blüht. So wird das Leben ein ständiges sich Quälen: Aufbau und Zerstörung, nichts währt ewig. In diesem Kreislauf nagt die Zeit an einem, hinterlässt ihre Spuren, bis man eines Tages das Zeitliche segnet. Für immer. Ein anderer Mensch wird irgendwo von einem anderen Weib empfangen, das Menschsein beginnt von neuem, alter Wein in neuen Fässern.
Claudius zeichnet hier eine trostlose Sicht des Lebens und des Menschseins. Sie trägt etwas Hilfloses, etwas Passives in sich. Die Dinge geschehen, man tut als Mensch nichts dazu: man wird empfangen, genährt, betrogen. Zwar versucht man immer wieder, dagegen anzugehen mit Begehren, Lüsten, Lehren. Man sieht alles nur immer wieder zerbrechen, so oft man auch wieder ansetzt. Dieses doch sehr quälende Leben dauert bis zum Tod, welcher endgültig ist.
So gesehen ist der Tod eine Erlösung. Das Gedicht von Claudius nimmt ihm seinen Schrecken, indem es aufzeigt, welches Leiden er beendet. Er zeigt, dass auch das Leben nicht frei gewählt ist, genauso wenig wie der Tod. Während man meist am Leben hängt, den Tod verdammt, kehrt er die Sicht um: Das Leben ist das Grausame, der Tod erscheint als erlösende Gnade.
Man kann das Gedicht als Umgang mit der Angst vor dem Tod sehen, als Relativierung der eigenen Sicht, als Perspektivenwechsel. Das Leben ist auch nicht nur negativ, es bietet Freude, Wachen, Aufbau – aber auch das Gegenteil. Nur der Tod ist endgültig. Dabei aber nicht grausam, sondern ein Zur-Ruhe-Kommen bei den Vorfahren.
Vielen Dank für Eure Interpretation des Gedichtes, der ich ihr in allem völlig zustimme. Auf eine Aspekt, nämlich wie unvollkommen und vorläufig unsere Weltsicht immer nur sein kann, möchte ich anhand meiner persönlichen Erfahrung besonders hinweisen.
Kürzlich wachte ich eines Morgens auf mit einpaar Fetzen dieses Gedichts in meinem Kopf. Mir war nicht einmal klar, dass sie von Claudius, einem meiner Lieblingsdichter, waren. Als ich dann das ganze Gedicht vor mir hatte, war ich, wohl unter dem Einfluss von “Me Too”, erstaunt, zu erkennen, wie gespalten Claudius‘ Weltbild unabweisbar sein musste. Obwohl er die Frau gleich zu Anfang rühmend hervorhebt dient ihren Wunderkraft laut Gedicht nicht der Menschheit sondern dem Manne.
Mir wurde deutlich, dass das Bemühen vieler Feministen unsere Sprache zu verändern (zu verhunzen) einen tiefen Sinn hat. Wie können wir die Welt als Ganzes erkennen, beschreiben und denken, wenn unsere Sprache von vornherein die Hälfte unserer Gesellschaft ausschliesst?
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Liebe Sandra Matteotti,
Herzlichen Dank, dass Sie das wunderbare Gedicht von Matthias Claudius vorstellen.
Ihre Interpretation darf kritisch betrachtet werden.
Der Leser- und natürlich auch die Leserin – spürt sofort, dass hier eine Frau interpretiert. Vermutlich eine feministische Leserin.
Ihre Kritik an Claudius erinnert an die Bibel in „gerechter Sprache“.
Ein vollkommen fehlgeleiteter Versuch, nachträglich zu richten, was die Autoren der Bibel niemals beabsichtigt hatten.
So auch bei Ihnen.
Sie vermissen „die Frau“ im Gedicht.
Vielleicht denken Sie daran, dass der Begriff „Mensch“ beide Geschlechter umfasst.
Kein Mensch käme auf die Idee zu kritisieren, dass „die Menschheit“ nur weiblich sei.
Das Wort „der Mensch“ hat in vielen indogermanischen Sprachen männliche und weibliche Bedeutung.
Mankind im Englischen bedeutet natürlich Mann und Frau gleichermaßen.
Kinder sind im übrigen auch gemeint.
Kein Engländer würde fordern, dass jedes mal „womankind“ hinzuzufügen sei, wenn von mankind die Rede ist.
Und natürlich wird der Mensch zunächst einmal gezeugt, dann erst geboren, oder „empfangen“, wie es bei Claudius heißt.
Hier wird ausdrücklich die Frau gewürdigt.
Sie ist aber im weiteren Text keineswegs ausgeschlossen.
Weder sprachlich noch von der Intention des Dichters.
Claudius verehrte seine Frau, was im Brief an seinen Sohn Johannes zum Ausdruck kommt.
Zurück zur Zeugung und Geburt.
Zur damaligen Zeit war die Biologie des werdenden Lebens nicht so geläufig wie heute.
Vielen Menschen war der Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt nicht bekannt.
Das sollte bei der Betrachtung des Gedichts berücksichtigt werden.
Freundliche Grüße
Dr. Roland Herrmann
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so schön auch sein Abendlied. Erzähle gerne mal die Gedanken, die mir Menschen im Sterben, Kinder-Menschen, sog. demente Alte dazu erzählt haben. Die Worte sind so haltbar für Menschen, die sonst keinen Halt mehr spüren.
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Das Abendlied ist in der Tat immer wieder schön.
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Ich finde diese Rezension ungeheuer beeindruckend. Aus bestimmten persönlichen Gründen auch beruhigend. Heute Abend „schnappe“ ich mir in jedem Fall noch das Abendlied.
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Das freut mich sehr, herzlichen Dank dafür! Und: Viel Freude mit dem Abendlied!
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