Jeder wie er kann

Die Gesellschaftsvertragstheorie erklärt die Legitimation des Staates. Herrschte ursprünglich der Naturzustand mit einem Recht aller auf alles, welches so gesehen ein Recht auf nichts war, stellte der Staat Regeln des Miteinander auf, die dem Individuum zwar die absolute Freiheit nahm, ihm aber eine bürgerliche Freiheit sowie Schutz von Leben und Eigentum zusicherte. John Rawls erarbeitet in seinem Werk „Theorie der Gerechtigkeit“ folgende Grundsätze eines gerechten Staates:

Erster Grundsatz

Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

Zweiter Grundsatz

Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:

(a)  sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und

(b)  sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.[1]

Andere Gerechtigkeitstheorien greifen die Gedanken Rawls auf. Aufgabe des Staates in einer Demokratie ist es, allen die gleichen Rechte zu gewähren. Jeder muss die Chance haben, in Ämter gewählt zu werden und muss vor dem Gericht gleich behandelt werden. Zudem sollen Minderheiten geschützt werden und die Armen der Gesellschaft mitgetragen – soziale Gerechtigkeit. Diese soziale Gerechtigkeit versteht sich immer als Gerechtigkeit auf staatlicher Ebene. Sie setzt da ein, wo die Menschen im Staate stehen. So gesehen behandeln wir hier eine künstliche Gerechtigkeit, insofern sie einer natürlichen Gerechtigkeit gegenüber steht. Was wäre eine natürliche Gerechtigkeit in Analogie zur künstlichen? Es wäre die Gleichverteilung der natürlichen Anlagen in jedem Menschen. Nun liegt auf der Hand, dass dies weder zu beeinflussen ist noch von der Natur vorgesehen oder gar verwirklichst. Menschen kommen mit verschiedenen Anlagen und damit auch mit verschiedenen Entfaltungsmöglichkeiten zur Welt. Diese Verschiedenheit prägt denn auch den Weg, den sie im Leben gehen und damit massgeblich, nicht immer linear und unausweichlich, so doch mit grosser Wahrscheinlichkeit, wo sie im Staat stehen.

Betrachten wir noch einmal die Gesellschaftsvertragstheorie, so zeigt sich, dass es dabei (auch) darum ging, das Recht des Stärkeren zu Gunsten von gleichen Rechten für alle auszuhebeln. Anhand von staatlicher Sicherung von Leib und Leben sollte auch der Schwächere sicher leben können in der Gemeinschaft. Bei Lichte betrachtet hat man die Ungerechtigkeit damit nur verschoben. Man hat die Körperkraft durch Geisteskraft ersetzt. Der geistig stärkere hat in der heutigen Welt die besseren Möglichkeiten, eine höhere Position zu erlangen, weil er die höheren Bildungswege beschreiten kann. So wird er in den meisten Fällen ein höheres Einkommen erzielen, hat  meistens das höhere Ansehen innerhalb der Gesellschaft und damit auch eine bessere Stellung.

Die Argumentation, das sei eine naturgegebene Ungerechtigkeit, die man nicht beeinflussen kann, stimmt nur teilweise. Die natürliche Verteilung von Fähigkeiten und Anlagen können wir in der Tat nicht beeinflussen, wohl aber unseren Umgang damit. Stellen wir uns vor, wir wollen ein Haus bauen. Wir haben zwei Freunde, der eine Architekt, der andere Maurer. Wir beauftragen beide damit, das Haus für uns zu erstellen. Das Haus würde nie stehen, wäre der Maurer nicht da. Der Architekt hätte weder die Kraft, die Steine aufeinander zu beigen in stundenlanger Knochenarbeit, noch die nötige Ausbildung, sie so zu verbinden, dass sie auch halten. Der Maurer wiederum hätte nicht das Wissen, die Statik so zu berechnen, dass die Mauern am Schluss das Dach tragen. Wir brauchen beide für unser Haus. Der Unterschied liegt darin, dass der Architekt in der Berufshierarchie höher steht, das höhere Gehalt erhält, der Maurer tiefer mit niedrigerem Gehalt. Ist das fair?

Man kann argumentieren, der Architekt hätte längere Ausbildungswege gehabt, man könne nichts dafür, dass dem Maurer diese verschlossen waren. Unterm Strich bleibt dasselbe: Die beiden mögen von der Natur unterschiedliche Anlagen gehabt haben, der eine mehr Körperkraft, der andere mehr Geisteskraft. Wer will das werten? Wieso werten wir hier? Beide haben ihre Fähigkeiten voll ausgenutzt, sind ihren ihnen möglichen Weg gegangen und bringen das in die Gesellschaft ein, was sie einbringen können. Wieso ist die Leistung des einen mehr wert als die des anderen?

In meinen Augen krankt hier das System. Wir teilen Menschen nach ihren von uns und unseren Massstäben bewerteten Fähigkeiten in Schubladen ein, die einen tiefer, die anderen höher. Und setzen erst dann die Gerechtigkeit an, indem wir versuchen, diese Schubladen so zu bedienen, dass am Schluss alle geölt laufen, keine klemmt und zu bleibt.


[1] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit

4 Kommentare zu „Jeder wie er kann

  1. Zunächst einmal bin ich voll bei Dir, wenn ich mir als ideale Gesellschaft eine Gesellschaft mit Chancengleichheit und Solidarität vorstelle.
    Ich möchte auf zwei Punkte eingehen: a) die praktische Umsetzbarkeit und b) die Labilität/Instabilität eines „idealen Systems“.
    a) eine Demokratie braucht eine solide theoretische Grundlage, aber die Umsetzung in der Praxis stößt ständig auf menschliche Fehlbarkeiten. Diesem tragen moderne Demokratien zum Teil Rechnung, obwohl hier noch viele Verbesserungen möglich wären. Eine Gesellschaft ist ständigem Anpassungsdruck an sich ändernde Umstände ausgesetzt. Da nicht die „aristoi“ bei uns die politischen fällen, sondern Politiker, die von Interessengruppen beeinflusst werden, ist die praktische Umsetzung ein Interessenausgleich (wenn man die unantastbaren Maßgaben des Grundgesetzes außen vor lässt). Ich würde mir oft auch wünschen, dass „die Besten“ bzw. Experten, vielleicht sogar Philosophen die Entscheidungen treffen würden, aber das ist eben nicht das Wesen der Demokratie. Das ist natürlich nur meine laienhafte Meinung und ich erwarte hier auch Widerspruch von Dir.
    b) jetzt wird es noch provokanter, wobei ich aber nochmals betone, dass ich Deine Ideale vollstens unterstütze. Vielleicht gibt es da auch noch einen real erfahrbaren Unterschied zur Schweiz, der mich zweifelnder folgern lässt. In Deutschland verabschiedet sich die Politik und auch die Gesellschaft zunehmend vom Modell der Solidargemeinschaft. Die Blütezeit der sozialen Gesellschaft lag in Deutschland in den 70ern. In Zeiten globaler Verteilungskämpfe gilt Solidarität meist nur noch für die eigene peer group oder Familie. Kann nur eine reiche Gesellschaft sozial sein? Das möchte ich relativieren: Der Reichtum wird nur zunehmend ungleicher verteilt. Aber warum? Hier liegt offensichtlich ein Manko unserer demokratischen Systeme. Geld bedeutet mehr Macht, mehr Einfluss und es gibt zu wenig Möglichkeiten der direkten Mitbestimmung. Gebe es Bürgerentscheide wie in der Schweiz (mit Spielraum auch hier nach oben), hätten wir schon längst Mindestlohn, eine funktionierende Bankenaufsicht und eine Begrenzung der Managergehälter etc.
    Eine demokratische Gesellschaft zerbricht allerdings auch, wenn Armut und Verelendung die Überhand gewinnen. Institutionalisierte Solidarität und Gerechtigkeit geraten dann an ihre Grenzen, wenn es nichts mehr zu verteilen gibt.

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    1. Ich teile deine Einwände vollumfänglich. Der Faktor Mensch lässt jedes Staatsideal ins Wanken kommen, da der Mensch schlussendlich immer sich und seinen Profit im Zentrum sieht. Kommt er in die Situation, die Lage für sich selber zu verbessern, wird er auf Solidarität und Miteinander pfeifen. Geld ist das Mittel, mit welchem sich Macht am besten erreichen lässt, denn das meiste ist in irgend einer Weise käuflich, und sei es nur, dass das Geld überhaupt die Möglichkeit bietet, sich Dingen zu widmen und dann wieder zu profitieren.

      Auch wenn Ideale nicht erreichbar sind, denke ich, ist es sinnvoll, sie zu diskutieren, um dann ein realistisches Ziel erreichen zu können.

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  2. Noch eine Anmerkung zum gerechten Gesellschaftsmodell. Dein Artikel bringt ja zum Ausdruck, dass Du unterschiedliche Entlohnung in Frage stellst. Schwierig zu beantworten. Zu einem gewissen Anteil sollten Angebot und Nachfrage Einfluss auf das Gehalt haben. Wenn ich ein nachgefragter Handwerker bin, darf und soll sich das auch auf das Gehalt auswirken. Prinzipiell sollte Fähigkeit und Qualifikation sich auswirken, so ist der Ansporn da, sich weiterzuentwickeln, zu verbessern. Unser Maßstab für den beruflichen Werdegang ist die schulische Leistung. Ein Maßstab mit bekannten Schwächen. Dennoch braucht es einen Maßstab. Natürlich gibt es am Gehaltsgefüge einiges verbesserungswürdiges, ob Begrenzung der Managergehälter oder vernünftiger Mindestlohn. Aber unterschiedliche Lohnniveaus gehören zu einer leistungsorientierten Gesellschaft. Es wäre zu ausschweifend, in diesem Kommentar über moderne Modelle der Entlohnung zu philosophieren. Stichwortartig flachere Lohnhierarchien, mehr Mitbeteiligung der Belegschaft an Unternehmensgewinnen und Verbaschiedung von Renditezielen zugunsten von nachhaltiger Unternehmensführung. Um diese Ziele zu erreichen, braucht es wiederum eine Reform der politischen Mitbeteiligung. Zum Beispiel seltsam, dass wir dass „so wichtige“ Geld über das angeblich „so sichere“ Online-banking durch die Gegend schieben dürfen, aber politische Mitbeteiligung per Mausklick verpönt ist.

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    1. Ich spreche mich klar für den Leistungslohn aus. Es ist nicht ganz einfach, ihn an Kriterien zu binden, wie sie mir vorschweben, um eben gerecht zu sein. Mir würde vorschweben, dass jeder nach seinem Einsatz im Rahmen seiner Fähigkeiten entlöhnt wird. Wieso ist ein Mensch mit handwerklichen Fähigkeiten weniger wert als einer mit geistigen Fähigkeiten? Wenn jemand mit Motivation und Ehrgeiz seine Fähigkeiten ausschöpft und das für ihn Bestmögliche in die Gesellschaft einbringt, müsste das doch gut genug sein.

      Das Problem hier ist die Messbarkeit. Wie weiss ich, ob er das tut. Nach welchen Kriterien werden dann Löhne bemessen. Aber es wäre gerechter, wie ich finde.

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