Inhalt
«Sie fehlt mir, das ist alles. Sie war die Einzige auf der Welt, die ich jemals geliebt habe, und jetzt muss ich herausfinden, wie ich ohne sie weiterleben kann.»
Fast zehn Jahre ist es her, dass Baumgartners Frau Anna gestorben ist. Zehn Jahre, in denen er scheinbar wie früher weiterlebte, und doch nichts wie früher war. Baumgartner hält nur den Schein aufrecht, er stürzt sich in die Arbeit, in immer neue Buchprojekte. Anna war Dichterin und Übersetzerin. Eines Tages geht er in ihr Arbeitszimmer, das bis heute aussieht, wie sie es verliess. Er findet ihre Manuskripte, liest sie. Er erinnert sich an Anna, an ihre gemeinsame Geschichte, an das Leben, als es noch seines war. Das Leben gibt es nicht mehr, ein neues stellt sich nicht ein. Bis er eines Tages von Anna träumt. Nach diesem Traum ist alles anders. Nun fühlt er sich frei, sein eigenes Leben wieder in die Hand zu nehmen. Wohin es ihn wohl führen wird?
Gedanken zum Buch
«…Zeit ist jetzt das Wesentliche, und wie soll er wissen, wie viel ihm noch bleibt. Nicht nur, wie viele Jahre, bis er ins Gras beisst, sondern wichtiger, wie viele Jahre tätigen, produktiven Lebens, bevor sein Geist oder sein Körper oder beide ihn im Stich lassen und er zu einem schmerzgepeinigten, verblödeten Trottel wird, der nicht mehr lesen und schreiben kann, der vergisst, was vor vier Sekunden jemand zu ihm gesagt hat, und schlicht keinen mehr hochkriegt, ein Horror, an den er gar nicht denken will.»
Professor Seymor T. Baumgartner, so heisst unser Held, ist Pragmatiker. Er geht durchs Leben und sucht nach Lösungen für alles, was ansteht. Wir begleiten den Phänomenologen durch seinen Alltag, folgen ihm bei seinen Erinnerungen durch seine Kindheit, sein Aufwachsen, seine Beziehung mit Anna, und sind schliesslich Zeugen seines Umgangs mit deren Tod. Er ist älter geworden. Er vergisst Dinge, Missgeschicke passieren. All dem begegnet er mit Selbstironie. Er nimmt sich selbst nicht zu ernst. Damit kommt er mit allem gut zurande, nur mit einem nicht: Dem Verlust von Anna.
«Er denkt an Mütter und Väter, die um ihre toten Kinder trauern…, und wie sehr ihr Leid den Folgeerscheinungen einer Amputation gleicht, gehörte doch das fehlende Bein oder der fehlende Arm einmal zu einem lebenden Körper, wie der fehlende Mensch einmal zu einem anderen lebenden Menschen gehörte…»
Nachdem er schon viele philosophische Bücher geschrieben hat, befasst er sich aktuell mit Kierkegaard. Das ist wohl kein Zufall, handelt doch eines von dessen berühmtesten Werken von Krankheit und Tod. Baumgartner versucht, den Verlust seiner geliebten Frau wissenschaftlich zu erfassen, er zieht den Vergleich mit einer Amputation und dem Phantomschmerz, den der Betroffene sein Leben lang fühlt. Das Gefühl, dass ihm eine Hälfte (und wohl im wahrsten Sinne des Wortes die bessere) wegfiel und ihn unvollständig zurückliess, lässt nicht nach.
Knapp zehn Jahre nach Annas Tod träumt er einen Traum, in dem Anna lebt und zu ihm spricht. Obwohl er weiss, dass dies alles nicht Realität ist, hat es auf ihn eine Wirkung: Er ist frei für ein Weiterleben. Musste er sich zuerst all den Erinnerungen stellen, um an den Punkt zu kommen? Brauchen gewisse Dinge einfach ihre Zeit, die für jeden Menschen anders sind?
Fazit
Grossartige Literatur von einem wahren Meister seines Fachs. Das Buch ist still und leise, nie pathetisch, ohne Kitsch und Sentimentalität. Obwohl das Thema traurig ist, Baumgartner eigentlich ein Leidender, besticht das Buch durch eine Leichtigkeit, eine Hoffnung, die zwischen den Zeilen mitschwingt, dass das Leben doch gelebt werden will und soll und es auch wird. Wie nur soll so ein Buch enden? Auch das ist Paul Auster wunderbar gelungen. Ich ziehe meinen Hut!




