Aus dem Atelier: Scham

«Das Schöne, auch in der Kunst, ist ohne Scham nicht denkbar.» Hugo von Hofmannsthal

Als ich nach Zitaten über die Scham suchte, hatte ich natürlich etwas im Sinn. Allerdings entsprach das in keiner Weise dem, was ich gefunden habe. Scham, so landläufig die Ansicht, sei es bei Philosophen, Literaten oder in Religionsbüchern, wird als Zier und gebührliches Empfinden gesehen. Sie ist quasi der Hüter der Moral, der Wächter über Zucht und Ordnung.

Nun kann ich dieser Sicht durchaus etwas abgewinnen, doch mir ging es um etwas anderes: Um die Scham, die wir oft verspüren, wenn es um unsere Unzulänglichkeiten und vermeintlichen Unperfektheiten geht. Wir verstecken sie so gut wie möglich, verstecken damit uns selbst auch, denn indem wir diesen Teil verbergen, dringt nur noch eine halbherzige Version unserer selbst nach draussen. Wir vermitteln ein Bild, das nur in Teilen uns entspricht.

Das ist sicher gut und sinnvoll als Selbstschutz in gewissen Momenten, doch oft kann einem dieses Verhalten auch behindern. Wir stehen uns damit selbst im Weg, weil wir uns nicht trauen. Wir fürchten uns vor unseren Fehlern, fürchten uns vor den Reaktionen darauf, und wagen nicht, was wir eigentlich gerne tun und sein würden.

Das liegt sicher mit daran, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Fehler und Scheitern verteufelt werden, etwas, das es nicht geben darf. Wie schade. Wie oft zeigen sich gerade in Fehlern oder Dingen, die nicht gelingen neue Wege und Möglichkeiten? Kreativität entsteht da, wo dem freien Ausprobieren nichts im Wege steht. Und meiner Meinung nach entsteht dann das Schöne. In der Kunst und im Leben.

Habt einen schönen Tag!

Tagesbild: Blösse

„Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in unseren Kleidern.“ Heinrich Heine

Wenn es um die Blösse geht, kommt eine Hemmung mit auf. Wir wollen sie vermeiden, wir fürchten, von anderen in sie hineingedrängt zu werden oder aber sie selbst zu zeigen. Das zeigt sich schon in verschiedenen Redewendungen.

„Sich keine Blösse geben.“
„Jemanden blossstellen.“

Der Blösse liegt nicht nur die blosse Nacktheit zugrunde, sondern auch die Scham. Wann im Leben lernen wir die? Wann ist der eigene Körper plötzlich nicht mehr das Natürlichste der Welt, sondern etwas, mit dem wir nicht zufrieden sind, das wir verändern und gar verbergen wollen?

Kann man wieder verlernen, was man mal gelernt hat? Wie viel Freiheit wäre plötzlich im Leben, könnte man sich zeigen? In seiner ganzen Blösse. Innerlich wie äusserlich.

„Wer nackt Würde zeigt, gibt sich keine Blösse.“ Klaus Ender, Fotograf

Habt einen schönen Tag!

(Skizzen im Skizzenbuch)uch)

Gedankensplitter: Alles gut!

«Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.» Oscar Wilde

Manchmal treffe ich mich mit anderen Menschen, wir tauchen in den Abend hinein bei einem Essen und Gesprächen. Es kommt vor, dass ich ins Erzählen komme, dass ich ausbreite, was in mir vorgeht, meine Gefühle, Ängste, auch Unzulänglichkeiten ausbreite, weil es sich aus dem Gespräch heraus so ergibt. Es sind Abende, in denen ich eine Nähe und eine Verbundenheit spüre, weil eine grosse Offenheit im Raum ist und der Austausch ein wirklicher ist, ein sich Einlassen auf den anderen. Gegenseitig. Es sind Abende, die ein Gefühl des Getragenseins in einem Miteinander in sich tragen und die dieses über den Abend hinaustragen ins Leben hinein. Ich fühle mich genährt.

Und doch kann es vorkommen, dass ich mich am nächsten Morgen frage: Habe ich zu viel erzählt? Habe ich zu Tiefes preisgegeben? Mich zu sehr offenbart? Die Mauern zu sehr eingerissen. Mir kommt der Gedanke: Was könnte nun der andere über mich denken? Zu welchen Gedanken, Bewertungen wird ihn mein Erzähltes bringen? Muss ich mich in Zukunft bedeckter halten?

Ich merke, wie mich diese Gedanken im Gegensatz zu früher nur noch schnell streifen und ich zum Schluss komme: Nein, es ist gut, wie es ist. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste. Es war, wie es war, ist, wie es ist – und es darf so sein. Alles gehört zu mir. Und selbst wenn jemand meine Offenheit in einer Form gegen mich. Verwendet, so ist das seine Sache, nicht mein Problem. Und dann ist da nur noch dieses schöne Gefühl, einen wertvollen Abend erlebt zu haben.

Habt einen schönen Tag!

Buchtipp – Annie Ernaux: Die Scham

Die zwei Welten der Welt

Und plötzlich erinnert man sich an etwas, und man hat ihn, den

«Beweis für die Existenz zweier Welten und unsere Zugehörigkeit zur unteren.» Annie Ernaux

Oft heisst es, wir haben diese eine Welt, in der wir leben, wir teilen sie. Das mag rein physikalisch materiell so sein, doch im Leben, ideell, in den sozialen Strukturen sind es mehrere Welten, schon zwei reichen nicht aus. Früher sprach man von der Dritten Welt, um Länder zu bezeichnen, welche nach westlichen Massstäben weniger entwickelt und finanziell arm waren. Diese klare Hierarchie hat man sprachlich abgemildert, doch hat sich sonst etwas geändert?

Die Frage, die sich immer wieder stellt, ist doch, welche Massstäbe auf das Leben und die Welt angelegt werden, um eine Hierarchie zu schaffen. Alle sind sie an einer Norm ausgerichtet, die nach den Werten der entsprechenden Gesellschaft, teilweise auch nur von Teilen davon, bestimmt sind.

Es sind Grundsätze, die in der Luft hängen, für jeden spürbar, als Geländer im Leben, das zeigt, dass nur diesem entlang ein richtiges, weil passendes möglich ist. Über einem Misstritt, einem Fehlverhalten schwebt das vernichtende Urteil:

«Was sollen die anderen von dir denken?»

Sitzt man drin im eigenen Leben, erscheint es als einzig mögliches, als einzig lebbares, als normal. Erst wenn der Blick auf andere Leben fällt, man sieht, was es auch noch gibt in dieser Welt an anderen Welten, kommt aus dem Vergleich das Werten. Man setzt den Bezug und je nachdem ist die Fallhöhe hoch. Was vorher die Welt war, ist nun ein kleiner Teil davon, schwierig wird es, wenn es nicht der wünschenswerte im Ganzen ist. Plötzlich fühlt man sich klein, sieht in den Augen der anderen die Abwertung, spürt sie in deren Verhalten, fühlt den eigenen Platz unten. Und damit kommt die Scham. Sie wird von nun an das Leben begleiten, sich über alles legen, bei allem mitschwingen. Sie wird das Nebengefühl beim eigenen Tun und Sein.

«Das Schlimmste an der Scham ist, dass man glaubt, man wäre die Einzige, die so empfindet.» Annie Ernaux

Ein Merkmal der Scham ist, dass sie im Stillen herrscht, im Privaten. Dort schwingen Angst und Mangel mit. Die Scham behält man für sich, sie zu benennen fühlte sich noch beschämender an. Und mit diesem Schweigen verstärkt sie sich noch, sie füllt das eigene Denken und sie bewirkt, dass man sich damit allein fühlt, weil man sich nicht vorstellen kann, dass es noch jemanden gibt, der so denkt.

Und vielleicht liegt genau da das Heilmittel: Im Teilen und Mitteilen. Denn dadurch würde man merken, dass es noch mehr Menschen in der gleichen Welt gibt, welche die gleiche Scham teilen. Und wenn man merkt, dass man mit Dingen, derentwegen man sich schämt, nicht allein ist, stellt man fest, dass diese in der Welt normal sind, so dass sie keinen Grund zur Scham darstellen. Annie Ernaux hat das für sich erkannt und über ihre Scham geschrieben. Weil Schreiben Öffentlichkeit ist, es ist ein Heraustreten aus der eigenen Scham, aus dem eigenen privaten Empfinden des eigenen Unwerts hinaus in die Welt der Gleichgesinnten.

Zum Inhalt:
Ein Erlebnis 1952, das die Welt in ein Davor und ein Danach einteilt. Die Erfahrung, dass es zwei Welten gibt, eine unten und eine oben, zu der sie, als eine von unten, nie gehören wird. Die Scham dieser Erkenntnis, die Scham, die sich im Leben festsetzt, die sich in den Zellen des Körpers speichert und immer wieder hervorbricht. All das sind die Themen dieses Buches, das aus Erinnerungen und Reflexionen des schreibenden Erinnerns besteht – Erinnerungen an die Schulzeit, an das Leben zu Hause, an die Eltern, an sich selbst.

Zur Autorin
Annie Ernaux, 1940 in Lillebonne (Frankreich) geboren, Schriftstellerin mit mehrheitlich autobiografisch geprägten Werken, die 2022 den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat.

Sex und der Postbote

Ab und an klingelt es hier und der Postbote hat wieder eine Paket-Ladung für mich. Das ab und an ist wohl eher ein „sehr oft“, denn der Postbote erkennt mich schon von Weitem auf der Strasse und grüsst mich mit Namen (mein Sohn fragte mich schon: Wieso kennt der dich?). Wir wohnen erst ein halbes Jahr hier. Da es kein Dorf, sondern Grossstadt ist und ich mir überhaupt keine Namen merken kann, gehe ich davon aus, dass es an der Paketflut liegen muss. So weit, so gut.

Heute hat er nicht geklingelt. Nicht einmal ein Mal. Trotzdem war der Briefkasten voll. Ich freute mich. Bücherpakete. Eines mit gelbem Kleber – von der Post wegen Überprüfung von was auch immer geöffnet und schön gelb wieder zugeklebt. Kein Thema, dachte ich so naiv. Ich packte die drei Pakete, ging in meine Wohnung, begann mit Auspacken. Ein Roman war schöner als der andere. Die Vorfreude aufs Lesen stieg förmlich an. Dann kam der Karton mit den gelben Klebern dran. Ich schnitt sie auf, schüttelte mühsam das Buch heraus, in freudiger Erwartung.

Raus kam: Sex total. Lebe deine Fantasien! Ein Rezensionsexemplar, von dem ich nicht wusste, es je angefordert zu haben. Ich blickte auf das Buch und in meinem Kopf startete der ganze Fragenkatalog: Wieso hatte die Post ausgerechnet dieses Paket geöffnet? Hätte es nicht das mit einem harmlos witzigen Roman sein können? Was denken die nun von mir? Und vor allem: was mache ich nun damit? Ich kann doch UNMÖGLICH ein solches Buch in meinem Blog rezensieren? Was denken all die Leser? In welche Schublade gerate ich da?

Ich wage einen Blick ins Buch. Die Bilder sind eigentlich meist ansprechend, negativ fällt mir nur auf, dass man die Frau in allen Posen und von allen Seiten mit (fast) allen Details nackt sieht, der Mann doch eher bedeckt bleibt. Nicht dass ich ihn selber hätte sehen wollen, aber ganz fair und richtig finde ich das nicht. Entweder alle oder keiner.

Auf der Umschlag-Innenseite finden sich die „Zehn Gebote für einfallsreiche Paare“. Nun wären einfallsreiche Paare wohl gar nicht darauf angewiesen, solche Gebote zu haben, geschweige denn, ein Buch zu konsultieren, insofern wären es wohl eher Gebote für einfallslose Paare.Da sich niemand so nennen lassen will, hat der Titel wohl Programm. Die Gebote selber sind durchaus gut, besagen, dass man sich selber annehmen und zu sich stehen, sich dem anderen mitteilen und ehrlich bleiben soll. Ob die Anlehnung an die Bibel (10 Gebote) sinnvoll ist, bleibe dahingestellt. Jeder wie er mag.

Das Buch glänzt mit Superlativen wie „den besten Stellungen“, „Sex für Experten“ und „Unwiderstehlicher Cunnilingus“ (ich lerne heute viel – was man als Philosophin und Literaturwissenschaftlerin an Lernpotential hat – enorm – und ich meinte das nun in Bezug auf die Begrifflichkeiten, damit hier kein Missverständnis aufkommt), es hat aber auch Tipps für schwierige Momente, wenn es eben nicht klappt, wie man sich das so vorstellt.

Fazit:
Nützt’s nicht, so schadet es auch nicht. Neues lernen ist immer schön, wenn man am Ende des eigenen Lateins steht, hilft ein Wörterbuch weiter.

 

Und so sitze ich hier, das Buch neben mir. Ich denke an den Postdienst, an die gelben Kleber, frage mich, was ich meinem Sohn sage, wenn er das Buch je findet und versuche nun, die rote Farbe wieder aus dem Gesicht zu kriegen.

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Für die, welche es interessiert:
Anna Costa: Sex total. Lebe deine Fantasie, südwest Verlag, München 2013.