Rezension: Silvio Blatter – Wir zählen unsere Tage nicht

Wollen wir sein, wer wir sind?

Severin hörte Isa die Treppe herunterkommen. Sie lebten seit vielen Jahren in dem grossen Haus, doch Severin hätte die Schritte seiner Frau auch unter vielen anderen sogleich erkannt.

Isa Lerch, erfolgreiche Radiomoderatorin am Ende ihrer Karriere, und Severin, passionierter Künstler, sind seit vielen Jahren verheiratet. Glücklich. Sie haben zwei Kinder, die beide schon ausser Haus leben, beide haben einen völlig anderen Weg als ihre Eltern eingeschlagen, haben sich für ein bürgerliches Leben entschieden. Eine Flucht?

Auch wenn Isa und Severin beide in ihren Projekten aufgehen, sich oft kaum sehen, ist die Liebe präsent.

Severin begehrte Isa noch immer.
Doch sie waren kein symbiotisches Paar, nie gewesen. Es war das erste Mal in dieser Woche, dass sich Isa und Severin am Tisch gegenübersassen, es war Freitag.

Isa und Severin stehen vor einem neuen Lebensabschnitt. Die glänzenden Jahren gehen ihrem Ende zu, die Kinder sind gross, das Alter steht vor der Tür. Die Zeit eines solchen Umbruchs ist immer auch die Zeit der (Rück-)Besinnung: Wie haben wir gelebt? War es das Leben, das wir wollten? Wohin führt der Weg jetzt? Wo stehen wir?

Silvio Blatter versteht es in seinem neusten Roman Wir zählen unsere Tage nicht, das Leben von Eva und Severin an der Schwelle in eine neue Zeit in einer klaren Sprache, tiefgründig und doch einfach, fast beiläufig, dabei weder oberflächlich noch distanziert, zu erzählen.

Der Sohn liebte die Mutter.
Mit dem Vater hatte er Schwierigkeiten. Der Vater kam ihm zu nah. Oder er kam gar nicht an ihn heran. Sie waren beide überempfindlich. Es fehlte ihnen das Gespür für die Distanz. Dabei liebte Mathias auch seinen Vater. Leider nicht immer gleich stark, und heute liebte er ihn gar nicht.

Es ist ein Roman, der Gegensätze aufgreift wie alt und jung, Bürger und Künstler, Eltern und Kinder. Es geht um Beziehungen zwischen Generationen, zwischen Geschlechtern, innerhalb von Familien und im Beruf. Es ist die Geschichte von solchen, die gehen, und anderen, die kommen – und von der Beziehung zwischen ihnen. Einfühlsam legt Blatter dem Leser das Innenleben seiner Figuren offen, zeigt ihre Beweggründe, ihre Ängste, ihre Hoffnungen. Er lässt den Leser mitfühlen und auch verstehen – ab und an auch wiedererkennen. Dabei driftet er nie ins Psychologisierende ab, lässt der Geschichte eine gewisse Leichtigkeit. Ganz grosse Schreibkunst!

Fazit:
Tiefgründige Analyse vom Leben, von der Liebe, von Familie, Beruf und dem Umgang mit dem Älterwerden. Sehr empfehlenswert.

 

Zum Autor
Silvio Blatter
Silvio Blatter wurde am 25. Januar 1946 in Bremgarten (AG) als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren. Nach dem Besuch der Bezirksschule absolviert er das Lehrerseminar, unterrichtet anschliessend, um dann einige Monate in der Metallindustrie zu arbeiten. Es folgen sechs Semester Germanistik an der Universität Zürich, um wieder in die Industrie zurückzukehren. 1975 absolvierte Blatter beim Schweizer Radio DRS eine Ausbildung zum Hörspielregisseur und liess sich nach Aufenthalten in Amsterdam und Husum als Schriftsteller in Zürich nieder. Heute pendelt der Autor zwischen Malerei und Schriftstellerei, lebt in Zürich und München.

 

Angaben zum Buch:
BlatterGebundene Ausgabe: 304 Seiten
Verlag: Piper Verlag (9. März 2015)
ISBN-Nr.: 978-3492056458
Preis: EUR 19.99 / CHF 29.90

 

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Rezension: Anna Quindlen – Ein Jahr auf dem Land

Nie zu spät für einen Neuanfang

Rebecca dachte eigentlich selten ans Sterben, doch ans Geld dachte sie ständig. Sie hatte Angst, noch ewig weiterleben zu müssen, verarmt, ihr früherer Ruhm nur noch eine Fussnote in einer Doktorarbeit, die kein Mensch mehr las.

Rebecca Winter, einst gefeierte Fotografin, erfindet ihr Leben neu. Im Alter von 60 ist sie geschieden, lebt in einer New Yorker Wohnung, die sie sich nicht mehr leisten kann und auch die Erfolge bleiben aus. Sie mietet ein heruntergekommenes Haus auf dem Land, vermietet ihre Wohnung – so hofft sie, finanziell über die Runden zu kommen. Und sie hofft weiter, dass sich ihr neue Wege auftun, wie ihr Leben weiter gehen kann.

Neuer Lebensabschnitt, neuer Ort – alles ist neu in Rebeccas Leben, alles nicht ganz gewünscht, sondern aus der Situation heraus passiert. Anna Quindlen erzählt in diesem Roman von den Brüchen im Leben einer Frau und davon, wie sie damit umgeht. Da Brüche oft nicht gewollt sind, bleibt es nicht aus, dass eine gewisse Wehmut, das Gefühl von Angst mitschwingt. Trotzdem erschlagen diese Gefühle nicht, sind sie nicht dominant und die Geschichte nicht düster.

Dem Roman fehlt Tempo, fehlt das wirklich Packende, Mitreissende. So plätschert das Leben der Rebecca Winter dahin, als Leser fühlt man sich ein wenig wie der Zuschauer auf der Gartenbank, der dem Nachbarn beim Leben zusieht – allerdings ist das Leben nicht immer spannend und in einem Roman hätte ich mir mehr erhofft. Trotzdem ist es auch ein Buch, das Mut macht, das zeigt, dass es nie zu spät ist, einen Neuanfang zu wagen, dass dieser sogar eine Chance sein kann.

Fazit:
Die Geschichte einer Frau im Umbruch. Ein Buch darüber, dass man immer neu anfangen kann. Interessantes Thema, die Geschichte hätte mehr Tempo vertragen.

 

Zum Autor
Anna Quindlen
Anna Quindlen, Jahrgang 1952, gehört in den USA zu den wenigen ganz großen Autorinnen, die sowohl die Literaturkritik als auch das breite Publikum begeistern. Ihre Romane und Sachbücher erobern regelmäßig die amerikanischen Bestsellerlisten. Für ihre Kolumnen in der New York Times erhielt sie 1992 den Pulitzer-Preis. Ihr Bestseller »Die Seele des Ganzen« (1995) wurde unter dem Titel »Familiensache« mit Meryl Streep verfilmt. Ihr neuester Roman »Ein Jahr auf dem Land« rangierte in den USA monatelang in den Top-Ten und verkaufte sich eine viertel Million Mal.

Angaben zum Buch:
QuindlenGebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt (2. März 2015)
Übersetzung: Tanja Handels
ISBN-Nr.: 978-3421046666
Preis: EUR 19.99 / CHF 29.90

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Rezension: Thommie Bayer – Weisser Zug nach Süden

Das Leben neu erfinden

Zehn Wohnungen putzt sie, wäscht und bügelt, und für zwei alte Leute kauft sie ein, so kommt sie im Schnitt auf sechs Stunden am Tag und fünf Tage in der Woche, was kein Vermögen einbringt, aber ausreicht, um sich frei zu fühlen in dem provisorischen Leben, das für Leonie als einziges erträglich scheint. […] Chiara ist eingesprungen, solange Leonie weg ist, das Angebot, oder besser die Bitte, kam im richtigen Moment: Chiara musste weg von dort, wo sie lebte, und hier wird niemand nach ihr suchen.

Chiara muss zu Hause weg, sie kann unmöglich bleiben. Zum Glück kann sie bei ihrer Freundin Leonie unterkommen und deren Leben übernehmen, da Leonie nach New York geht, wo sie ein neues Leben beginnen will. Chiara wohnt also in Leonies Haus, erledigt deren Putzaufträge und fühlt sich in diesem neuen Leben immer mehr zu Hause. Am liebsten putzt sie bei Herrn Vorden.

Irgendwas ist in dieser Wohnung, das Chiara sich fühlen lässt, als richte sie sich innerlich auf, als atme sie tiefer ein und erfrische sie der Sauerstoff, strahle aus von innen bis unter die Haut, belebe Muskeln und Sehnen, lasse sie wach werden, als habe sie bisher gedöst.

Durch kleine Unachtsamkeiten Chiaras merkt Herr Vorden, dass Chiara nicht nur putzt, sondern sich ab und an der Illusion hingibt für ein paar Stunden, sein Haus sei ihres. Es entsteht ein Austausch, bei dem Chiara nie ganz sicher ist, ob Herr Vorden nicht sogar ihre Gedanken lesen kann. Herr Vorden ist Schriftsteller und seine Geschichten kommen Chiara vor, als ob die nur aus ihr heraus endstanden sein konnten.

Weisser Zug nach Süden ist die Geschichte des Neuanfangs. Zwei junge Frauen starten ein neues Leben, brechen ihre Zelte ab im alten. Thommie Bayer hat eine kleine, leise Geschichte über den Neuanfang geschrieben. In einer klaren, lesbaren Sprache nimmt diese ihren Lauf, ohne dass viel passiert. Trotzdem wohnt der Geschichte Poesie und Tiefgang inne. Der Leser fliesst durch Chiaras neues Leben, immer ein bisschen neugieriger, wieso sie dieses suchte. Es war eine Flucht – aber wovor? Und wie lange will sie fliehen? Kann man überhaupt aus dem eigenen Leben fliehen, immer neu anfangen, wenn man das will?

Das Geheimnis Chiaras dient als Spannungsbogen durch das Buch, man möchte es ergründen und liest weiter. Die eingeschobenen Kurzgeschichten von Herrn Vorden zeigen zwar Bezüge zu Chiara und erklären das eine oder andere aus ihr, legen auch seine geheimnisvolle Natur ein wenig offen, zumindest durch Chiaras Interpretationen derselben. Allerdings halten sie einen auf bei der Erforschung von Chiaras Geheimnis, was teilweise störend wirkt. Da das Buch aber schon mit ihnen sehr dünn ist, wäre es ohne diese kaum mehr ein Roman, nur noch selber eine Kurzgeschichte. So gesehen ist Weisser Zug nach Süden eine Erzählung, die sich um verschiedene Kurzgeschichten legt, diese verbindet, so dass aus allem ein grosses Ganzes wird.

Fazit:
Weisser Zug nach Süden ist eine stimmige, flüssig lesbare Erzählung über das Leben eines Mädchens zwischen Flucht und neuem Leben. Empfehlenswert.

Zum Autor
Thommie Bayer
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm Die gefährliche Frau, Singvogel, der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman Eine kurze Geschichte vom Glück und zuletzt Die kurzen und die langen Jahre.

Mehr zum Autor findet sich in diesem Interview: Thommie Bayer – Nachgefragt

Angaben zum Buch:
BayerWeisserGebundene Ausgabe: 144 Seiten
Verlag: Piper Verlag (16. Februar 2015)
ISBN-Nr.: 978-3492056106
Preis: EUR 16.99 / CHF 25.90
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Peter Beck – Nachgefragt

Peter Beck

BeckPeterPeter Beck wurde 1966 geboren und studierte in Bern Psychologie, Wirtschaft und Philosophie, doktorierte in Psychologie und machte einen MBA in Manchester. Er trägt im Judo den schwarzen Gürtel, war Geschäftsleitungsmitglied eines Großunternehmens und in mehreren Verwaltungsräten. Heute ist Peter Beck sein eigener Chef und unterstützt Organisationen bei der Gestaltung der Unternehmenskultur.

Mehr zu Peter Beck unter www.peter-beck.net

Peter Beck hat sich bereit erklärt, mir ein paar Fragen zu seinem Schreiben und seinem Roman Söldner des Geldes zu beantworten.

Wer sind Sie? Wie würden Sie Ihre Biographie erzählen?

Meine Biographie ist ziemlich langweilig. Auf die Welt gekommen bin ich 1966 in Bern und soweit ich mich erinnern kann, hatte ich eine glückliche Kindheit.

Dann studierte ich Psychologie, Wirtschaft und Philosophie, doktorierte in Psychologie und machte einen MBA in Manchester. Dort lernte ich auch meine Lebenspartnerin kennen. Anschliessend arbeitete ich für ein grosses Unternehmen, war dort in der Geschäftsleitung und in mehreren Verwaltungsräten.

Heute geniesse ich es, mein eigener Chef zu sein. Wir unterstützten Organisationen bei der Gestaltung und Weiterentwicklung ihrer Unternehmenskultur.

Daneben versuche ich regelmässig Sport zu machen und in spannenden Ländern zu reisen. Die meisten Handlungsorte meines ersten Thrillers Söldner des Geldes habe ich selber bereist.

 

Wieso schreiben Sie? Wollten Sie schon immer Schriftsteller werden oder gab es einen Auslöser für Ihr Schreiben?

Schreiben tue ich schon seit der Kindheit gerne und es ist mir eigentlich immer leicht gefallen. Söldner des Geldes war ein persönliches Projekt, das ich zwischen meiner Anstellung und meiner Selbständigkeit umsetzen konnte. Solche Gelegenheiten muss man packen.

Es gibt diverse Angebote, kreatives Schreiben zu lernen, sei es an Unis oder bei Schriftstellern. Ist alles Handwerk, kann man alles daran lernen oder sitzt es in einem? Wie haben Sie gelernt zu schreiben?

Ich hatte immer gute Lehrer, aber zu einem Schreibkurs bin ich bis jetzt nicht gekommen. Für mich ist Schreiben tatsächlich vor allem Handwerk. Mit jedem Satz schlägt man einen Nagel ein. Anfangs hat man einen rohen Entwurf, überarbeitet diesen immer wieder und macht den Satz, den Text mit jedem Schritt ein bisschen besser. Hoffentlich!

 

Wie sieht Ihr Schreibprozess aus? Schreiben Sie einfach drauf los oder recherchieren Sie erst, planen, legen Notizen an, bevor Sie zu schreiben beginnen?

Der Weg beim Schreiben ist bei mir sicher nicht linear, sondern ziemlich verschlungen. Der Geist ist schliesslich frei.

Für Söldner des Geldes hatte ich die grobe Idee und einige Schlüsselszenen im Kopf. Dann habe ich angefangen die Geschichte abzuarbeiten, hier ein wenig ausgeschmückt, dort eine falsche Spur gelegt, schweren Herzen ein paar Kapitel gestrichen.

Die knapp 500 Seiten des Thrillers habe ich dann mehrmals vollständig durchgeknetet. Am schwierigsten war das Streichen liebgewordener aber unnötiger Stellen. Mein oberstes Gebot war und ist die Spannung für den Leser hoch zu halten, schliesslich bezahlt er für die Lektüre.

 

Wann und wo schreiben Sie?

Am besten schreibt es sich für mich am Morgen an meinem Pult. Dann ist es ruhig, der Kopf noch frei, und ich kann der Fantasie freien Lauf lassen.

Hat ein Schriftsteller je Feierabend oder Ferien? Wie schalten Sie ab?

Abschalten tue ich am besten beim Sport oder in der Badewanne. Aber natürlich halte ich die Augen und Ohren immer offen und sammle Eindrücke, Ideen, Satzfetzen. So tauchen einige meiner Erfahrungen in Söldner des Geldes wieder auf. Für einen Thrillerautor liegen die Nuggets praktisch auf der Strasse, man muss nur hinschauen.

 

Was bedeutet es für Sie, Autor zu sein? Womit kämpfen Sie als Schriftsteller, was sind die Freuden?

Es ist einfach ein schönes Gefühl, Söldner des Geldes in so vielen Buchhandlungen und Bibliotheken zu sehen. Zum Glück bin ich nicht nur Thrillerautor, sondern auch Partner, Sohn, Sportler, Firmeninhaber, Reisender, etc. Ich darf zum Glück ganz verschiedene Projekte machen. Der Autor in mir hätte gerne mehr Zeit, muss sich aber öfters gedulden.

Wie ist das Verhältnis zu den Verlagen? Hat sich das verändert in den letzten Jahren? Man hört viele kritische und anklagende Stimmen, was ist deine Sicht der Dinge?

Der etablierte Emons-Verlag in Köln, der meinen Thriller verlegt hat, arbeitet sehr professionell, ist aber auch ein sehr persönlicher Verlag. So bekomme ich zum Beispiel auf Fragen per e-Mail innert Kürze eine Antwort. Und bei den Diskussionen um die Titelei (Cover, Titel, Rückseite) wurde ich immer mit einbezogen. Ich bin Emons jedenfalls sehr dankbar für die Unterstützung.

 

Sie wohnen in der Schweiz, schreiben in Ihrem Roman Söldner des Geldes über Schweizer Schauplätze. Die Schweiz ist ein kleines Land mit einer kleinen Literaturszene. Wie sehen Sie Ihre Stellung innerhalb des deutschsprachigen Raums? Sehen Sie sich im Nachteil als Schweizer, gibt es Vorteile oder ist das irrelevant?

Söldner des Geldes ist in erster Linie ein internationaler Thriller und spielt – neben den Schauplätzen in der Schweiz – auch in Ägypten, Norwegen und Amerika. Persönlich bin ich glücklich Schweizer zu sein. Aber als frischer, deutschsprachiger Autor spielt die Nationalität keine grosse Rolle. Meine Verkaufszahlen zeigen, dass sich Söldner des Geldes auch in Deutschland und Österreich verkauft. Und ich hoffe, dass es bald auch eine Englische und Französische Übersetzung gibt. Auch bin ich Mitglied der Amerikanischen ITW (International Thriller Writer Association) und des Syndikates, der Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren. So lese ich Ende Mai in Nürnberg an der Criminale, dem grössten Krimifestival Europas, aus Söldner des Geldes.

Woher holen Sie die Ideen für Ihr Schreiben? Natürlich erlebt man viel, sieht man viel. Aber wie entsteht plötzlich eine Geschichte daraus? Was inspiriert Sie?

Exzellente Frage, aber unmöglich zu beantworten, denn ich weiss nicht, wo meine Ideen letztendlich her kommen. Ich versuche mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und schnappe überall Sachen auf. Es ist wie ein grosses Puzzle, das sich in meinem Kopf zusammensetzt.

Goethe sagte, alles Schreiben sei autobiographisch. Das stimmt sicher in Bezug darauf, dass man immer in dem drin steckt in Gedanken, was man schreibt. Wie viel Peter Beck steckt in ihrer Geschichte? Stecken Sie auch in Ihren Figuren? Gibt es eine, mit der Sie sich speziell identifizieren?

Auch das weiss ich nicht genau. Sicher sind meine Erfahrungen in Söldner des Geldes eingeflossen: Orte, an denen ich war. Bei den Kampfszenen habe ich von meinen Erfahrungen als Judoka gezehrt. Und wahrscheinlich steckt in allen Figuren auch ein bisschen von mir. Aber ich gestalte meine Charaktere in erste Linie nach dramaturgischen Gesichtspunkten. Bestenfalls lehne ich mich an real existierende Personen an, mische diese miteinander, bis es für die Geschichte stimmt.

 

Wieso schreiben Sie Thriller? Ist es das, was Sie auch am liebsten lesen oder kann man dabei die eigenen bösen Seiten ausleben, die man im realen Leben eher unterdrückt?

Tatsächlich schreibe ich, was ich gerne selber lese: Rasante und intelligente Unterhaltung zum Abschalten in der Badewanne oder am Strand. Es ging mir beim Schreiben von Söldner des Geldes nie darum, irgend etwas auszuleben. Ich will einfach spannende Thriller schreiben und meine Leser damit so gut wie möglich unterhalten.

 

Ihr Thriller bewegt sich in der Wirtschaftswelt, thematisiert das Bankenwesen, Datenspionage und internationale Intrigen. Was reizt Sie an dieser Thematik?

Tom Winter, der Held von Söldner des Geldes ist Sicherheitschef einer Schweizer Privatbank. Ich wollte eine unverbrauchte Hauptfigur, nicht irgendeinen schlapphütigen Inspektor oder einen versoffenen Privatdetektiv.

Winters Bank hat Kunden auf der ganzen Welt. Als Autor kann ich ihn deshalb überall hin schicken. Das macht Spass. Da ist Tom Winter fast so frei wie Jack Reacher, der Held von Lee Child. Die Themen „Geld“, „NSA“, etc. leiteten sich dann fast automatisch daraus ab. Und praktischerweise gibt es in der Finanzwelt ja viele Bösewichte.

 

Viele Autoren heute und auch in der Vergangenheit haben sich politisch geäussert. Hat ein Autor einen politischen Auftrag in Ihren Augen?

Jeder Mensch hat eine politische Verantwortung. Wir stimmen nicht nur an der Urne, sondern täglich zum Beispiel bei der Wahl der eingekauften Produkte oder unseres Verkehrsmittels ab. Davon sind Autoren natürlich nicht ausgenommen.

 

Was muss ein Buch haben, dass es Sie anspricht?

Eine spannende Geschichte und faszinierende Figuren. Ein gutes Buch muss mich packen und schwingt auch nach dem Fertiglesen noch nach. Aber zum Glück gibt es dafür keine Formel.

 

Gibt es Bücher/Schriftsteller, die Sie speziell mögen, die sie geprägt haben?

Ich kann mich an die „Rote Zora“ und die Serie „Drei Fragezeichen“ erinnern. In der Primarschule hatte ich eine tolle Bibliothekarin, Frau Zürcher, die mich mit Stoff versorgte.

Als Jugendlicher habe ich dann alle Maigrets von Simenon verschlungen. Bei den Thrillern ist le Carré mein Lieblingsautor. Der lebte übrigens selber einmal in Bern und hat einige Szenen hier angesiedelt.

Dann habe ich natürlich all die üblichen Verdächtigen gelesen: Lee Child, John Grisham, Ian Rankin, Denise Mina oder Mark Gimenez und Stuart MacBride. Aber auch die Nordländer inspirieren mich: Mankell, Stieg Larsson, Adler Olsen und Jo Nesbo. Ich lese viel auf Englisch aber mit Söldner des Geldes kann man einmal einen Schweizer Thriller im Original lesen.

Wenn Sie einem angehenden Schriftsteller fünf Tipps geben müssten, welche wären es?

Ich bin kein Fan von Listen oder Ratgebern, denn jeder muss seinen eigenen Weg finden. Aber ich kann sagen, was mir geholfen hat:

Erstens: Just do it! Die Idee, das Bild, der Dialog nützt im Kopf wenig und muss aufs Papier. Am Anfang ist es nie perfekt, aber es ist ein Anfang.

Zweitens: Nicht aufgeben! Ein Buch zu schreiben ist – ausser man ist ein Genie – zu 99% Schweiss, harte Arbeit und nur zu 1% Inspiration.

Drittens: Gut zuhören! Ich habe Söldner des Geldes vielen Testlesern gegeben und sie um ehrliches und hartes Feedback gebeten. Das war nicht immer leicht, aber hat mir geholfen, den Thriller besser, dichter, rasanter zu machen.

Viertens: Habe Spass! Ein schöner Satz, ein cooler Spruch, ein gelungener Cliffhanger macht Spass und erfüllt mich mit Stolz – und motiviert mich dran zu bleiben (siehe oben…;-)

Fünftes: Vertraue auf Dein Glück! Es gibt tausende von Autoren und letztendlich braucht es immer eine rechte Portion Glück. Es gibt einen abgewandelten Bibelspruch, der einen wahren Kern hat: „Gott gib mir Kaffee, um die Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und Wein, um das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann…“

Ich möchte mich bei Peter Beck für diese ausführlichen und interessanten Antworten bedanken, die einen  tollen Einblick in sein Schreiben sowie in sein Leben gewähren!

Milena Moser: Das wahre Leben

Was vom Leben bleibt, wenn man die Masken ablegt

Eine Siedlung in Zürich Seebach, ein Projekt des Miteinanders. Hier treffen problematische Jugendliche auf die an MS erkrankte Yogalehrerin Nevada, zu ihnen stösst Erika Keiner, eine sich als nichts und nichtig empfindende Frau aus gutem Hause, dem sie gerade den Rücken gekehrt hat, um ihr eigenes Leben zu finden.

Man kannte Max und Erika als eingespieltes Paar, das reibungslos funktionierte. Jeder Seitenblick sass, jede Berührung, jede halblaute Bemerkung. Es war gar nicht unbedingt so, dass diese Intimität, diese Vertrautheit gespielt war, es war mehr so, dass sie sich nur in Gesellschaft an sie erinnerten. Erika dachte, dass sie schuld sei an dieser Entfremdung.
Sie fühlte sich nicht geliebt, weil sie nicht liebenswert war. Das musste es sein.

Doch Erika verlässt nicht nur Max – wobei sie nicht mal sicher weiss, ob sie ihn wirklich verlassen kann oder nur, wie er sagt, eine Auszeit nimmt –, sie verlässt auch Suleika, ihre Tochter, für die sie sich insgeheim schämt, zu der sie keinen Zugang mehr findet, weil diese ihn vielleicht nicht will und sich unter Fettschichten davor schützt.

Auch Nevada sucht ihr eigenes Leben, eine Möglichkeit, mit den ständig stärker werdenden Schmerzen umzugehen. Als sie sich in einem Projekt mit schwierigen Jugendlichen wiederfindet, merkt sie, dass sie nicht alleine steht mit ihrer Behinderung, dass nicht alle anderen gesund waren, nur sie krank.

Nevada hatte verstanden, dass, in unterschiedlichem Ausmass, jeder versehrt war. Den einen war es bewusst, den anderen nicht. Die einen litten darunter, die anderen merkten es nicht. Die einen kämpften dagegen an, die anderen liessen es laufen.

Das wahre Leben ist ein modernes Märchen über die Schwierigkeiten des Lebens und die wundersamen Heilkräfte, die es ertragbarer machen. Es ist ein Märchen, das von Menschen handelt, die kein alltägliches Leben führen, in denen man sich aber trotzdem wiedererkennt, weil sie mit denselben Ängsten und Gefühlen zu kämpfen haben, wie man selber. Es ist ein Märchen des möglichen Miteinanders in Siedlungen, in dem jeder seinen Platz hat und jedem geholfen wird, weil alle hinschauen und helfen wollen. Es ist ein Märchen von Menschen, die ihre Fehler haben und lernen, dass Fehler zum Menschsein dazugehört. Die Menschen sehen in Zürich Seebach, dass sie, wenn sie sich ihren Schwächen stellen, ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und damit glücklich sein können. Das Leben ist nachher nicht rosarot und ohne Probleme, aber es ist ein „wahres Leben“, das sich durch diese Wahrheit gut anfühlt.

Das wahre Leben erzählt eine Geschichte, bei der man sich beim Lesen wünscht, dass sie kein Märchen sei, sondern Realität. Man möchte die Koffer packen und in dieses Zürich Seebach ziehen, im Kopf hat man es lesenderweise bereits getan. Milena Moser ist ein Buch gelungen, das man nicht mehr aus der Hand legen mag, weil man tief und tiefer in die Geschichte eintauchen will. Es ist ein Buch, das man aber doch immer wieder beiseite legt, damit die Geschichte nicht zu schnell endet. Die Liebe, mit der Milena Moser ihre Figuren zeichnet, die feinfühlige Art, mit der sie aus deren Leben erzählt, lassen vor den Augen des Lesers eine Welt entstehen, die sich real anfühlt. Man ist geneigt zu sagen, dass hier eine Autorin zugange war, die ihr Handwerk versteht, die es vermag, Märchen zumindest für eine kurze Zeit real erscheinen zu lassen.

Fazit:
Ein einnehmender, feinfühliger Roman, in den man eintaucht und nicht mehr auftauchen möchte. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor
Milena Moser
Milena Moser wurde 1963 in Zürich geboren und absolvierte nach dem Besuch der Diplommittelschule eine Buchhändlerlehre, lebte danach in Paris, wo drei unveröffentlichte Romane entstanden. Zurück in der Schweiz schrieb sie für Schweizer Rundfunkanstalten und verfasste Bücher, welche keinen Verlag fanden, so dass sie kurzerhand zusammen mit Freunden den Krösus Verlag gründete, in welchem ihr erstes Buch Gebrochene Herzen sowie Die Putzfraueninsel erschienen, zweiteres wurde zum Bestseller und später verfilmt. 1998 führte Milena Mosers Weg nach San Francisco, wo sie mit ihrer Familie acht Jahre lebte, danach wieder in die Schweiz zurückkehrte. Milena Moser wohnt in Aarau als freie Autorin und führt in ihrem Schreibatelier Menschen in die Welt des Schreibens ein. Des Weiteren begleitet sich Schulklassen beim Verfassen eines gemeinsamen Romans. 2011 folgte, zusammen mit der Musikerin und Freundin Sibylle Aeberli, der Sprung auf die Bühne, Die Unvollendeten war ein voller Erfolg, ein zweites Bühnenprojekt ist in Planung. Von Milena Moser sind unter anderem erschienen Die Putzfraueninsel (1991), Das Schlampenbuch (1992), Artischockenherz (1999), Sofa,Yoga, Mord (2003), Möchtegern (2010), Montagsmenschen (2012), Das wahre Leben (2013).

MoserLebenAngaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Verlag Nagel & Kimche AG (26. August 2013)
ISBN-Nr.: 978-3312005765
Preis: EUR  19.90 / CHF 29.90
Erhältlich bei jeder Buchhandlung vor Ort sowie online bei AMAZON.DE und BOOKS.CH.

 

 

Nina George – Nachgefragt

 GeorgeNinaNina George
Nina George wird am 30. August in Bielefeld geboren. Sie beginnt mit 14 Jahren im Service zu arbeiten, verlässt die Schule vor dem Abitur, um beim Männermagazin Penthouse eine journalistische Ausbildung zu absolvieren. Die Arbeit im Service behält sie bei, bis ein unverschämter Gast sie so in Rage bringt, dass ihr erstes Buch Gute Mädchen tun’s im Bett –  böse überall entsteht und unter dem Pseudonym Anne West veröffentlicht wird. Seit 1999 arbeitet Nina George als freie Journalistin und Schriftstellerin, schreibt sowohl unter ihrem Mädchennamen Romane um Themen wie die Liebe und das Leben, als Anne West Bücher zu Themen der Sexualität und Erotik, unter ihrem verheirateten Namen Nina Kramer Thriller sowie mit ihrem Mann unter dem Pseudonym Jean Bagnol einen Provencekrimi. Sie hat seit 1992 etwa 24 Romane, Krimis, Science-Thriller sowie ca. 90 Kurzgeschichten und über 500 Kolumnen veröffentlicht. Nina George ist mit dem Schriftsteller Jens „Jo“ Kramer verheiratet und lebt im Hamburger Grindelviertel. Von ihr erschienen sind unter anderem als Nina George Der Weg der Kriegerin (2003), Die Mondspielerin (2010), Das Lavendelzimmer (2013); als Anne West Gute Mädchen tun’s im Bett – böse überall (1998), Schmutzige Geschichten (2004), Sex für Könner (2009), als Nina Kramer Ein Leben ohne mich (2008). Im Oktober erscheint ihr neuer Roman  Commissaire Mazan und die Erben des Marquis, den sie mit ihrem Mann Jo Kramer unter dem Pseudeonym Jean Bagnol geschrieben hat.

Nina George hat sich bereit erklärt, mir ein paar Fragen zu beantworten. Sie tat das auf eine erzählende, persönliche und authentische Weise, die einen  wunderbaren Einblick in ihr Schreiben und Denken gewährt.

Wer sind Sie? Wie würden Sie Ihre Biographie erzählen?

Ich bin die Tochter eines ehemaligen Polizisten, der zu früh starb. Ich bin die Künstlerin, die sich selten so nennt. Ich bin die Moderne Fünfkämpferin, die aus dem Skilift fiel und Olympia im Schnee begraben hat. Ich bin die Nichtstudierte, die sich manchmal nach dem Hörsaal sehnt. Ich bin die, die sich selbst selten mit drei Worten beschreiben kann, außer mit solchen wie: „widersprüchlich, liebend, dual“. Ich habe das Gefühl, mehr als eine Biografie zu haben – eine politische, eine feministische, eine schreibende, eine mit vielen persönlichen Niederlagen, eine mit erstaunlichen Erfolgen; in jedem Fall aber eine ungerade.

Ich denke, ich würde, sofern ich mit 93 noch alle Latten am Zaun hätte, mich von Buch zu Buch, von Mann zu Mann, von Schub zu Schub vortasten, um mein Leben zu erzählen; vor allem aber möchte ich die Dinge erzählen, die eine Wendezeit einleiteten. Tod, Schmerz, Liebe – und die Augenblicke, in denen ich einfach ins Ungewisse sprang.

Ich glaube, zum Schluss wäre es eine Geschichte darüber, was ich alles ausprobiert habe, um am Ende des Lebens nicht zu hadern: Warum habe ich es nicht einfach getan?

Wieso schreiben Sie? Wollten Sie schon immer Schriftsteller werden oder gab es einen Auslöser für Ihr Schreiben?

Ich habe, glaube ich, schon hundert Mal auf diese Frage geantwortet – und suche immer noch nach DER Antwort. Sie verändert sich von Jahr zu Jahr, so, als ob ich erst mit dem Schreiben erfahre, warum zum Teufel ich diesen Beruf gewählt habe. Und nicht einen, der mit weniger Kränkung, Risiko, Geschmacksauseinandersetzungen und Gefühlsuntiefen behaftet ist.

Ich schreibe – unter anderem – weil ich zu viel fühle. Ich nehme Menschen überdeutlich wahr und muss irgendwohin damit. Ihre Trauer, ihren Witz, ihre Hoffnungen, ihr Ins-Leben-geworfen-Sein. Wenn ich von ihnen erzähle, geht es mir besser.

Ich schreibe, weil ich so gern Geschichten erzähle, die trösten, amüsieren, Mut machen. Ich wollte einst die Welt retten, so rette ich vielleicht die eine oder andere Stunde.

Ich schreibe, weil ich gern in den Abendstunden und noch lieber allein arbeite, mir aber ein Job als Concierge im Hotel nur als drittbeste Idee vorkam.

Ich schreibe, weil ich es bereits die längste Zeit meines Lebens tue (21 Jahre von bald 40) und da nicht mehr rauskomme. Ich bin es gewohnt.

Ich schreibe, weil ich dann ständig etwas Neues sehen, erleben, erfahren und davon berichten kann.

Ich schreibe auch, weil Journalistin, Reporterin zu sein, sich so anfühlte, als packte ich die Welt fest mit beiden Händen und als erstickte ich nicht in der Beschränktheit meines Horizonts.

Ich schreibe, weil ich dann mehr Leben als nur meines lebe.

Und weil Stephen King und John Irving so unendlich saucool sind.

Es gibt diverse Angebote, kreatives Schreiben zu lernen, sei es an Unis oder bei Schriftstellern. Ist alles Handwerk, kann man alles daran lernen oder sitzt es in einem? Wie haben Sie gelernt zu schreiben?

Ich unterscheide gern zwischen kreativem Schreiben und professionellem, sprich: erzählendem, fiktionalem, durchdachtem, überarbeitetem Schreiben.

Bei dem ersteren geht es um den Entwicklungsanschub, um die Fähigkeit, aus dem Gebrauchsschreiben heraus zu kommen, seine emotionale, empathische, kreativ-chaotische Seite zu entdecken und in Schwung zu bringen. Das ist wudnerbar, um sich „zu befreien“ und zu entdecken, ob man in sich eine Wortliebe, eine Fabulierlust, ein unentdecktes Feld von Eindrücken, Beobachtungen und Themen besitzt, die man schreibend ausdrücken will. Anstatt sie beispielsweise zu tanzen, zu malen oder in Frickeleien an Sandkunstwerken auszuleben.

Aber um Schreiben als Beruf auszuüben, muss das Handwerk gelernt werden. Niemanden befällt die Muse und er oder sie „weiß“ auf einmal ganz geschmeidig, wie das geht mit der Dramaturgie, der Figurenentwicklung, dem Aufbau von Spannung, der Wirkung von langen Sätzen im Gegenteil zu den kurzen.

Mit 19 gelang mir aufgrund meiner Einsendung einer sehr kraftvollen, sehr wütenden Kurzgeschichte an ein gewisses Magazin meine erste Veröffentlichung. Die Redaktion bildete mich später knapp drei Jahre (bis 1995) aus, danach arbeitete ich – seit 1999 frei – als Redakteurin, Reporterin, Interviewerin für Tageszeitungen und Zeitschriften.

Ich bin es durch den journalistischen Weg gewohnt, das Schreibhandwerk als solches zu betrachten. Ich beschäftigte mich im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr mit Techniken, Instrumenten, Kniffen und Ansichten über das fiktionale Erzählen; außerdem entwickelte ich parallel dazu „meine“ Themen, meine Stimme und meinen Stil.

Noch heute kann ich an keinem Buch vorbei gehen, das mir etwas über das Schreiben erzählt, ohne nicht zumindest rein zu schauen.

Und ich lese jeden Roman, jedes Essay, jede Glosse, zweimal: einmal mit Genuss, und einmal mit dem analytischen Blick: Wie hat sie das gemacht? Wie hat er das hingekriegt?

Heute weiß ich, dass das professionelle Schreiben aus fünf Elementen besteht.

Talent, um sich überhaupt dafür zu interessieren. Disziplin und Zähigkeit, um das Langwierige daran auszuhalten. Resilienz, um nach Rückschlägen, Niederlagen, Ablehnungen oder Kritik wieder aufzustehen. Eine „Erzählreife“. Ja, ein gewisses Lebensalter. Um nicht nur etwas erlebt zu haben, sondern auch, um es durchdacht, durchfühlt zu haben; die wirklich interessanten Dinge habe ich persönlich zum Beispiel erst zu erzählen, seitdem ich rascher auf die Vierzig zuschreite.

Und letztlich: Eine sichere Handhabe der eigenen Schreibe, die, wenn man es zusammen zählt, um siebzig bis hundert größere Fertigkeiten und kleinere Taschenspielertricks umfasst. Von Metaebene bis Wortwitz.

Fragen Sie mich noch mal nächstes Jahr, dann weiß ich schon wieder etwas anderes – oft ist es so, dass der Schriftsteller das, was er Montags konnte, am Mittwoch schon nicht mehr beherrscht. Und was er am Donnerstag nicht probiert, Freitag schon nicht mehr weiß.

Wie sieht Ihr Schreibprozess aus? Schreiben Sie einfach drauf los oder recherchieren Sie erst, planen, legen Notizen an, bevor Sie zu schreiben beginnen?

Ich habe zwei getrennte Schreibleben; das journalistische und das belletristische. Das erstere ist termingebunden, konzepttreu und so dienstleistungstauglich, dass ich es in jeder Gemütslage überall tun kann. Ich habe „ständige Konstrukte“ im Kopf, wie ich was erzählen kann – als Glosse, als Märchen, als These, als Report, als Reißer oder als Story, die vor allem durch ihre schmackhaften Wörter wirkt.

Bei dem belletristischen Weg heißt es im ersten Wurf: zwei Drittel nachdenken und durchfühlen und ein Drittel der Zeit schreiben.

Ich konstruiere und schaffe die Figuren, ich denke solange über ihre Biografien, Verhältnisse und Aufgaben untereinander nach, bis es stimmt. Das kann Monate dauern, manchmal Jahre.

Ich zurre das „Metathema“ jedes Romans vorher ganz, ganz fest – erst, wenn ich mit einem einzigen Satz (bestehend aus nicht mehr als 10, 15 Wörtern ) ausdrücken kann, worum zum Teufel es in der Geschichte wirklich geht – erst dann beginne ich.

Geht es darum, den Platz im eigenen Leben zu finden?

Geht es darum, nach dem Tod der Liebe wieder Mut für ein zweites Mal lieben zu sammeln?

Geht es um die Kleinheit in der großen Welt?

Geht es darum, dass auch Rache nicht tröstet?

Wenn ich dieses unsichtbare Rückgrat nicht habe – und wenn ich nicht das Ende weiß – fange ich erst gar nicht an.

Denn an diesem unsichtbaren Rückgrat mit dem Ende als Anker orientieren sich der Hauptplot und die Nebenstränge, die Wortwahl und die Stilebenen, der Humor und das Tempo.

Im zweiten Wurf folgt das Überarbeiten (und das Buch zur Hälfte neu schreiben).

Im dritten kürzen, umstellen und schleifen. Und zweifeln. Und heulen. Und den Laptop aus dem Fenster werfen und mich am liebsten gleich hinterher.

Ich denke, Nachdenken, Zweifeln und Überarbeitung sind die größten Blöcke, das Schreiben dazwischen ein ewiger Versuch.

Wann und wo schreiben Sie?

Täglich in zwei Schichten, die erste (journalistische) nach der Korrespondenz am Morgen, die zweite Schicht von 17 bis 23 Uhr. Mal am Küchentisch, wie jetzt, mal im Wohnzimmer am Esstisch, mal im Arbeitszimmer. Oft auf Reisen und in Schreib-Exilen, auch dort vorwiegend an Esstischen.

Hat ein Schriftsteller je Feierabend oder Ferien? Wie schalten Sie ab?

Nein. Ja. Weiß nicht.

Das sind Antworten, in die ich Jahr für Jahr anders hinein lebe.

Ich bin immer auf Empfang, auch wenn ich träume, es gibt keine Grenzen zwischen Sein und darüber Schreiben. Ständig geschieht die Welt, vom Tahirplatz bis zum Streit meiner Nachbarn.

Andererseits sind Pausen extrem wichtig und nötig, weil das Schreiben, das Fühlen, das sich für Themen so intensiv interessieren bis man taub und blind für anderes ist, auch wund macht. Zudem braucht es für das Denken dringend die Zeiten, in denen man einfach nix tut, sondern auf das Meer starrt und im Kopf auf Sommerpause stellt. Man muss manchmal leer sein, um sich wieder zu füllen.

Ich erhole mich vom Schreiben vermutlich beim Lesen, es sei denn, das, was ich lese, ist so wunderbar, dass ich sofort wieder Lust zu schreiben habe! Das passiert mir bei Anna Gavalda zum Beispiel ständig. Oder bei Irene Nemirowsky.

Ich schwimme, ich starre aufs Meer, ich koche, ich atme, ich zähle die Wiederholungen beim Rückentraining.

Was bedeutet es für Sie, Autor zu sein? Womit kämpfen Sie als Schriftsteller, was sind die Freuden?

Ich kämpfe mit Bandscheibenvorfällen, E-Bookpiraten, unverschämten Vertragsbedingungen, Selbstzweifeln, eingeschlafenen Händen, unterkühlten Füßen, Wutanfällen, Selbstmordgedanken, Eitelkeiten, Todesangst („lebe ich lang genug, um alles zu erzählen was wichtig ist?“), Faulheitsattacken, Krea-Tiefs ohne auch nur einen einzigen zündenden Einfall. Ich kämpfe mit mir und gegen mich, gegen Vorurteile über das schreibende Leben, ich kämpfe um jeden Cent. Ich freue mich, wenn ich LeserInnen berühre, tröste und zum Lachen bringe, wenn ich Mut mache und wenn ich verstanden werden. Ich freue mich, wenn ich genug Geld gespart habe, um eine Reise zu machen. Ich freue mich, wenn ich mein Buch im Schaufenster sehe oder mir jemand sagt, er habe Sätze darin unterstrichen. Ich bin dann so verlegen und diese Verlegenheit ist unfassbar grandios.

Was es für mich bedeutet? Es ist nicht so, dass „Autorin sein“, gar „Bestsellerautorin“, ständig durch den Tag mitschwebt. Meist merke ich nicht mal, dass ich Autorin, Schriftstellerin bin; ich tue es und gut. Es ist ein bisschen wie mit der Liebe: Ich kann es nicht erklären, warum mir mein Beruf so nah, so wichtig, so überlebensnotwendig ist. Ich vermute, ich bin am meisten ich, wenn ich schreibe. Sonst gehe ich verloren, wenn ich keine Wörter und Buchstaben habe, die mich halten.

Woher holen Sie die Ideen für Ihr Schreiben? Natürlich erlebt man viel, sieht man viel. Aber wie entsteht plötzlich eine Geschichte daraus? Was inspiriert Sie?

„Plötzlich“ geht da nur selten etwas. Ich habe inzwischen sieben Romane geschrieben, und bei jedem gab es einen eigenen Weg, einen eigenen Auslöser und ein eigenes Tempo, wie sich daraus eine ganze, tragende Story über 300 oder mehr Seiten entwickelte.

Mal eine Beobachtung in einem Café: fünf angesäuselte Rentner am Montagmittag in der Bretagne (Die Mondspielerin). Mal eine bekloppte Frühlingsdiät-Anzeige: „Fünf Kilo weniger in drei Tagen: so geht’s!“ (Wie der Teufel es will). Mal eine Zeitungsmeldung auf der letzten Seite unter „Vermischtes“: 52-Jährige Italienerin bringt gesunden Sohn zur Welt – künstlich befruchtetes Ei war zwölf Jahre tiefgefroren (Ein Leben ohne mich, ein Thriller über den Handel mit Sperma und Eiern, unter Nina Kramer). Mal ein Büchlein von Kästner: Die lyrische Hausapotheke (So enstand das Bücherschiff von Perdu in Das Lavendelzimmer). Mal eine Katze, die in einem provencalischen Fünf-Sterne-Hotel höchst elegant eine Thunfischpastete stahl (der Auslöser für den Provencethriller Commissaire Mazan und die Erben des Marquis, den ich mit meinem Mann Jo Kramer gemeinsam unter dem Pseudonym Jean Bagnol schrieb).

Wenn eine Idee trägt, dann ist sie haltbar, über Tage, Wochen, Monate. Wenn sie einfach nur „schön“ ist, aber leider kein Potential hat, sich weiter zu entfalten, vergeht sie von selbst.

Manchmal sind Ideen wie Türen zu Zimmern und Fluren: Bei manchen, oft den funkelhübschen Toren, lande ich nach wenigen Seiten in der Abstellkammer, wenn ich sie weiter verfolge. Bei anderen Ideen, den oft auf den ersten Blick unscheinbaren wie eine Pressspantür, lande ich auf einmal in einem großartigen, weitläufigen Garten mit Schloss, Pool und angeschlossenem Minotaurus-Labyrinth. Wunderbar.

Selfpublishing und E-Books haben den Buchmarkt in Aufregung versetzt. Man hört kritische Stimmen gegen Verlage wie auch abschätzige gegen Selfpublisher. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Vorsichtig optimistisch. Als Wortaktivistin empfinde ich die digitale Literaturwelt als enormes, grandioses Spiel- und Entwicklungsfeld.

Die Möglichkeit, sich selbst mit wenigen technischen Hürden und relativ wenig monetärem Einsatz selbst zu publizieren, rettet all die AutorInnen, die vorher viel zu viel Geld den Pseudoverlagen und Druckkostenzuschuss-Verlagen in den gierigen Schlund gestopft haben. Wer nicht weiß, was genau ich damit meine, schaut bitte einmal hier vorbei: http://www.aktionsbuendnis-faire-verlage.com/web/

Ansonsten gibt es, wie immer im Leben, zwei bis tausend Seiten dieser literaturtechnischen Entwicklung. Es ist erlaubt, mehrere Perspektiven zu haben.

Die kritische: Natürlich wird es viel Banales, Schrottiges, Langweiliges, Eitles, Sperriges, Unlesbares oder sogar frech zusammen Kopiertes (Gercke-Gate) und Nachgeahmtes (Shades of Schlag mich die siebenundzwanzigste) unter den rund 200.000 selbstpublizierten deutschsprachigen E-Books geben.

Sich als LeserIn da durchzusuchen, womöglich Zeit und Geld zu verschwenden, ist ärgerlich und trägt nicht gerade zum Ruf der SP-AutorInnen bei.

Die handwerkliche: Als digitale SP-AutorIn ist man der Frage ausgesetzt: Was selber machen? Was sein lassen? Es ist ja nicht nur Schreiben und Hochladen; die Leistungen eines Verlages sollte man nicht unterschätzen.

Lektorat, Korrektorat, Cover, Schriftbild, Reklame, Vertrieb, Vertrieb, Vertrieb; Abrechnung, Lizenzmodelle – was von dem muss sein, was kann sein, was ist zu vernachlässigen? Welcher Leserschaft reicht das, was ich ohne größeren Aufwand zu bieten habe, wie kalkuliere ich mein 1,99-Euro-Werk, könnte ich davon textliche Verbesserungen bezahlen, z.B. einen LektorIn für rund 2000 Euro oder wenigstens ein anständiges Korrekturprogramm für 300? Kann ich es mir leisten, in Vorleistung zu gehen, ohne Vorschuss, und mir ein „Zubrot“ verdienen, lohnen sich Aufwand und Ergebnis?

Und wie erreiche ich all die Leute (und vor allem die 20 Prozent VielleserInnen!!), die lieber noch auf Papier lesen? Wie gehe ich damit um, dass am Ende des Monats die Rückgaben der E-Books reinkommen? Wie wehre ich mich gegen Plagiate, gegen E-Book-Piraterie? Denn leider machen die Portale nicht vor SP-KollegInnen halt, was ich persönlich noch gemeiner finde: Da stellt sich jemand auf eigene Füße, ohne Verlag, und wird dann frech von Leutchen beklaut, die ihr Tun damit rechtfertigen, der pösen pösen „Content-Mafia“ die Geschäftsgrundlagen entziehen zu wollen. Aber dann bei Indies klauen?!

Die befürwortende: Nicht jede/r SP-AutorIn ist ein von renommierten Verlagen aufgrund von mangelnder Qualität oder Lektoratsresistenz abgelehnter Autor. Die Qindie-Bewegung etwa setzt sich vehement für Qualitätsbewusstsein ein. Und so mancher etablierte Autor versucht, seine Backlist zu pflegen oder mal eine neue Idee, ein neues Genre, per SP auszuprobieren.

Die literatur-künstlerische: SP und digitale Echtzeitveröffentlichung ermöglichen das Erkunden von neuen Genres, eröffnen neue, dynamische äußere Formen des Erzählens. E-Books mit Bildern, Musik oder Links, Twitterstories, Handyromane, digitale Miniaturen, interaktives Erzählen, Fanfiction, Crossover-Projekte, Figuren „besuchen“ andere Romane, kollektives Erzählen in Echtzeit, Probelesen, Protagonisten mit eigenem Facebookprofil, flexible Kommunikationsmöglichkeiten mit den AutorInnen, Brainpools, Fishbowls, Titelgeneratoren … es ist immer gut, wenn Literatur in Bewegung bleibt. Das heißt nicht, dass das Neue besser ist – es ist erst mal nur „anders“.

Gerade wir SchriftstellerInnen haben eine (künstlerische, politische) Verpflichtung, unsere Wahrnehmung dicht am Leben zu haben, auch an den Veränderungen, die unsere eigene Lebenswelt betrifft.

Das Wort ist unsterblich, egal mit welchem Trägermedium es daher kommt – gesungen, in Marmor gemeißelt oder über Satellit aufs Streicheltablet übertragen.

Goethe sagte, alles Schreiben sei autobiographisch. Das stimmt sicher in Bezug darauf, dass man immer in dem drin steckt in Gedanken, was man schreibt. Wie viel Nina George steckt in ihren Geschichten? Stecken Sie auch in Ihren Figuren? Gibt es eine, mit der Sie sich speziell identifizieren?

Ich bin zu 100 Prozent in allen Geschichten – und nirgends ist etwas aus meiner Biografie.

Geht das? Das geht! Natürlich filtert sich das, was ich erzähle, durch meine Gefühls- und Wissenswelt hindurch, sonst wäre es ja einfach nur abgeschrieben, stimmlos, beliebig.

Aber andererseits habe ich als Nina nichts in den Stories zu suchen. Die Figuren haben eine eigene Persönlichkeit, ihre Lebensstationen haben mit meinen nichts gemein und ich habe nicht vor, meine Erzählungen als Friedhof enttäuschter Eitelkeit oder gar als Flaschenpost meiner „Weisheiten“ zu benutzen. Dieses „Was will die Autorin uns damit sagen?“ hat mich als Schülerin schon abgestoßen. Muss der Autor denn immer „was zu sagen“ haben? Kann er nicht einfach mal erzählen, was andere zu sagen haben, oder vom Alltag befreien? Muss er denn immer eine Botschaft haben?

Manchmal ist ein Hauch Echo zu verspüren; doch ob ich in Jean bin oder er in mir? Ich hatte eine Zeit, in der ich wie diese Figur keine Musik hörte, nicht sang, nicht Klavier spielte, und weinend zusammen brach, wenn mich jemand umarmte. Ich hütete mich vor jedem sinnlichen Eindruck, der meine Schutzhülle durchbrechen konnte, die ich aber brauchte, um zu überleben. Das war in den zwei Jahren nach dem zu plötzlichen Tod meines Vaters.

Und es gab auch eine Regung von Marianne, der Mondspielerin, die ich teilte mit Mitte, Ende Zwanzig: Das Gefühl, an der Seite eines ich-bezogenen Mannes gefangen zu sein, der mich niemals mit Koseworten umwerben würde, und an seiner Seite lebendig zu verenden.

Ihre letzten beiden Romane, Das Lavendelzimmer und Die Mondspielerin, handeln beide von unglücklicher Liebe, von Flucht vor dem eigenen Leben und den eigenen Gefühlen, aber auch davon, sich dem Leben (wieder) zu stellen. Wieso haben Sie sich den Geschichten nach dem sogenannten Happy End gewidmet?

Weil das Happy End im Leben nicht vorkommt.

Sie schreiben unter verschiedenen Pseudonymen zu verschiedenen Themen und in verschiedenen Genres. Wie kam es zu dieser Vielfalt? Dürfen wir auf eine multiple Persönlichkeit schliessen? Gibt es ein Lieblingsfach oder ist es immer das aktuelle?

Viefalt empfinde ich als zutiefst menschlich. Wir alle haben ja einen Hang zu mehr als nur einem Lebensthema; und es interessiert mich einfach wahnsinnig vieles. Alles! Und jedes Thema will auf „seine“ Art erzählt werden. Wenn ich über das Klassensystem Frankreichs erzählen will, kann ich das im Krimi spannender als innerhalb eines Beziehungsdramas. Wenn ich über die Macht der Bücher schreiben will, wähle ich den „Entwicklungsroman“, die Queste, in der mein moderner Odysseus, in dem Fall Jean Perdu, sich selbst auf den realen Flüssen und an den virtuellen Meeren von Wörtern sucht. Und wenn ich über die Psychologie der Anziehung oder von der verqueren Erotik von Beziehungsdesastern schreiben will, wähle ich mein Alter Ego Anne West. Es ist alles aus einem Kopf, nur schiebe ich mal die eine, mal die andere Facette mehr nach vorne.

Ihr Mann schreibt auch. Überwiegt der Komfort des sich verstanden Fühlens dadurch, dass der andere die eigene Welt kennt oder kommen sie sich eher in die Quere, weil beide immer wieder in anderen (fiktiven) Welten unterwegs sind?  Wie steht es mit dem Wettbewerb? Vergleichen sie?

Es überwiegt die tiefe Dankbarkeit, verstanden zu sein. Man ist ja sehr asozial in der Hochproduktionsphase eines Romans. Fixiert auf die Figuren, gefangen in der Stimmung und Gemütswelt, versunken in Recherche und zu Tageszeiten am Computer gefesselt, wo andere Menschen gern Freunde treffen, Essen gehen oder ins Kino.

Ich mag es zum Beispiel überhaupt nicht, mich während der Schreibphasen – mehrere Wochen bis Monate – mit echten Menschen treffen zu müssen. Oder nur mit ihnen zu telefonieren, aus meinem „Denkarium“ heraus kommen zu müssen, aus dieser ganz bestimmten Denkfühlschöpfungskonzentration.

Natürlich vergleichen mein Mann und ich uns, es wäre verrückt, nicht hinzuschauen, was der andere tut. Wir erzählen einander immer von unseren Figuren, was die gerade so vorhaben, oder besprechen uns, wenn es bei einem von beiden hakt, er sich in einer Abstellkammer befindet (siehe oben) oder ihm die Ideen davon galoppieren und er nicht weiß, welche er einfangen, welche er ziehen lassen soll. Mit Jo zusammen zu plotten ist ein fast schon erotischer Genuss, und als Scriptdoctor und Motivator ist er mir näher als jeder andere Mensch. Und ich ihm.

Viele Autoren heute und auch in der Vergangenheit haben sich politisch geäussert. Hat ein Autor einen politischen Auftrag in Ihren Augen?

Wenn er sich dem gewachsen fühlt, ja. Aber eine Zwangsbeglückung der LeserInnen durch politische Mahnungen muss nicht unbedingt sein. In der Literaturwelt sollte Platz für alles sein: für die Politik und für die Unterhaltung. Ein Autor, eine Autorin, MUSS nicht politisch sein, um etwas zu sagen zu haben – und, auf der anderen Seite, darf der Autor sich auch nicht als „besser“ empfinden, wenn er den erhobenen Zeigefinger durch seine Elaborate durchschimmern lässt.

Diese Arroganz der Berufsmahner ist mitunter etwas peinlich, wenn sie auf ihre unterhaltenden KollegInnen herunter schauen und nicht begreifen, dass Belehrung auch amüsant, emotional und spannungsreich sein darf.

Man darf aber eines nie vergessen: Oft haben erst die Ausdrucksmöglichkeiten durch die Schrift, durch Bücher Regierungen gestürzt, Missstände aufgezeigt und Freiheit errungen. AutorInnen sind bis heute für ihren Mut, die Wahrheit zu sagen, in Gefängnissen weggesperrt, in Exilen, sie werden verfolgt, ermordet und in Misskredit gebracht.

Weit jenseits von Eitelkeit, Fanfiction und Forbes-Einkommenslisten ist Literatur ein Instrument der Rebellion und der Aufklärung.

Wenn man sich in dieser Tradition sieht, verändert sich automatisch auch die Schreibe, die Haltung und das Selbstverständnis.

Was muss ein Buch haben, dass es Sie anspricht?

Es muss gut riechen. Es muss eine U4 (Rückseite, Umschlaggseite Vier) besitzen, die nicht mit dem üblichen U4-Text-Generator geschrieben wurde, ein Thema haben, das mich interessiert, wobei ich oft überrascht bin, was mich alles interessiert. Zuletzt habe ich ein Buch über eine Sandbank vor Ostfriesland gekauft, davor ein Buch über Synästhesie, und davor einen Krimi, der in den 80er Jahren im schwulen Polizeimilieu spielt. Ich mag es außerdem, die Romane meiner Krimi- und Liebesroman-KollegInnen zu lesen, damit ich weiß, was sie beschäftigt und wie sie die Welt sehen.

Ich mache oft den Aufschlagtest: Das Buch nehmen, auf einer beliebigen Seite aufschlagen und die Seite lesen. Wenn es dort nichts gibt, was mich spontan irritiert oder nervt (wie zu viele Adverbien, Adjektive, verbrauchte Metaphern oder die Unart, keine Satzzeichen zu benutzen und auf Dialoge zu verzichten), dann hat es gute Chancen, mit mir sein weiteres Leben zu verbringen.

Zudem muss die Sprache stimmen, der Erzählrhythmus muss „schwingen“. Es darf gern verrückt sein, ich mag keine Geschichten, die brav in ihren Formaten bleiben. Je non-genriger ein Buch, desto besser. Es wird eh Zeit, dass wir uns mal aus den Formatschubladen befreien.

Gibt es Bücher/Schriftsteller, die Sie speziell mögen, die sie geprägt haben?

Stephen King – Mark Helprin – Dominqiue Manotti – John Irving – Frederick Forsyth – Harold Robbins – Anais Nin – Simone de Beauvoir – Enid Blyton – Elizabeth George – Andrea Camilieri – Elizabeth Dunkel – Anka Radakovich – George R. R. Martin – Asterix & Obelix – Erika Fuchs – Johannes Mario Simmel – Rilke, Lessing und Else Lakser-Schüler – und die Franzosen, die Engländer, die Russen, die griechischen Sagen und Legenden, die Bibel, Gilgamesch und Talmud, John Lassiter und Charles Bukowski, Virginia Woolf und die Herzblattgeschichten in der FAS – ach, verdammt, jedes der bisher rund achttausend Bücher die ich las, die abertausende Zeitungsartikel, haben mich geprägt, verändert, verbessert, ermutigt, sind meine Lebensbegleiter gewesen. Mal nur eine Affäre, mal eine tiefe Liebe, und manchmal auch eine Freundschaft / Feindschaft auf Zeit.

Wenn Sie einem angehenden Schriftsteller fünf Tipps geben müssten, welche wären es?

1)   Es geht nie um dich. Es geht immer um die Geschichte.

2)   Besorg dir jede Menge Schreibratgeber, besuche Seminare, tausche dich in Foren über Tricks, Kniffe und gute Literatur-Agenturen aus, und übe. Schreiben wird besser, je öfter man es tut.

3)   Lies. Lies so viele Stunden wie du schreibst. Und umgekehrt. Wer kein guter Leser ist, wird kein guter Schreiber. Besorg dir einen Bibliothekspass.

4)   Such dir deine Kritiker während des Schaffensprozesses sorgfältig aus. Wenn möglich liebevolle Menschen, die sich mit dem Schreibgewerbe auskennen, oder selbst schon mal professionell geschrieben haben, oder solche, denen du zutraust, dass sie nicht nur geschmäcklerisch urteilen, sondern handfest: „da sind Längen, die Figur ist noch nicht ganz „da“, und hier ist der Dialog etwas hölzern.“

5)   Schreib was du willst. Nicht, was angeblich Trend ist, Trend wird oder Trend sein sollte, noch was andere meinen, was du schreiben kannst, musst oder solltest, um ihnen, dem Feuilleton oder deiner Mama zu gefallen. Schreib, was du willst, und such dein ganzes Leben lang so genau wie möglich danach, immer wieder, und frag dich das auch zwischendurch: Will ich das wirklich schreiben, was ich da gerade schreibe? Wenn nicht: Lösch es und fang noch mal an.

Ich möchte mich ganz herzlich bei Nina George bedanken!

Martin Felder: Meine Nachbarin, der Künstler, die Blumen und der Revolutionär

Autoren und andere Ungereimtheiten

Ein Autor, der einzelne Sätze schreibt, eine Nachbarin mit schönen Blumen, ein Künstler, der die Sätze des Autoren liest und ein Revolutionär, der gegen das System kämpft. Dann zieht die Nachbarin weg, der Autor will  sie suchen und fährt dabei über Hamburg und Berlin bis nach Paris.

Das als Roman ausgewiesene Werk von Martin Felder, Meine Nachbarin, der Künstler, die Blumen und der Revolutionär handelt von wenig anderem als schon im Titel ersichtlich ist. Versteht man unter einem Roman eine längere, zusammenhängende Erzählung um einen oder mehrere Protagonisten, die im Laufe dieser Erzählung eine Entwicklung durchmachen, so fehlt es dem vorliegenden Buch sowohl an der Länge wie auch an der Entwicklung. Der Künstler, dessen Kunst darin zu bestehen scheint, dass er seine gewollte Kunst, nämlich Romane zu schreiben, nicht ausüben kann, steht am Schluss der Geschichte noch am selben Ort wie davor. Er schreibt noch immer Einzelsätze, hat noch immer nicht gefunden, was er wirklich will und sucht – suchen tut er wohl am ehesten einen Inhalt für sein Leben.

Es scheint, als ob es Felder genauso geht wie seinem Protagonisten. Der Leser ist konfrontiert mit Einzelsätzen, die von Menschen und Situationen handeln, die den Alltag in der Stadt zeichnen. Man sieht Menschen Blumen giessen, sieht Rollläden hoch und runter fahren, Kaffee wird getrunken, nachbarschaftliche Gespräche geführt. Ad hoch-Poesie des Alltags quasi, die als Roman verkauft wird. Das Buch geht inhaltlich nicht über das hinaus, was schon im Titel versprochen wird. So gesehen ist der gut gewählt, lässt aber wenig Platz für Überraschungen.

Felders Figuren, der Autor, der Künstler, der Revolutionär und die Nachbarin, bleiben seltsam farblos. Sie haben weder Namen noch Aussehen, man erfährt nur durch die kurzen Sätze, was sie sagen oder tun. Es sind Sätze, die teilweise Hintergrund und Wiedererkennungswert aus dem eigenen Alltag haben, schliesslich trinkt jeder mal Kaffee, redet mit Bekannten oder macht sich Gedanken über die rauf und runter gehenden Rollläden und was sich wohl dahinter abspielt. Felder zeigt sich dabei feinfühlig und mit Blick auf die kleinen Details des alltäglichen Lebens, verpackt diese ab und an auch in subtilen Humor.

Wieso Friseursalons nicht Friseursalons, sondern Schnittstelle oder Rasenmäher hießen, frage ich die Frau mit der Schere und den Haaren unter der Achsel.

Die Alltagsbeobachtungen werden durchsetzt mit Sätzen, die teilweise zusammenhangs- und sinnlos erscheinen

Das Walross watschelt bergauf. Der Seehund humpelt bergab.

oder den Schreibprozess des Autors darstellen:

Einen Satz ohne Satzzeichen wünsche ich mir und erfülle mir den Wunsch gleich selbst

 Als Leser sieht man sich so dem Alltag des Autors ausgesetzt, welcher nicht erzählt, sondern nur beschrieben wird. Man bleibt an der Oberfläche eines staccatohaft dargestellten Daseins. Als Folge dieses Sprachstils, der an die moderne Kommunikation aus Social Media Plattformen erinnert, bleibt das Buch mit seinen Protagonisten gesichts- und konturlos. Auch darin erinnert es an die anonyme Welt des Internets. Es liegt am Leser, diese Welt zu entschlüsseln und einen Sinn darin zu erkennen.

Fazit:
Eine neuartige Form von Literatur, sprachlich gekonnt umgesetzt. Wer neue literarische Wege erkunden will, ist bei diesem Buch sicher an der richtigen Adresse, wer allerdings einen Roman im herkömmlichen Sinne und Figuren mit Wiedererkennungswert und Identifikationspotential erhofft, wird enttäuscht werden.

Zum Autor
Martin Felder
Martin Felder wurde 1974 in Rheinfelden geboren, studierte in Genf Philosophie, Spanisch und Deutsch und absolvierte die Drehbuchwerkstatt der HEF München. Er ist Mitglied der Autorengruppe index, Zürich und des Forums Hamburger Autoren und lebt in Luzern. Wichtigste Auszeichnungen sind der Werkbeitrag für Literatur von Stadt und Kanton Luzern, Prix Jeanne Hersch en Ethique ou Philosophie Morale sowie ein Stipendium der Österreichischen Nationalbank anlässlich der „Tage deutschsprachiger Literatur, Klagenfurt.

FelderNachbarinAngaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 263 Seiten
Verlag: Salis Verlag AG (4. März 2013)
ISBN-Nr.: 978-3905801842
Preis: EUR  24.95 / CHF 38.90

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Erich Segal (*16. Juni 1937)

Erich Wolf  Segal wird am 16. Juni 1937 in Brooklyn, New York City als Sohn eines Rabbis geboren. Er studiert ab 1955 in Harvard klassische Philologie und promoviert 10 Jahre später über antike klassische Komödien. Danach arbeitet er als Gastdozent und Assistent an verschiedenen Universitäten, unter anderem in Yale und München und publiziert eine Vielzahl literaturwissenschaftlicher Werke, wie es zur akademischen Karriere gehört. Er hat neben Drehbüchern und Romanen auch ein Musical geschrieben. 1970 gelingt ihm der Durchbruch als Romanschriftsteller mit seinem Roman Love Story.

Der Ruhm ist nicht nur Segen. In seiner Funktion als Literaturprofessor muss sich Segal dem oft harten Urteil seiner Studenten stellen und auch die Literaturkritik ist nicht nur voll des Lobes, es wird im Gegenteil als „dümmstes, zynischstes und langweiligstes Buch“ (FAZ) und bezeichnet und es heisst, nichts daran sei interessant, ausser dem Erfolg (Spiegel). Der Erfolg der durchaus seichten Geschichte liegt wohl in dem vermittelten Gefühl, welches der Zeit entspricht.

Nach einer Schaffenspause, die Segal braucht, den Tumult um seine Liebesgeschichte zu verarbeiten, fährt Segal fort zu schreiben, sowohl im wissenschaftlichen wie auch im belletristischen Rahmen, beides auf immer höherem Niveau, allerdings mit weniger Erfolg. Erich Segal erkrankt an Parkinson, unterrichtet aber weiter. Zuletzt lehrt er in Oxford und lebt in London, wo er am 17. Januar 2010 an einem Herzinfarkt stirbt.

Werke:
Belletristik:
Love Story (1970; dt: Love Story)
Oliver’s Story (1977; dt: Olivers Story)
Man, Woman and Child (1970; Mann, Frau und Kind)
Class (1985; …und sie wollten die Welt verändern)
Doctors (1988; dt: Die Ärzte / Die das Leben lieben)
Acts of Faith (1992; dt: Die Gottesmänner)
Prizes (1995; dt. Der Preis des Ruhms)
Only Love (dt: Only Love)

Drehbücher:
1967: Yellow Submarine
1970: The Games
1970: Kampf der Talaren
1971: Jennifer on my Mind
1980: Jahreszeiten einer Ehe (A Change of Seasons)

Literarische Vorlage zu einem Film:
1969: Love Story
1978: Olivers Story
1982: Herzen im Aufruhr (Man, Woman and Child)
1998: Nur die Liebe hält ewig (Only Love)

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls

Adel, Geld und andere Befindlichkeiten

Sämtliche Poggenpuhls – die Mutter freilich weniger – beassen die schöne Gabe, nie zu klagen, waren lebensklug und rechneten gut, ohne dass sich bei diesem Rechnen etwas störend Berechnendes gezeigt hätte.

Die Majorin von Poggenpuhl lebt nach dem Tod ihres Mannes, der Major fiel an der Spitze seines Bataillons bei Gravelotte, mit ihren drei Töchtern Therese, Sophie und Manon und dem treuen Dienstmädchen Friederike in ärmlichen Verhältnissen in Berlin. Durch die tatkräftige Unterstützung der drei ungleichen Schwestern – Therese ist standesbewusst und auf den guten Namen bedacht, Sophie praktisch veranlagt und Nesthäkchen Manon lieb und beliebt in jüdischen Bankkreisen – schaffen es die drei Frauen gerad so zu überleben. Neben den weiblichen Poggenpuhls existieren noch Wendelin und Leo, der erste und ältere Sohn pflichtbewusst und ehrgeizig, der jüngere ein charmanter Luftikus und ständig in Geldnöten, beide im Dienste desselben Regimes, in dem schon ihr Vater diente. Nach einem Besuch des Schwagers der Majorin nimmt dieser Sophie mit sich, sie soll als Gesellschafterin für seine Frau auf deren Landgut leben. Der Kontakt nach Berlin bleibt in Briefen bestehen, in einem solchen informiert Sophie ihre Familie auch vom Ableben des Onkels. Dieser Tod läutet denn auch das versöhnliche Ende ein, die hinterlassene Witwe will die Poggenpuhlschen Frauen fortan mit einer kleinen Rente bedenken und Sophie bei sich behalten.

Glücklich machen ist das höchste Glück. Es war mir nicht beschieden. Aber auch dankbar empfangen können ist ein Glück.

Die Poggenpuhls ist ein Roman mit sehr wenig Handlung. Es ist mehr eine Charakterstudie der Familie sowie eine hervorragende Zeitstudie (erschienen ist es 1896). Fontane selbst sagte dazu:

Das Buch ist kein Roman und hat keinen Inhalt, das ‚Wie’ muss für das ‚Was’ eintreten.

Und weiter:

Dass man dies Nichts, das es ist, um seiner Form willen so liebenswürdig anerkennt, erfüllt mich mit grossen Hoffnungen, nicht für mich, aber für unsere liter. Zukunft.

Fontane beschreibt in der ihm eigenen Art die Atmosphäre der verarmten Adelsfrauen. Er zeigt, wo und wie sie wohnen, wie sie sprechen, was sie denken, wo sie sich sehen und womit sie hadern. Dabei entwickelt er seine Figuren hauptsächlich in Dialogen, lässt sie sich selber darstellen in ihren Aussagen oder durch die Einschätzungen anderer. Trotz der eigentlich bedrückenden Lage der Poggenpuhls ist es ein fast heiter zu nennendes Buch, indem vieles in Ironie gepackt und mit einem feinen Humor präsentiert wird. Abgerundet wird das Ganze durch psychologisch-philosophische Erkenntnisse, die nie belehrend, sondern wie nebenbei eingestreut wirken sowie die aktuellen Themen der damaligen Zeit wie die Judenproblematik, Standesdiskussionen sowie das Künstlertum und dessen Wert und Bild in der Gesellschaft.

Fazit:
Detaillierte und unterhaltsame Zeit- und Charakterstudie, grosse Literatur von einem herausragenden Schriftsteller. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor:
Theodor Fontane
Theodor Fontane wird am 30. Dezember 1819 in Neuruppin geboren, wo er später auch das Gymnasium besucht. Nach einem abgebrochenen Besuch der Gewerbeschule beginnt er 1836 eine Ausbildung zum Apotheker, um in die Fussstapfen seines Vaters zu treten und arbeitet nach deren Abschluss als Apothekergehilfe. Daneben erscheinen bereits erste literarische Werke. 1949 hängt er den Apothekerberuf an den Nagel, um als freier Schriftsteller zu arbeiten. Mangels Aufträgen lässt er sich von der Centralstelle für Presseangelegenheiten anstellen, reist in deren Auftrag nach London und berichtet von da unter anderem über Kunst. Es folgen Reisebücher und Theaterkritiken, dann der Beschluss, wieder als freier Schriftsteller arbeiten zu wollen, was in einer Reihe bis heute bekannter Bücher resultiert. Theodor Fontane stirbt am 20. September in Berlin. Werke Fontanes sind unter anderem Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862), Vor dem Sturm (1878), Grete Minde (1880), L’Adultera (1882), Irrungen, Wirrungen (1888), Unwiederbringlich (1892), Effi Briest (1896), Die Poggenpuhls (1896), Der Stechlin (1899).

FontanePoggenpuhlsAngaben zum Buch:
Taschenbuch: 128 Seiten
Verlag: Aufbau Taschenbuch Verlag (18. Februar 2013)
Preis: EUR 8.99; CHF 14.90

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Ellen Berg: Ich koch dich tot. (K)ein Liebesroman

Nicht nur Liebe geht durch den Magen

Auf Zehenspitzen näherte sie sich ihm. Beugte sich über die reglose Gestalt. Sah die starren, weit aufgerissenen Augen. Dann liess sie die Dessertschüssel fallen. Scheppernd zerbrach sie auf dem Natursteinboden. Werner atmete nicht. Er würde nie wieder atmen. Er war tot.

Vivi ist soeben ihren Gatten und Haustyrannen Werner losgeworden. Er starb am Rattengift, welches ins Essen gelangt ist. Ist sein Tod noch ein Zufall, welcher Vivi aber durchaus gelegen kommt, so sind die nächsten toten Männer, welche sich als Enttäuschung entpuppen, geplant. Es wird gekocht, was das Zeug hält, die Folgen lassen nicht lange auf sich warten. Bis das Blatt sich wendet und der Richtige kommt. So sieht es zumindest aus.

Auf locker flockige Weise erzählt Ellen Berg die Geschichte ihrer mörderischen Köchin Vivi. Ihre Suche nach dem richtigen Mann fürs Leben endet immer mit dem Tod. Die im Anhang nachgereichten Rezepte laden zum Nachkochen ein, die nötigen Zusätze für alle Fälle erfährt man im Buch.

Fazit:
Leichte und amüsante Unterhaltung für zwischendurch. Sehr empfehlenswert.

Zur Autorin
Ellen Berg
Ellen Berg, geboren 1969, studierte Germanistik und arbeitete als Reisebegleiterin und in der Gastronomie, wo sie auch die erotische Küche kennenlernte. Sie lebt mit ihrer Tochter auf einem Bauernhof im Allgäu. Von ihr erschienen sind Du mich auch. Ein Rache-Roman (2011), Das bisschen Kuchen. (K)ein Diät-Roman (2012), Den lass ich gleich an. (K)ein Single-Roman (2013).

BergkochdichAngaben zum Buch:
Broschiert: 320 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag GmbH (20. Mai 2013)
ISBN-Nr.: 978-3746629315
Preis: EUR 9.99 / CHF 15.90

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David Wagner – Nachgefragt

DWagnerDavid Wagner wurde 1971 geboren und wuchs im Rheinland auf. Er studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Kunstgeschichte in Bonn, Paris und Berlin. Nach Aufenthalten in Rom, Barcelona und Mexico-Stadt lebt er heute als freier Schriftsteller in Berlin. David Wagner wurde für sein Schreiben bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter der Walter-Serner-Preis, der Dedalus-Preis für Neue Literatur und der Georg-K.-Glaser-Preis. Von ihm erschienen sind unter anderem Meine nachtblaue Hose (2000), Was alles fehlt – zwölf Geschichten (2002), Vier Äpfel (2009), Welche Farbe hat Berlin (2011), Leben (2013). Für sein letztes Werk, Leben, erhielt David Wagner den Preis der Leipziger Buchmesse.

Ich habe bei David Wagner nachgefragt, wie ich mir seinen Schreibprozess vorstellen muss und was ihn zu seinem Buch Leben bewegt hat:

„Leben“ ist eine autobiographische Geschichte, die eine schwierige Zeit Ihres Lebens beschreibt. Was hat Sie dazu bewegt, diese Geschichte zu erzählen?

Ich wollte sie selbst verstehen. Ich wollte dieses wundersame Ereignis Transplantation verstehen. Mir selbst erklären – und das ist mir zu einem Roman geworden, das Erzählen hat sich verselbständigt.

 

Die grösste Angst des Menschen, sagt man, ist die vor dem Tod. Sie haben Todessehnsüchte und fehlenden Lebenssinn beschrieben – Was war schlimmer als die Todesangst?

 Ach, ich glaube oft ist die Angst vor dem Leben viel größer als die vor dem Tod. Tot zu sein ist ja ganz einfach, zu leben ist kompliziert. Man könnte ja so viel tun und machen und anstellen – oder auch gar nichts machen.

 

Wie sind Ihre Erfahrungen nach diesem Buch? Sind die Reaktionen auf sie anders als vorher? Ist die Krankheit zentraler geworden?

Das Buch ist ja noch sehr frisch. Ich bekomme viele interessante Reaktionen, Betroffene schreiben mir, eine Frau, die auf eine Herztransplantation wartet schrieb mir. Vorher? Was war vorher? Ich, die Privatperson spreche ja nicht über meine Krankheit oder mich als Patient. Das Sprechen über Krankheit habe ich ja an die literarische Figur Herr W. ausgelagert. So komme ich zurecht.

 

Goethe sagte, alles Schreiben sei autobiographisch. Woher, wenn nicht aus der eigenen Lebensgeschichte, nehmen sie sonst ihre Inspiration, ihre Ideen?

Goethe hat einfach recht. Bleibt nur zu sagen, ich schreibe auch über all das, was ich sehe, ich bin Phänomenologe. Aber alles, was ich sehe, ist ja auch in meiner Lebensgeschichte, oder? Also…

Wie sieht ihr Schreibprozess aus? Wo und wann schreiben Sie? Planen und recherchieren sie vorgängig oder schreiben sie drauf los?

Beides. Ich plane und schreibe drauf los. Und schmeiße alles weg, verwerfe die Pläne, schreibe neu, verwerfe wieder alles. Immer geht es darum, einen Ton zu finden. Einen Klang, eine Sprache. Ohne den Ton wird es keine gute Erzählung. Recherche immer – aber man muß dann fast alles Recherchiertes auch wieder wegwerfen können, streichen. Faktenverfettete Texte lesen sich ja nicht so schön, oder?

 

Hat ein Schriftsteller je Feierabend oder Urlaub oder sind sie immer auf Empfang? Wie schalten Sie ab?

Nein. Leider nein. Manchmal schalte ich trotzdem ab. Habe dann aber ein schlechtes Gewissen.

 

Was muss ein Buch haben, dass es Sie anspricht? Gibt es Bücher/Schriftsteller, die Sie speziell mögen?

Es muß gut sein! Ha! Wenn ich bloß wüßte, was ein Buch gut bzw. sehr gut macht! Dann hätte ich bisher nur gute Bücher geschrieben…

Na, ich glaube, es muß ehrlich sein.  Die Prosa, die Sprache muß echt und unverstellt sein. Ich muß der Stimme glauben können.

Wenn Sie sich mit 3 Worten beschreiben müssten, welche wären das?

Wenn ich das könnte, wäre ich wohl Haiku-Dichter und weniger Roman-Autor, oder? Und hätte ich mich mit drei Wörtern beschrieben, wäre ich dann nicht arbeitslos? Hätte ich mich dann nicht ausgeschrieben? Werde mich also hüten, mich mit drei Wörtern zu er-schreiben.

 

Ich möchte mich herzlich bei David Wagner bedanken für diese Einblicke in sein Schreiben, für seine offenen & humorvollen Antworten. Ich habe mich sehr über dieses Interview gefreut!

 

Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857)

Heute vor 229 Jahren, am 10. März 1788 kam Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff als zweiter Sohn eines preussischen Offiziers, Adolf Theodor Rudolf von Eichendorff, und dessen Frau Karoline auf Schloss Lubowitz in Oberschlesien zur Welt. Er liebte Abenteuer- und Ritterromane sowie antike Sagen und versuchte sich schon als Kind selber im Schreiben. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Breslau studierte Eichendorff in Halle Jura und Geisteswissenschaften. Er reiste viel, liebte das Theater und war überhaupt Kunst und Kultur sehr angetan.

Nach Abschluss seines Jura-Studiums 1812 nahm Eichendorff von 1813 bis 1815 an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teil. Kurz nach seiner Rückkehr nach Breslau heiratete er, es folgten 4 Kinder, von denen das letzte kurz nach der Geburt starb. 1818 starb auch Eichendorffs Vater, nach dessen Tod viele der hoch verschuldeten Ländereien und Güter verkauft wurden. Ein Verlust, der an Joseph von Eichendorff zehrte, von dem er sich kaum mehr erholte.

Ab 1816 arbeitete Eichendorff im Staatsdienst und arbeitete sich zum Geheimen Regierungsrat hoch. Nach einer schweren Lungenentzündung 1943 quittierte er seinen Dienst 1944 und trat frühzeitig in Ruhestand. Er schrieb hauptsächlich Romane und Erzählungen, in welche er den grossen Teil seines lyrischen Werkes einbaute. 1857 auf, selber zu schreiben, um publizistisch zu betätigen. Er starb im selben Jahr am 26. November in Neisse.

Zum literarischen Schaffen:
Zahlreiche Gedichte Eichendorffs wurden vertont, allen gemein ist die idyllische Darstellung der Natur, die bildliche Sprache:

Mondnacht

Es war, als hätt‘ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt‘.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Entstanden  um 1835, das erste Mal veröffentlicht 1837 zählt das Gedicht zur Spätromantik und gehört in die Gattung der Naturlyrik. Es wurde 1840 von Robert Schumann vertont und zum Mittelpunkt seines Liederkreises gewählt.

Wenn der Himmel die Erde küsst, kann das als Segnung Gottes verstanden werden. Diese träumt von der Erhebung hin zu ihm. Es breitet sich eine Idylle auf der Erde auf, die sich in wogenden Ähren und rauschenden Wäldern ausdrückt. In der sternenklaren Nacht kann sich die Seele des Menschen erheben, durchs stille Land gleiten, in Frieden,  und frei aller Sorgen. Es ist ein Gefühl von Heimkommen in die Geborgenheit.

Heimweh, Erinnerung und Sehnsucht sind zentrale Elemente i Eichendorffs Lyrik. Sicherlich drückt da der nachwirkende Verlust der elterlichen Güter durch.

Eichendorffs bekanntestes Werk war sicher Aus dem Leben eines Taugenichts. Die 1826 erschienene Novelle wiederspiegelt ganz deutlich das Lebensgefühl der Spätromantik. Es handelt von jungen Sohn eines Müllers, welcher (nicht ganz freiwillig, sagt doch der Vater:

Du Taugenichts! Da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich nicht länger füttern.)

in die weite Welt hinaus geht, um sein Glück zu finden. Zufälle und Abenteuer säumen seinen Weg, er wird Gärtner auf einem Schloss, verliebt sich in Aurelie, welche unerreichbar scheint, und wandert weiter. In Italien sieht er sich inmitten farbenprächtigen Lebens und einiger Liebschaften, bis ihn die Sehnsucht nach der Heimat und nach Aurelia die Zelte abbrechen lässt und er zum Schloss zurückfährt. Es folgt die Aufklärung eines Missverständnisses, Heirat und das märchenhafte Happy End. Die Novelle gleicht einem naiven Märchen, in eben dem Ton ist sie auch geschrieben.

Werke

  • Ahnung und Gegenwart, Roman (1810-12 geschrieben, erschienen 1815)
  • Das Marmorbild,  Novelle (1818)
  • Die Freier, Lustspiel in drei Aufzügen (Vorstufen entstanden 1816-1820, fertiggestellt und erschienen 1833)
  • Krieg den Philistern, dramatisches Märchen in fünf Abenteuern (1824)
  • Aus dem Leben eines Taugenichts, Erzählung (1817 begonnen, abgeschlossen 1822/23, erschienen 1826)
  • Auch ich war in Arkadien, Politische Satire in Form eines Reiseberichts (1832 entstanden, 1866 posthum erschienen)
  • Dichter und ihre Gesellen, Novelle (erschienen 1834)
  • Das Schloss Dürande, Novelle (1837)
  • Die Glücksritter, Novelle (1841)
  • u.a.

Welcher Autor ist etwas wert?

Unlängst hat SteglitzMind einen Artikel mit dem Titel „Statt Schriftsteller ist man Schreib-maschine“ ins Netz gestellt. Die Kommentare waren zahlreich. Nun legte sie einen Artikel nach, in dem Angela Charlotte Reichel von ihren Gedanken zum Thema, ihren Zweifeln am Schreiben ohne Verlag, welche schlussendlich auch Selbstzweifel sind, erzählt. Ein sehr offener und nachdenklich stimmender Artikel: „Dabei will ich nur Bücher schreiben“

Was mich wundert? Wieso sich diese Zuschussverlage noch halten.

Was ist so unersetzlich bemerkenswert an einem sogenannten namhaften Verlag? Ich muss jetzt einfach mal aussprechen, wie sehr mich erschüttert, dass sich die Häupter des Suhrkamp öffentlich versuchen gegen selbst errichtete Mauern zu schlagen.

Bestimmt wirklich Geld was wie wann geschrieben wird?

Die Fragen, die ACR aufwirft, sind nicht neu, sie liegen auf der Hand und wurden so vermutlich auch von anderen schon gedacht. Und doch bleibt schlussendlich vieles beim Alten. Aber wie ist es wirklich? Bestimmt wirklich Geld und ein namhafter Verlag, ob etwas geschrieben wird oder nicht, ob etwas taugt oder nicht? Wenn ich all das lese, was momentan so den Markt überflutet, ist vor allem eines klar: Vieles, was von sogenannt namhaften Verlagen gedruckt wird, ist das Papier ( in meinen Augen) nicht wert, auf dem es steht und es ist vor allem meine Zeit nicht wert, die das Lesen mich kosten würde. Literarisch schwach, sprachlich noch schwächer, möglichst neumodisch geplottet und chronifiziert kommt eine Geschichte daher, die nie das hält, was die Kurzfassung zu versprechen scheint. Wer hat das lektoriert? Aus welchem Grund ging das durch die Schere durch und anderes wird zerschnitten, weggeworfen, ignoriert? Ich denke, da ist viel Glück dabei, viel von persönlichen Stimmungen und auch Vitamin B abhängig.

Schaut man auf früher, auf all die grossen Namen der Literatur, fällt auf, dass viele entweder einen Brotberuf hatten oder aber gar nicht etwa auf Rosen gebettet waren. Viele waren von Gönnern abhängig oder lebten am Rande des finanziellen Ruins. Wieso sollte das heute anders sein? Man verklärt das Ganze wohl auch und hält sich an ein paar wenige, die doch recht gut von ihren Büchern leben – oft steckt da auch noch anderes dahinter und sie konnten von einem finanziellen Polster aus losschreiben. Aber ja, die anderen gibt es immer und ab und an denke ich, sie sind wie Lottogewinne und Casinomillionen: Eher selten. Aber sicher machbar.

So oder so wünschte ich mir, dass jeder sich traut, zu schreiben, wonach ihm ist und dem Schreiben an sich den Wert beimisst, den es hat. Klar schreibt sich das hier leicht, denn leben muss jeder und überleben kostet in der heutigen (wie in der früheren) Welt doch was. Und da beisst sich die Ratte in den Schwanz und die Zweifel und Ängste kommen auf: Kann ich wirklich schreiben ohne Verlag? Was, wenn niemand es liest? Was, wenn niemand es kauft? Was, wenn mich alle verachten, weil kein Verlag mich haben wollte?

Eigentlich schade! Und doch so menschlich. Man denkt, wenn einen wer annimmt, dann ist man gut. Man gibt damit dem anderen mehr Wert und misst den eigenen an der Akzeptanz von aussen. Wer bräuchte die nicht? Identität und was wir darin sehen bestimmt sich immer auch durch die Resonanz von aussen. Und ein angesehener Verlag ist dabei nicht die schlechteste Resonanz, die man sich vorstellen könnte. Wie in jedem anderen Beruf auch, wo man auf die „Oberen“ schaut.

Ich hoffe sehr, dass nicht zu viele Bücher nicht geschrieben werden, weil sie ob der oft quälenden Fragen verworfen wurden.