Eine Geschichte: Regeln XVI

Lieber Papa

Erinnerungen sind geschmeidig. Sie lassen sich formen. Manchmal ist auch nicht klar, ob ich etwas wirklich selbst erlebt oder nur gehört habe. Wenn etwas immer wieder erzählt wird, fühlt es sich plötzlich so an, als wäre es erlebt. Dann glaube ich, ins eigene Erinnern zu greifen, wenn ich daran denke, während ich in Tat und Wahrheit nur die Erinnerung von jemand anderem nacherzähle. Auch das ist ein Erinnern, quasi eines der zweiten Ordnung. Ein Erinnern an eine Erinnerung, die selbst auch wieder ein un-fassbares Produkt ist.

An eines erinnere ich mich aber gut: Bei uns gab es immer klare Regeln. Du stelltest sie auf, ich hatte sie zu befolgen. So hattest du alles unter Kontrolle. Vor allem mich.

Wir hatten diesen Spielplatz vor dem Haus. Das Haus lag inmitten anderer Häuser mit eigenen Spielplätzen. Sie alle waren verbunden durch ein Netz von Gehwegen. Keine Autos, keine Gefahren. Wir Kinder zirkulierten zwischen den Spielplätzen, weil auf allen wieder andere Geräte waren und andere Kinder spielten.

So wäre es schön gewesen, aber: Das Wir stimmt nicht. Nur die anderen Kinder zirkulierten, ich durfte nicht weg von dem Spielplatz vor unserem Haus, weil du die anderen nicht sehen konntest von unserem Balkon aus. Wenn also alle anderen weiterzogen, musste ich allein zurückbleiben. Anfangs fragten sie noch, ob ich mitkomme. Sie hörten bald auf damit. Ich gehörte nicht mehr dazu, stand am Rand. «Die kommt eh nie mit.» Sagten sie. Während die anderen immer mehr zusammenwuchsen durch ihre Touren von Platz zu Platz, fiel ich hinaus durch mein Dableiben.

Ich war auch immer die Erste, die heimmusste. «Kinder gehören zu gewissen Zeiten nach Hause.» Sagtest du. «Die anderen haben keine Ordnung.» Dein Ton dabei war eindeutig. Abschätzig. So geht das nicht. Das klang laut mit. Begehrte ich auf, hörte ich, wie undankbar ich sei.

«Ich meine es nur gut.»

Sagtest du.

«Es ist zu deinem Besten.»

Sagtest du. Regeln und Ordnung seien wichtig. Ich glaubte immer, wir seien die einzigen, die diese Regeln und die Ordnung kannten. Ich hätte sie lieber nicht gekannt. Aber das durfte ich nicht sagen. Wie ich nur so sein könne. Fragtest du dann und blicktest mich mit diesen traurigen und enttäuschten Augen an. Und schwiegst. Drehtest dich um und liefst weg. Von mir. Ich war allein.

«Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.»

Der Spruch wird Lenin zugeschrieben. Ich frage mich manchmal, woher dein Kontrollbedürfnis kam. War es ausschliesslich die Sorge um mich? Oder vielleicht mehr eine Angst von dir? Kürzlich las ich sinngemäss:

«So lange ich die Kontrolle über mein Leben habe, habe ich keine Angst, den Halt zu verlieren.»

Ich weiss nicht mehr, wer es sagte, aber ich kann den Gedanken verstehen. Die Angst, dass alles aus den Fugen gerät, kein Stein auf dem anderen bleibt. Die Angst, etwas zu verlieren, das wichtig ist. Die Angst vor dem Unvorhergesehenen, dem Drohenden, das passieren könnte. War dir die Kontrolle darum so wichtig? War sie dein Versuch, mit den Gefahren des Lebens umzugehen? Konntest du so deine Angst vor einem Unglück im Zaum halten? Weil du schon einmal alles verloren hattest – deinen Lebensmut inklusive? Das erfuhr ich allerdings erst viel später, als Kind wusste ich nichts davon. Ich konnte das alles nicht einordnen. Ich machte mir auch keine solchen Gedanken. Ich kannte nur die Regeln und wusste, dass es nicht gut kommt, wenn ich sie nicht befolge. Ich stellte sie ab und zu noch in Frage, aber es gab kein Entkommen. Du warst unnachgiebig.

Ich fand all das oft unfair. Sah all die Freiheiten der anderen und meine engen Grenzen. Spürte all die Gebote und Verbote und dass sie mich von den anderen trennten. Ich habe dir nie eine böse Absicht unterstellt. Glaube ich. Ich tue es vor allem heute nicht. Aber es machte mich traurig. Macht es noch heute, merke ich, während ich das schreibe. Denn ich war ausgeschlossen dadurch. Und allein. Nur dich, dich hatte ich noch, wenn ich die Regeln befolgte. So warst du alles.  

(«Alles aus Liebe», XVI)

Znüni-Gate

Wir hatten ja das Znüni-Problem. Das Kind hatte sich erlaubt, quer über den Schulhof zu laufen und am anderen Ende desselben im Supermarkt seine Zwischenverpflegung preiswert und lecker (im Gegensatz zum Mensaznüni, der ungeniessbar und teuer wäre) zu kaufen. Dafür erntete er Nachsitzen und soziale Arbeit. Am Morgen und über Mittag haben die Schüler hier ganz andere Wege zu bewältigen, wir leben in einer Grossstadt. Man kann sagen, die Aufsichtspflicht wäre schwer, dürften die Kinder einfach den Schulplatz verlassen (wobei der Supermarkt wirklich am Rande desselben ist). Über Mittag bleiben aber ein paar in der Schule, sind quasi am Mittagstisch und damit der Aufsicht übergeben. Sie dürfen dann doch gehen. Weil es ja die Mittagspause ist und einige gehen wollen/können/müssen.

Nun schrieb mir die Lehrerin. Erklärte mir, das sei so von wegen Aufsichtspflicht und sei auch mit der Schulleitung abgesprochen. Der Entschluss stehe. Nicht verrückbar. Ich verstehe es (sprachlich schon, rational jedoch) nicht, kenne aber das Schweizer Schulsystem und weiss: Menschenverstand gilt nicht, man liebt Formalismus. Und: Mal Festgesetztes sitzt. Starr. Und: Ich würde mich im Umgang damit nur aufregen und dazu ist mir meine Zeit zu schade. Wenn ich denke, was ich da alles Positives machen könnte? Und das aufgeben für einen Znüni? Für mich war’s abgehakt. Kind geht nicht mehr vom Schulplatz, will nun aber keine Zwischenmahlzeit mehr essen (finde ich nicht sinnvoll, aber nun denn…).

Da kommt von der Lehrerin eine SMS, ich solle mich doch bitte mit dem Schulleiter in Verbindung setzen. Er könne mir dann nochmals ganz genau erklären, wieso der Entschluss so sei, wie er sei. Ich sitze hier, weiss nicht, ob ich nun lachen oder weinen soll. Was genau soll mir das bringen? Doppelt erklärter Unsinn wird nicht besser. Und wenn er unverrückbar ist, verschwende ich meine Zeit sicher nicht damit. Ich hoffe, ich muss nun nicht zum Nachsitzen, weil ich der Aufforderung nicht nachkomme. Wenn ihr nichts mehr lest von mir, tanze ich im Schulhausareal eine Entschuldigung und binde dabei gemeinnützig Bücher ein. Oder so ähnlich.

Schulmensa – gegessen wird, was es gibt

Das Kind ist nun in der Oberstufe. Also schon gross. Das Kind findet, es sei schon ganz gross, könne alles entscheiden. Für mich ist es mein Kind und wird es wohl immer bleiben – ich kenne meine Gluckenmentalität. Aber zurück zur Oberstufe: Die haben da eine Mensa. Mit Mensakarte, die man online aufladen kann. Man bedeutet: Die Eltern. Das Essen ist überteuert und nicht geniessbar (sagen relevante Quellen). Das Kind sprach von halb gefrorenen Sandwiches und Tiefkühlessen. Ein Schreiben an die Eltern besagte, dass diese gefordert seien, die Karte zu füllen. Als Mindestbetrag standen 100 Franken da. Die Mutter schluckte leer.

Gleich neben dem Schulhaus hat es einen Supermarkt. Mit Frischetheke. Das Kind, preisbewusst, wie es die Mutter es erzogen hat, kaufte sein Essen da. Und kriegte Nachsitzen als Ertrag obendrauf. Es hätte unerlaubt das Schulgelände verlassen. Es gebe Regeln. Die müsse man einhalten. Es gehe um Sicherheit.

Ich finde Regeln grundsätzlich wichtig. Und ja, man muss sie einhalten, wir leben ja in einer Gemeinschaft und Kant, Rawls und Konsorten haben den Gesellschaftsvertrag zur Genüge thematisiert, so dass ich das nun hier nicht nochmals tue. ABER!!!!! Und: Bevor ich mit dem Aber anfange, schreibe ich nichts über den Schulweg, der teilweise mit mehrfachem Umsteigen von einem Verkehrsmittel zum nächsten und einigen vielbefahrenen Strassen obendrauf in einer Grossstadt erfolgt. Ich sage auch nicht, dass ich beim Sicherheitsargument bei einem Gang mal schnell über den Schulhof nur leise schlucke, an Gottfried Kellers Seldwyla und die Schildbürger denke und dann schnell schweige, da ich weiss, dass solche Gedanken nie gut kommen. Drum sag ich nix. Nirgends. Zu KEINEM!

Das Kind muss also überteuertes Essen kaufen, das nicht mal geniessbar ist. Eltern müssen die Karte dafür mit MINDESTENS 100 Franken aufladen (und natürlich nachladen). Preisbewusstsein, das man dem Kind lange eingeimpft hat, muss man ihm nun wieder abtrainieren. Sonst sitzt das Kind nämlich am Mittwoch Nachmittag in der Schule und leistet gemeinnützige Arbeit. Das ist nicht grundsätzlich schlecht, aber unter gegebenen Umständen fragwürdig.

Was bin ich froh, sitzen wir hier auf Rosen gebettet, laden Kindes goldene Kreditkarte (von der Schule ausgegeben) ständig auf, damit das Kind den Tiefkühlfrass überteuert an der Schule kaufen kann.