Politisches: Alles Menschen

Als ich kürzlich die Nachrichten der verschiedenen Portale las, stiess ich bei einem ganz weit unten, nach all den Prominews, nach Informationen zu sich paarenden Seekühen und der Mitteilung, dass Barbie und Ken durch den Film zu beliebten Kindernamen geworden sind, auf die Nachricht (mit ganz kleinem Bild und sehr wenig Text), dass ein Boot mit Migranten „verunglückt“ sei, 40 Menschen würden noch vermisst.

Diese Nachricht macht mich aus verschiedenen Gründen wütend:

Erstens ist die Platzierung in der Zeitung mehr als deplatziert, sie ist menschenverachtend und zeigt einmal mehr, welchen Wert Migranten in unseren Breitengraden haben. Der Umstand, dass sich diese Nachricht in keiner anderen Zeitung, die ich durchsuchte, finden liess, erst in den Radionachrichten hörte ich mehr dazu.

Zweitens ist es kein Unglück, wenn ein Boot kentert, auf dem sich 40+ Menschen befinden, weil sie aus dem Land, das ihre Heimat war, fliehen mussten. Das ist eine von Menschen gemachte Katastrophe. Das kann nur darum passieren, weil Menschen, die in grösster Not sind, die alles hinter sich lassen müssen, weil da, wo sie sind, kein Leben mehr möglich ist, und sie kaum Möglichkeiten haben, das zu ändern. Diese Not wird von einigen wenigen ausgenutzt, indem Unsummen für eine Flucht erhoben werden, die immerhin einen Ausweg erhoffen lässt, auch wenn er mehr als gefährlich ist. Viele Familien legen dann alles, was sie auftreiben können, zusammen, damit wenigstens einer rauskommt.

Ist dieser Eine dann mit vielen anderen (mehrheitlich zu vielen für die Transportmittel, die den Weg in eine bessere Welt versprechen) unterwegs stossen sie an Grenzen – an Landesgrenzen und an Grenzen der Menschlichkeit. Keiner will sie haben. Schaut man auf die jüngsten Verträge, die im Rahmen des Asylwesens geschlossen wurden, sprechen sie eine deutlich menschenverachtende Sprache. Hört man, dass auch die Schweiz Tunesien viel Geld bezahlt, dass sie dafür sorgen, dass die Migranten nie in die Schweiz kommen, bläst das ins gleiche Horn. Dies vor allem auch deswegen, weil der aktuelle tunesische Präsident Kais Saied mit rechtem Gedankengut die Bevölkerung gegen die Migranten aufhetzt, indem er von «organisiertem Bevölkerungsaustausch» spricht und andere Verschwörungstheorien bemüht, so dass es vermehrt zu rassistisch motivierten Übergriffen kommt. Auch werden Migranten in Tunesien in die Wüste verschleppt, wo sie elend sterben. Wir unterstützen ein solches menschenunwürdiges, menschenverachtendes System mit unserem Geld, damit wir uns um nichts kümmern müssen und unsere Hände in Unschuld (zu) waschen (vorgeben) können.

Nennt man nun ein gekentertes Boot ein Unglück, verklärt man all diese Hintergründe. Dann bewirkt man, dass der Empfänger der Nachricht vielleicht einen betroffenen Seufzer von sich gibt, und sich dann wieder den Nachrichten über Barbie, Ken und Seekühe zuwendet. Man bewirkt, dass man wegschauen kann, dass man nicht genauer hinschauen muss, dass man die Hintergründe ausblenden kann und damit die Schuld, die das eigene Land mit seiner Politik auf sich lädt, ignorieren kann. Dann werden weiter Menschen in zu kleinen Booten «verunglücken», während wir in der warmen Stube vor dem Fernseher sitzen.

„Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“ (Hannah Arendt)

Wenn es diese Menschen doch schaffen, auf ihren beschwerlichen Wegen in ein sogenannt sicheres Land zu kommen, ist ihre Odyssee bei weitem nicht zu Ende, dann fängt sie oft erst an: Man will sie nicht haben. Man prüft oft über lange Monate, Jahre, ob diese Menschen (immer Flüchtlinge genannt und damit als Kategorie und nicht mehr als einzelne Menschen mit Schicksalen, Trauer, Leid, Hoffnungen und Wünschen wahrgenommen) überhaupt das Recht haben, hier zu sein (und es mutet fast so an, als hofft man, Gründe dagegen zu finden). Wer ein solches Verfahren nicht mit positivem Ausgang übersteht, ist nicht legal, der muss gehen. Legalität als Entscheidung über das weitere (Über-?)Leben eines Menschen. Vergessen wird dabei folgendes:

„Legalität ist eine Frage der Macht, nicht der Gerechtigkeit.“ (Jose Antonio Vargas)

Ich bin mir durchaus bewusst, dass Migration eine Herausforderung darstellt für alle Beteiligten, auch für die aufnehmenden Länder. Ich bin mir bewusst, dass Lösungen nicht einfach zu finden sind und dass sie auch Umdenken und wohl Abstriche bedeuten würden. Doch sollten wir mit dem Umdenken beginnen, damit nicht noch mehr Menschen einfach ertrinken, nur weil sie sich erhoffen, was eigentlich allen Menschen zusteht aufgrund ihres Menschseins (und in den Menschenrechten verankert):  Ein würdevolles Leben.

Tagesgedanken: Heimatsfern

Aktuell fliehen viele Menschen aus der Ukraine, sie müssen weg, weil ihre Heimat nicht mehr sicher ist, weil sie unter Beschuss steht, weil das Zuhause, das sie mal hatten, kein Ort der Sicherheit und der Geborgenheit mehr ist. Sie lassen damit alles zusammen, was vorher ihr Leben ausmachte: Familie, Freunde, vertraute Gegenstände und vieles, was die eigene Identität ausmacht. Und: Sie werden ab nun kein Zuhause mehr haben, sie sind Fremde. Hannah Arendt hat das nach ihren Erfahrungen in Worte gefasst:

„Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren […] Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“ 

Asal Dardan hat sich diesem Thema in ihrem wunderbaren Buch „Betrachtungen einer Barbarin“ angenommen. Sie schreibt in einer feinen und klaren Sprache mit viel sachlicher Tiefe und auch persönlicher Nähe über das Leben zwischen Welten, über Zugehörigkeit, Herkunft und Identität. 

„Ich selbst habe kein Zuhause verloren, dennoch fällt es mir schwer, mich zugehörig zu fühlen.“

Zugehörigkeit ist ein wichtiges Gefühl, wenn es darum geht, sich als Mensch zuhause zu fühlen. Ohne diese bleibt man Zuschauer und steht damit irgendwie am Rand. Man sieht all die, welche zusammengehören und sich auch als zusammengehörig empfinden, man selbst ist allein und auf einer steten Suche nach dem eigenen Ort im Leben. Solche Gefühle können schon ohne Fluchterfahrung präsent sein, umso schwerer sind die Herausforderungen, wenn man aus allem, was man mal zuhause nannte, gerissen wurde. 

„Meine Eltern mussten das Land, in dem ich geboren wurde, mit einem Koffer und einem einjährigen Kind verlassen; und alles, was sie als Familie hätten sein können, hinter sich lassen.“

Vielleicht sollte man das im Hinterkopf bewahren, wenn man gegen Migranten schimpft und findet, sie sollen sich in allem unseren Sitten und Bräuchen anpassen. Natürlich sollte man sich in einem fremden Land den ortsüblichen Gesetzen anpassen und es ist für die Integration und ein Gefühl des Miteinanders sinnvoll, gewisse Gepflogenheiten zu kennen und gesellschaftliche Normen zu achten, aber: Die Kultur der Heimat mit ihren Verhaltensweisen sowie die Sprache sind oft das Einzige, was Menschen auf der Flucht und in fremden Ländern noch bleibt als zuhause. Dass dieses Halt gibt gerade in schwierigen Zeiten, liegt also auf der Hand. Und: So lange Migranten mit dem Gefühl des nicht Willkommenseins, des Doch-nicht-ganz-Dazugehörens kämpfen müssen, sind Sprache und Heimatskultur das, was sie zumindest untereinander verbindet.

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Buchtipp: Asal Dardan: Betrachtungen einer Barbarin, Hoffmann & Campe Verlag (2021)

Wenn die Fremden dir die Heimat nehmen

Heute las ich auf Facebook einen Artikel, der im Tagesanzeiger erschienen ist. Der Autor Maurus Federspiel (wer auch immer das ist, ich kenne ihn nicht) hat geschrieben. Viel geschrieben. Über „sein“ Quartier in Zürich. Seins ist es, da er da aufwuchs. Nun erkennt er es nicht wieder, nein, schlimmer, er fühlt sich fremd. Weil so viele Fremde da seien. Er hört Sprachen, die er nicht versteht. Und fühlt sich fremd. Schliesslich ist man in der Sprache zu hause. Gerade als Autor. Was auch immer er geschrieben haben mag. Es wäre auch irrelevant, würde nicht da stehen, er sei Autor. Aber darum geht es nicht.

Da haben wir also diesen armen Mann, der mal ein Zuhause hatte, das ihm nun genommen wurde. Durch Einwanderer und fremde Sprachen. Er ist also quasi ein Heimatloser. Und wäre es nicht so furchtbar traurig, wäre es schon fast witzig, da er es ist, weil andere ihre Heimat verlassen mussten und nun in seiner sitzen. Das Leid der Anderen sieht er dabei nicht so wirklich, nur so seines durch ihr Dasein.

Wir haben also einen völlig empathiefreien Jammerautoren, der von einer Zeitung eine Plattform kriegte, über das grosse Leid in Zürich zu schreiben. Es geht uns so unendlich schlecht hier, weil Menschen anderer Herkunft unsere Quartiere besiedeln. Das war früher besser. Ganz sicher. Ok, wenigstens waren es damals Italiener, die mochte man damals auch nicht und beschimpfte sie als Tschingge, aber so im Rückblick waren die quasi welche von uns. Und überhaupt, damals fühlten wir uns noch zu Hause, wir haben mit Giovanni im Sandkasten gespielt. Über die Tschinggen schimpften nur die Eltern – auch nicht alle, die von Maurus vielleicht schon – wir wissen es nicht.

So oder so: Ganz vieles, das auf ganz viel Platz so steht im Artikel, entbehrt jeglicher Wahrheit. Es ist rein emotionales Geschreibe. Emotionen finde ich toll, aber nie da, wo es um Fragen der Ethik geht. Dass eine Zeitung einem so unfundierten, hochemotionalen, durch die Emotionen unprofessionellen Schreiber eine Plattform gibt, finde ich höchst bedenklich. Das hier ist Meinungsmache in Reinkultur.

Nun kann man sagen: Meinungsäusserungsfreiheit. Das ist so. Ich achte die hoch. Medien haben aber den Auftrag, sachlich und informativ zu berichten, damit sich die Leser Meinungen bilden können. Das ist Stimmungsmache. Ich erwarte einen ebenso gelagerten Artikel aus der gegensätzlichen Sicht. Bitte. Sofort. Und dann bitte eine sachliche Analyse. Damit hätte dann der Leser der Zeitung die Chance, emotionale Argumente abzuwägen, und wenn möglich noch die Sachlichkeit dazu zu kriegen. Und vielleicht könnte er sich dann eine Meinung bilden. Und das wäre so wichtig in einer Demokratie.

Nur: Das Können muss erst ausgebildet sein… und daran krankt aktuell die Welt. Schulen sind wie Mastfarmen für Mastgänse, sie füllen die Schüler mit Wissen auf, das diese nie mehr brauchen können. Wer sich das Wissen nicht merkt, fällt heute schon durch die Maschen, wer es sich merkt, konkurriert fortan mit Wikipedia. Die Fähigkeit, selber zu denken, selber Argumente zu kreieren, richtig von falsch zu unterscheiden, das wird aktuell nicht gelehrt. Und das wäre die einzige Möglichkeit des Menschen, gegen Maschinen bestehen zu können. Ansonsten bilden wir viele weitere Maurüsschen aus. Die sind dann Autoren und schreiben Müll. Und Zeitungen drucken sie, Leser lesen sie und nicken. Und im Meer ertrinken jeden Tag still und stumm ein paar Flüchtlinge, die es zum Glück nicht geschafft haben, das Leben von Maurus in seinem Kreis zu beeinträchtigen….

Hier noch der Link zum Artikel: HIER

Und ja, ich war böse. Ich kenne Maurus nicht. Ich würde das aber mit ihm am Tisch ausdiskutieren, wenn er sich meldet.