Tagesgedanken: Ich hab’ ne Meise

«Hätte Gott mich anders gewollt,

so hätt’ er mich anders gebaut.»

Johann Wolfgang von Goethe

Als Kind hörte ich oft den Spruch:

«Du bist anders als die andern.»

Es war nicht als Kompliment gedacht, im Gegenteil, das war einer der grössten Vorwürfe überhaupt, denn die anderen, das waren die Normalen, das waren die, welche waren, wie man zu sein hatte. Nur ich, ich war anders.

Es kam eine lange Phase, in der ich zwar meine Unsicherheiten behielt, aber nie mehr mit solchen Aussagen konfrontiert wurde, im Gegenteil. Ich war in einem Kreis ähnlich denkender und funktionierender Menschen wie ich. Plötzlich war ich in Teilen vielleicht doch anders, aber in anderen auch gleich. Vor allem war da ein gegenseitiges Verständnis für das jeweilige Sosein.

Später hörte ich den Spruch auch wieder, teilweise begleitet mit einem

«Du bist komisch.»

Ich nahm mir das zu Herzen, zumal es mir auch vorkam, dass ich anders war als all die um mich. Zwar war ich mit mir zufrieden, fühlte mich mit mir wohl, doch mit den anderen umso unwohler, Denn: wenn die alle anders als ich waren und sich sicher waren, ihr Sein sei in Ordnung, das Normale eben, dann konnte ich nur daneben sein.

Vielleicht ist die tiefe Wahrheit aber im Ganzen zu sehen: Es gibt solche und andere. Und beide haben Platz. Schön, wenn es gelingt, die (Vor-)Urteile abzulegen und offen das Anderssein des anderen anzunehmen. Wichtig dabei ist jedoch nur eines: So zu sein, wie man sich selbst mit sich wohl fühlt. Allen wird es nie gefallen, doch die leben mein Leben dann nicht, wenn ich mich nach ihnen verbiege. Und so stehe ich heute dazu:

«Ich habe eine Meise. Ich mag die.»

Habt einen schönen Tag!

Tagesbild: Katzendame

Irgendwo las ich mal das Zitat von jemandem, den ich vergessen habe:

«Was andere hinter meinem Rücken über mich sprechen, geht mir am Arsch vorbei.»

Die Wortwahl mag sehr deftig sein, den Inhalt möchte ich mir gerne auf die Fahnen schreiben können. Ich ertappe mich doch immer wieder beim Gedanken: «Was denken wohl die anderen?» Und noch schlimmer: «Ich kann doch nicht XXX, sonst denken andere…»

Damit stand ich mir zu oft selbst im Weg. Lao-Tse sagte dazu:

«Sorge dich um die Anerkennung anderer und du wirst immer ihr Gefangener sein.»

Als ich das erkannt habe, was für ein Befreiungsschlag war das. Natürlich ist es mir auch heute nicht egal, so weit bin ich nicht, aber immerhin steht die Tür des Gefängnisses offen und ich gehe freier rein und raus.

Katzen sind da schöne Vorbilder. Sie machen ihr Ding, kümmern sich wenig um das, was andere wollen oder denken. Wenn sie aber etwas wollen, dann fordern sie es ein. Unbeirrbar.

Habt einen schönen Tag!

Gedankensplitter: Ich sein

«Die Person zu werden, die jemand anders sich für uns ausgedacht hat, ist keine Freiheit – sondern eine Hypothek auf das eigene Leben, mit der die Ängste anderer abgetragen werden. Wenn wir uns nicht wenigstens vorstellen können, frei zu sein, so führen wir ein Leben, das nicht das richtige ist.» Deborah Levy

«Das gehört sich nicht.» Oder:  «Das macht man nicht.» Sätze, die viele wohl aus der Kindheit kennen. Leider bleiben sie oft nicht dort, sondern laufen durch die Jahre mit, schleichen sich in die Gegenwart ein, sitzen im Hinterkopf und kommen hervor, wann es ihnen passt. Sie erklären uns als Stimme aus dem Off, wie das Leben zu laufen habe, wie die Gesellschaft einen haben wolle, was angemessenes Verhalten wäre und was nicht. Sie erzählen uns von passendem und unpassendem Tun und Sein, schelten unsere Mängel und fordern Besserung.

«Sei mal normal!»

Ein Satz, den ich als Kind oft hörte. Ich war es offensichtlich nicht. Was soll das auch sein, normal? Wer setzt es fest? Diese Fragen stelle ich mir heute, damals kamen sie mir nicht in den Sinn, denn da überstrahlte die Trauer, nicht zu genügen, alles. Kinder wachsen in eine Welt hinein, in der sie aber genau das sollen: genügen. In Tabellen wird festgelegt, wann sie was können müssen, wie grosse und schwer sie zu sein haben, wie weit sie zählen, wie hoch sie springen und wie schnell sie laufen können sollten, um zu genügen. Die einzelnen Resultate werden dann in weiteren Tabellen festgehalten, in Zeugnissen als Bewertung notiert, damit anderen die Einordnung leichter falle.

Einerseits waren da die Noten für Mathe, Deutsch und Sport, und ja, sie waren schlimm genug. Aber es ging noch schlimmer: die Bewertung bei «Betragen». Von ‘sehr gut’ bis ‘ungenügend’ führte die Treppe nach unten. Sie zeigte den eigenen Stand in dieser Gesellschaft deutlich. Bei den anderen Noten war man vielleicht dumm, aber immer noch ein guter Mensch, ungenügendes Betragen hingegen war der Todesstoss. Da stand dann schwarz auf weiss:

«Du bist nicht gut genug.»

Ein Satz, der lange nachhallt, teilweise ein Leben lang. Ein Satz, der wie ein Messer zusticht und sich immer mal wieder in der Wunde dreht. Ein Satz wie ein Mal, ein Mahnmal, das dich immer wieder zur Vorsicht aufruft: «Pass bloss auf, dass keiner merkt, dass du nicht genügst». Ein Satz, der bremst («Es wird eh nicht gut sein, was ich mache.»), der untergräbt («Das war nur Glück, dass mir etwas gelang.») und verurteilt («Kein Wunder, gelingt das nicht, ich bin einfach nicht gut genug.»).

Doch was sagt der Satz eigentlich aus? Doch nur, dass man den Anforderungen des Umfeldes, in dem man sich befindet, nicht entspricht. Man hat sich diesen Anforderungen nicht einfach untergeordnet, sondern ist ausgebrochen. Man hat sich nicht einfach unterworfen, sondern hatte etwas entgegenzusetzen. Sich selbst. Ich will damit nicht sagen, dass es keine Regeln mehr geben und keiner die vorhandenen achten soll. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass gegenseitige Rücksichtnahme und ein achtsames Miteinander wichtig und richtig sind für ein friedliches Zusammenleben und das Funktionieren von Gemeinschaften. Nur sollten diese Regeln so sein, dass sie den Mitgliedern der Gemeinschaft entsprechen, indem sie diese als Individuen mit Eigenheiten und Besonderheiten annehmen und sie nicht nach von aussen angelegten Massstäben passend zu machen versuchen.

Wo dies nicht der Fall ist, stellt sich vielleicht die Frage, ob man nicht, statt sich selbst zu verbiegen und doch zu hören und zu fühlen, dass man nicht genügt, das Umfeld wechseln könnte. Ob man sich nicht ein Umfeld suchen sollte, in dem eigene Bedürfnisse und äussere Anforderungen und Angebote besser übereinstimmen.

Lebenskunst: Ich sein – weil ich es darf!

Als Kind der (vor-?)letzten Generation bin ich mit Aufforderungen aufgewachsen, bloss nicht zu laut zu sein, bloss nicht aufzufallen, mich auch ja schön artig zu benehmen. Am besten war es, wenn man mich nicht wahrnahm, ich quasi als braver Mitläufer in dieser Welt existierte, der seine Leistungen gut und richtig (nach äusserem Massstab) erfüllte und wenn eine Wirkung, dann eine positive hervorrief. Unter allem lag die latente Botschaft: Sei nicht so (wie du bist). und bei Nicht-Gelingen sofort: „Du bist nicht gut genug.“

Leider nehmen wir solche Prägungen oft ins Erwachsenenleben, die Sätze setzen sich fest, sie werden Glaubenssätze, an denen wir unser Denken, Fühlen und Handeln ausrichten. Der Satz „Das kann ich nicht.“, die eigene Verurteilung „Ich bin nicht gut genug.“ und das harte Gericht mit uns selbst, wenn etwas misslingt, sind Zeugen davon. Sich davon loszusagen, erfordert Mut. Ja, man könnte anecken, ja, es könnte nicht jedem gefallen. Nur: „So what?“ Gefällt es dir, es nicht zu tun?

Es ist (auch) deine Welt, es ist (nur) dein Leben!

Tagesgedanken: Visionen

Kürzlich sagte ich, dass ich hoffe, dass wir nie wieder in eine Situation kommen werden, in welcher soziale Isolation als Lösung für ein Problem gesehen wird, in der man nicht beachtet, dass Menschen, um leben und nicht nur überleben zu können, andere Menschen, Beziehungen, Begegnungen, Berührungen brauchen. Da wurde mir folgende Frage gestellt:

«Woher nimmst du diese Hoffnung?»

Es war zwar als Frage formuliert und doch schoss mir aus jedem Wort der Unglaube entgegen, dass sie berechtigt sein könnte. Hinter der Frage stand offensichtlich die Einschätzung: Wie kann man so naiv sein, so etwas zu hoffen. 

«Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, weil wir es nicht wagen, ist es schwer.»

Es mag oft schwer sein, die Hoffnung zu bewahren, dass es besser wird, wenn die Vergangenheit immer wieder zeigte, dass eher das Gegenteil davon eingetreten ist. Und doch: Was bleibt, wenn wir nicht einmal mehr die Hoffnung haben? Wie sollen wir weiterleben? Nun ist mit Hoffnung nicht eine blinde Illusion, ein blosses Schöndenken und -reden gemeint. Gemeint ist, noch Visionen zu haben von einer Welt, wie wir sie uns wünschen, und daran zu glauben, dass sie möglich sein kann – dass wir vielleicht auch unseren Beitrag dazu leisten können, dass sie möglich wird.

Ernst Bloch schrieb einst, dass eine Vision das Noch-nicht-Seiende sei. Selbst wenn Dinge gross erscheinen, auch wenn sie fast unmöglich erscheinen: Sie sind denkbar und sie sind wünschenswert. Wieso also gleich aufgeben? Wieso die Vision nicht pflegen, hinschauen, was es braucht, sie zu verwirklichen, daran glauben, dass Dinge sich verändern können, dass der Mensch lernfähig ist, die Welt sich zum Besseren hin wandeln kann? Solche Dinge sind durchaus schon passiert. Wieso nicht wieder?

Wie muss eine Welt aussehen, in der wir uns zuhause fühlen? Was brauchen wir, um ganz Mensch zu sein, um ganz wir selbst zu sein? In dieser Welt müssten unsere grundlegenden Bedürfnisse erfüllt sein. Wir müssten uns in dieser Welt eingebettet fühlen, akzeptiert und angenommen – als die, die wir sind. Wir wünschen uns eine Welt, die einen gesunden und fruchtbaren Boden schafft für unser Menschsein, die einen Raum von Toleranz und gegenseitiger Anerkennung bereitet, in welchem wir uns entfalten können, ohne uns zu verbiegen. 

Und ja, diese Vision einer besseren Welt, diese Hoffnung, dass sie möglich ist, mag naiv klingen, utopisch auch, und doch möchte ich beides haben. Was wäre die Alternative? Für mich undenkbar. Mir ist klar, dass ich die Welt nicht im Ganzen retten oder nur schon verändern werde, aber ich kann versuchen, zumindest mein Umfeld (vielleicht in immer grösseren Kreisen) so zu gestalten, dass es meiner Vision für dieses Leben nahe kommt.

Das Äussern von Visionen ist neben allem anderen ja immer auch ein Ausdruck dessen, was und wer ich bin. Und ich bin schlicht ein Mensch mit Visionen und Hoffnungen. Ich bin ein Mensch mit dem Glauben an das Gute und dem Wunsch, es immer wieder zu sehen. Es gibt ein schönes Lied dazu:

«Ich will ich sein,
anders kann ich nicht sein.»