Edouard Louis: Das Ende von Eddy

Inhalt

«An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heissen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.»

Eddy wächst in einem kleinen Dorf im Norden Frankreichs auf. Hier ist das Leben noch in Ordnung, hier weiss man, wie der Hase läuft, hier ist bestimmt, wie ein Mann und wie eine Frau zu sein hat. Eddy passt nicht hinein, seine Stimme ist zu hoch, seine Gestik zu weiblich, seine Lebenswünsche zu abgehoben. Er wird gemobbt und beleidigt. Krampfhaft versucht Eddy, sich zu ändern. Jeden Morgen betete er sich mantraartig vor, er sei ein Kerl, er übt mit tiefer Stimme zu sprechen, lässt sich mit Mädchen ein. Er tut alles, was er kann, um sein Anders-Sein zu überwinden. Und wenn es nicht gelingt, lächelt er den Schmerz weg, schluckt die Scham herunter. Er versucht weiter, sich bis zur Selbstverleugnung anzupassen, bis er merkt, dass dies nie gelingen wird – es muss eine andere Lösung geben.

Gedanken zum Buch

«Aber das Verbrechen besteht nicht darin, etwa szu tun, sondern etwas zu sein Und vor allem auch so auszusehen.»

«Das Ende von Eddy» ist ein Buch darüber, wie es ist, anders zu sein und wegen diesem Anderssein nicht dazuzugehören. Es ist ein Buch über die Scham, nicht ins Bild zu passen, über die Abwertung durch Sprache, durch Gewalt, wenn man ist, wie man nicht zu sein hat. Ein Buch darüber, mit welchem Schmerz manche Kinder aufwachsen und Erwachsene durchs Leben gehen müssen, nur weil Menschen einen Massstab aufgestellt haben, wie einer zu sein habe, um richtig zu sein.

«…wegen der Besessenheit, mit der ich alles nachahmte, ja nachäffte, was als männlich galt – ‘Wer sich nicht als Mann fühlt, bemüht sich, als einer zu erscheinen, und wer seine innere Schwäche kennt, stellt nach aussen gern Stärke zur Schau.’»

Kinder wollen gefallen, vor allem wollen sie nicht anecken, anstossen, ausgestossen werden. So auch Eddy. Krampfhaft will er in die Rollenklischees passen, die man im Dorf aufgestellt hat. Er übt einen männlichen Gang, behält die Hände in den Hosentaschen beim Reden, um nicht herumzufuchteln, spricht mit immer tieferer Stimme. Er vergisst dabei, dass sich der Körper nicht verleugnen lässt, dass man sich nicht selbst belügen kann, doch diesem zeigt es ihm immer deutlicher. Immer mehr leidet Eddy an seinen Anpassungen und Selbstverleugnungen, bis er es selbst nicht mehr aushält.

«Dieser Willen, diese stets neue, verzweifelte Anstrengung, immer noch auf jemanden hinabzusehen, der unter einem steht, um sich nicht selbst ganz am Ende der sozialen Leiter zu fühlen.»

«Das Ende von Eddy» ist auch ein Buch über Klasse. Es zeigt das Aufwachsen in Armut, zeigt das Stigma des Lebens in Armut und die Herabsetzung durch die Gesellschaft. Nicht nur reicht das Geld für die meisten Dinge nicht, da sind auch die Blicke und die Bemerkungen der anderen. Da sind Zugänge zu Bildung, Kunst, Sprachgebräuchen, die dem Armen verschlossen sind. Die Scham, arm zu sein, lässt sich oft nur dadurch mindern, dass man einen findet, der noch ärmer ist, auf den man hinabsehen kann. So gehört man wenigstens auch einmal zu denen, die spotten und ist nicht nur selbst der Verspottete. Bloss hält man damit das System, unter dem man selbst leidet, eigentlich auch am Laufen.

Edouard Louis gelingt es, seine Geschichte, die von Herabsetzung, Gewalt und Armut geprägt ist, zu erzählen, ohne wehleidig oder sentimental zu sein. Er verurteilt nicht, er beschreibt nur, wie es war. Er zeigt diesen Jungen, der er war, wie er versucht, in einem ihm feindlichen System möglichst heil zu bleiben. Er hält damit der Gesellschaft einen Spiegel vor, den diese dringend benötigt.

Fazit
«Das Ende von Eddy» ist ein grossartiges Buch, ein Buch voller Tiefe und Klarsicht, das die Strukturen unserer Systeme unbarmherzig entblösst und die Grausamkeit des Menschen im Umgang mit Andersartigkeit ans Licht bringt. Es ist ein Buch direkt aus dem Leben, das mitten ins Herz sticht.

Ich sage NEIN

Heute stiess ich auf Facebook auf einen Beitrag eines „Freundes“. Ich gebe zu, ich hatte keine Ahnung, wer das war und wie ich zu der Ehre der Freundschaft gekommen war, aber das sah ich nun: Ein Bild, das er irgendwo kopiert hatte. Zwei sich küssende (wirklich attraktive) Männer. Er schrieb dazu, er fände das widerlich. Die Kommentare schlugen in die gleiche Kerbe. Zwei Männer gingen gar nicht. Liebe sei nur Mann und Frau, alles andere sei pervers. Da wurden Menschen aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung als WIDERLICH (sorry, ich muss das deutlich sagen) bezeichnet.

Ich habe das angeklagt. Ich schrieb einen eigenen Post und sagte, dass ich ein solches Verhalten nicht akzeptiere. ich sagte, dass ich keine Homophoben Menschen in meiner Freundschaftsliste haben will. Ich sagte, dass es nicht angehe, Menschen wegen ihrer religiösen, sexuellen Ausrichtung, Herkunft oder Hautfarbe abzuwerten. Ich wurde angegriffen. Und zwar massiv.

Ich bin aktuell geschockt. Und nachdenklich. Ich bin geschockt, wie viele sich für eine Meinungsfreiheit bei menschenverachtendem Tun einsetzten. Wie ich angegriffen wurde, weil ich Menschen in ihrer Würde, ihrem Sein schützen wollte.

Ich sei ein Ignorant, weil ich mich für Menschenrechte einsetzte. Die Meinungsfreiheit wurde ins Feld geführt, nicht wissend wohl, dass die Menschenwürde, die angegriffen wurde, höher steht. Und: Meinungsäusserungsfreiheit wurde für Diskriminierung, Abwertung geltend gemacht, wo diese doch zum Schutz der Menschenwürde und des Antirassismus einst eingeführt wurde – das mutete schon fast skurril an.

Ich stehe weiter dazu: Ich bin gegen Rassismus, gegen Diskriminierung, gegen Pauschalverurteilungen aufgrund von Herkunft, Religion, sexueller Ausrichtung, Hautfarbe. Wenn das Intolerant ist, dann bin ich das.

Toleranz

Wir sind heute ach so tolerant. Alles was geht, muss gehen, muss akzeptiert werden, denn es geht und wir sind ja – ich sagte es bereits – tolerant. Intoleranz ist das Buhwort schlechthin und so jubeln wir bei allem, was unkonventionell ist, denn es ist neu und da erst zeigt sich der Hardcoretolerante. Da die Menschheit immer weiter forscht, ist immer mehr möglich, was toleriert werden soll und muss, um der toleranten liberalen Gesellschaftsdoktrin zu genügen – und damit fängt das Problem wohl an.

Irgendwo war mal noch Natur. Die hat etwas für uns festgelegt, das am Überleben orientiert war. Sich nun auf rein animalisch naturale Argumentationen zu versteifen wäre sicherlich arg rückständig, nur: Wohin soll und wird es führen? Der Mensch strebt danach, die Natur zu knacken und zu überlisten. Vielerorts ist es gelungen und dem verdanken wir eine gesteigerte Lebenserwartung und vieles mehr. Ganz vieles davon ist gut und wertvoll. Aber: Wie weit kann und wie weit soll man gehen? Und was sind die Konsequenzen?

Soll eine 65-Jährige Vierlinge kriegen? Ein homosexuelles Paar adoptieren dürfen? Wenn die dürfen, dürfte es eine alleinstehende 65-Jährige auch? Wenn nein, wieso darf sie dann Vierlinge kriegen? Und: Wer darf entscheiden? Und: Wo kommen Gesetze ins Spiel?

Wir streben nach Fortschritt und überfordern das Zusammenleben im Rechtsstaat damit selber. Der Forscher ist nur darum bemüht, herauszufinden, was geht. Wenn etwas geht, ändern sich Weltsichten. Wenn die sich wandeln, bemühen sie neue Gesetze. Und da prallen Welten aufeinander. Und Werte. Die einen schimpfen die andern rückständig, die andern argumentieren mit dem, was war, was natürlich ist, damit, was sie kennen. Und jeder fühlt sich im Recht – und keiner weiss, was Recht wirklich ist.

Soll ein homosexuelles Paar Kinder haben dürfen? Wenn sie es lieben und ihm alles geben: Wieso nicht? Aber könnten das nicht auch alte Menschen? Die dürfen aber nach unseren Bestimmungen kein Kind adoptieren. Wieso aber darf eine 65-Jährige dann durch künstliche Befruchtung Vierlinge kriegen? Die zu verbieten würde heissen, jungen Paaren, die keine Kinder kriegen können, die letzte Hoffnung zu nehmen. Fortschritt scheint nicht nur Segen zu sein, er ist vielmehr Herausforderung.

Ich habe auf keine meiner Fragen und Punkte Antworten. Ich sehe nur, dass jeder schnell urteilt, aber selten sich aufdrängende Fragen bedacht werden. Schwarz und weiss wäre zu einfach. Ich versuche Antworten zu finden, aber: Jeder Versuch endet in einer Sackgasse und jede Antwort bringt mehr Fragen ans Licht. Ich bin um jede Antwort, jeden Lösungsansatz dankbar – also her damit.

Rezension: John Irving – In einer Person

Wie einer wird, was einer ist – prägende Begehren

„Mein lieber Junge, bitte stecke mich nicht in eine Schublade. Ordne mich nirgends ein, bevor du mich überhaupt kennst!“ , hatte Miss Frost zu mir gesagt; ich habe es nie vergessen.

Billy wächst in einem kleinen Ort auf, in dem jeder seine Herkunft kennt, weiss wer er ist. Vermutlich wissen es alle besser als er selber, sucht er sich doch in seiner Familie mit einer herrischen Grossmutter und ebensolchen Tante, einem Frauenkleider tragenden Grossvater, einer wunderschönen Mutter und einem abwesenden Vater zu finden.

Wir sind nun mal, wer wir sind, nicht wahr?

Dass in Form des verehrungswürdigen Richard Abbott ein Stiefvater in sein Leben tritt, macht die Suche nicht nur einfacher.

Billy schwärmt. Er schwärmt fürs Theater, für Bücher, vor allem für Miss Frost, die Bibliothekarin. Er schwärmt aber auch für Richard Abbott, für die maskulin wirkende Mutter seiner Freundin Martha, für Kittredge, den attraktivsten Jungen der Schule. Können Schwärmereien falsch sein?

Was wir begehren, prägt uns. Ein flüchtiger Moment verstohlenen Begehrens, und ich wollte Schriftsteller werden und Sex mit Miss Frost haben – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Billys Lebensgeschichte wird anhand seiner sexuellen Gefühle, Wünsche, Prägungen und Erlebnisse (auch erdachten) geschildert. Schulzeit, Freunde und deren Eltern sowie Lebensstationen werden vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Sexualität ausgebreitet.

Sie lassen all diese sexuellen Extreme normal aussehen, das machen Sie.

Dabei vermischen sich im Roman autobiographische und fiktive Momente. Wo die Grenze ist, lässt sich nicht eruieren, was aber für den Roman an sich nicht wichtig ist. Was auffällt in diesem Buch, ist die unglaubliche Belesenheit (oder gute Recherche) von Irving, der sowohl bei der Interpretation von Ibsens wie auch von Shakespeares Werken durchaus fundierte und treffende Analysen liefert.

Das Buch hat wunderbar humorvolle Sätze, es glänzt durch abstruse Gedanken, komische Situationen, witzige Gegebenheiten, tiefgründende Beziehungsanalysen, die subtil in eine scheinbar leicht dahin geschriebene Szene gepackt sind. In all diesen Punkten ist es ein „Irving at his best“. Allerdings wälzt John Irving das Thema Sexualität, Bisexualität, Travestie und viele ähnlich gelagerte Themen bis zum Abwinken. Was schon auf den ersten Seiten offensichtlich ist, wird lange verklausuliert und mit Palaver überdeckt, danach langsam immer offensichtlicher beschrieben (obwohl schon lange klar), um schlussendlich quasi mit der Hammerkeule noch drauf hinzuweisen. Es wäre schön, wenn Irving sich wieder mehr auf seine Stärken – das Skurrile, das Witzige, das Humorvolle und Abstruse – besänne und die gesellschaftspolitischen und aufklärerischen Themen in dieses hinein packte. Hier wollte er – so scheint es – zu sehr auf das Thema hinweisen und hat es damit quasi totgeschrieben.

 

Fazit:
Ein Roman mit Humor, Witz, Absurdität und viel Sexualität – lesenswert, aber gemessen an Irvings Werk kein Meisterwerk. Trotzdem ist es – gemessen an anderem auf dem Markt – empfehlenswert.

 

Zum Autor
John Irving
John Irving wurde 1942 in Exeter in New Hampshire geboren. Als Berufsziele gab er schon sehr früh an: Ringen und Romane schreiben. Irving lebt und schreibt heute abwechselnd in New England und Kanada. Seine bisher 12 Romane wurden alle Weltbestseller und in 35 Sprachen übersetzt. Vier seiner Romane wurden verfilmt. 1992 wurde Irving in die National Wrestling Hall of Fame in Stillwater, Oklahoma, aufgenommen, 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans Gottes Werk und Teufels Beitrag. Von ihm erschienen sind unter anderem (auf deutsch) Garp und wie er die Welt sah (1979), Das Hotel New Hampshire (1982), Gottes Werk und Teufels Beitrag (1988), Zirkuskind (1995), In einer Person (2012).

 

Angaben zum Buch:
IrvingPersonBroschiert: 752 Seiten
Verlag: Diogenes Verlag (27. November 2013)
Übersetzung von: Hans M. Herzog, Astrid Arz
ISBN-Nr.: 978-3257242706
Preis: EUR 12.90 / CHF 19.90

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