Eine Geschichte: Danke sagen (XXIX)

Lieber Papa

Sport war generell ein Horror für mich, ich mochte nichts daran. Am schlimmsten waren aber die Sporttage. Vor so vielen Leuten musste ich zeigen, was ich alles nicht kann. Du bist immer gekommen, wenn du es einrichten konntest.

„Dein Vater ist ja alt.“

Und

„Mir wäre es peinlich, wenn mein Vater an den Sporttag käme. Vor allem, wenn er sich so aufführte wie deiner.“

Als ich das von einer Klassenkameradin hörte, war es mir auch plötzlich peinlich.  Es stimmte schon, die anderen Väter waren viel jünger als du. Zudem: Was sollte man bei mir anfeuern? Von Bejubeln wollen wir gar nicht reden. Es war bekannt, dass ich eine Sportniete war. Der Lehrer wurde nicht müde, mir das immer wieder zu sagen. Am liebsten für einen Lacher bei meinen Mitschülern. Die Disziplin war dabei egal. Ich konnte nichts. Es fehlte mir an allem: Kraft, Schnelligkeit und Motivation. Ich hing wie ein Mehlsack an der Kletterstange, machte an Reck und Barren in etwa dieselbe Figur. Der geworfene Speer kam unweit meiner Füsse wieder runter und ich, wenn ich hochsprang, kriegte dieselben kaum vom Boden. Ein gefundenes Fressen für Herrn Käser, meinen Mittelstufenlehrer.

„Ach schaut, das Lama kommt auch noch ans Ziel.“

Das waren seine Worte am Ziel des 100-Meter-Laufs. Er mochte mich nicht. Ich hatte ihn mal im Deutsch korrigiert. Das zahlte er mir nun doppelt und dreifach heim.

Du wusstest, wie schlimm die Sporttage für mich waren. Du wusstest, dass ich mich schämte. Dass ich litt, weil ich all das, was ich nicht konnte, präsentieren musste und gemessen wurde – an anderen und mit Noten. Du wolltest mir beistehen. Nach der Aussage meiner Mitschülerin bat ich dich immer, nicht mehr zu kommen. Den Spott darüber noch obendrauf, das war zu viel.

„Die anderen sind nur neidisch, weil ihre Eltern nicht kommen.“

Das sagtest du und ich konnte es nicht glauben.

Und dann standest du da. Und feuertest mich beim Schnelllauf an, machtest mir Mut beim Hochsprung, jubeltest, wenn ich den Ball weiter warf als letztes Mal. Es war mir so peinlich. Das zog noch mehr Aufmerksamkeit auf mich, wo ich doch am liebsten im Boden versunken wäre. Und doch war da auch noch etwas anderes. Ich fühlte mich nicht ganz allein. Du warst da. Für mich.

Wenn ich nun zurückdenke, denke ich: Ich habe mich viel zu wichtig genommen. Als ob sich die ganze Welt für meine fehlenden Sportfähigkeiten interessieren würde. Die anderen waren sicher mehr mit sich als mit mir beschäftigt gewesen. Ein paar kritische Aussagen konnten mich verunsichern und alles drum herum negativ erscheinen lassen. Ich entdecke den Zug noch heute manchmal an mir.

Habe ich dir damals je gesagt, dass ich insgeheim froh war, dass du bei mir warst? Dass du sogar die kleinsten Erfolge als solche sahst und feiertest? Interessant. Da, wo ich nichts konnte, hattest du auch keine Erwartung. Da war kein Druck, ich habe dich nie enttäuscht. Im Gegenteil: Du hast mich getröstet, wenn es nicht gut gelaufen war. Hast mich aufgebaut, wenn ich niedergeschlagen nach Hause trottete. Nahmst mich bei der Hand und versuchtest, meine Welt wieder in Ordnung zu bringen.

Wenn ich das so schreibe, kommen mir die Tränen. Ich schäme mich für die späte Einsicht. Ich würde dir gerne sagen, dass ich es heute besser weiss. Dass ich dankbar bin für dein Dasein damals. Ich möchte dir sagen, dass es mir tief drin etwas bedeutet hat, ich es nur nicht zeigen konnte. Vielleicht habe ich es damals selbst nicht gespürt, weil alles andere so laut war und die leise Dankbarkeit zudeckte. Ich hoffe, du wusstest es trotzdem. Irgendwie.

(„Alles aus Liebe“, XXIX)

Lesemonat Februar 2024

Er ist der kürzeste Monat des Jahres, aber dieses Jahr schien es fast, als ob er beweisen wolle, dass viel reingeht. Die Agenda zum Bersten voll, die Termine überschlugen sich, manchmal überschnitten sie sich gar. Und dann war es plötzlich still. Für einen Augenblick hielt alles an, die Welt schien zum Stehen zu kommen, nur um dann in noch grösserer Frequenz zu laufen. Unglücksfälle bei Menschen, die einem wichtig sind, lassen plötzlich alles obsolet erscheinen, man ist zurückgeworfen auf die Verletzbarkeit des Lebens. Langsam gibt es zum Glück ein Aufatmen, zurück bleiben eine grosse Dankbarkeit und Demut.

Ich war bei all dem froh um meine kleinen Zeit- und Rückzugs-Oasen für mich, die ich mit Schreiben, Lesen und viel Nachdenken füllen konnte. Und doch ist all das irgendwie in blasser Erinnerung. Beim Anschauen meiner Leseliste erinnere ich mich wieder, all die Bücher gelesen zu haben, erinnere mich an die Eindrücke dabei und die Freude über gute Sätze, einnehmende Geschichten und mehr. Die Bücher führten mich wieder zu menschlichen Abgründen, zu persönlichen Lebenserfahrungen, es waren Reisen in die Vergangenheit und auch Einblicke in die Welt heute. Es waren Enttäuschungen dabei, aber auch und vor allem viele Highlights, allen voran

  • Suzie Miller: Prima Facie – die Erzählung einer jungen Frau, die Klassengrenzen überschreitet, Karriere macht, sich ein Leben aufbaut und dann vor der Entscheidung steht, ob sie für ihre Überzeugung einstehen und das Risiko eingehen soll, all das aufs Spiel zu setzen.
  • Monika Helfer: Die Jungfrau – Monika Helfer erzählt von ihrem Aufwachsen und denkt denkt dabei zurück an ihre Freundschaft mit Gloria.

Die komplette Liste:

Chandler, Raymond: Die simple Kunst des MordensIn Briefen, Essays, Notizen und mehr äussert sich Raymond Chandler über sich und sein Schreiben, er behandelt Themen wie die Filmwelt und das Verlagswesen wie auch das Handwerk des Schreibens und den Kriminalroman. Er zeigt sich dabei authentisch, ehrlich direkt und teilweise bitterböse, analytisch und auch kritisch.  Ein wunderbar unterhaltsames Buch, welches nicht nur einen Blick auf diverse Themen rund um das Schreiben eines Kriminalromans und alles, was damit in irgendeiner Form zusammenhängt wirft, sondern auch den Autoren Raymond Chandler erfahrbar macht in seinem Schreiben und Denken, mit all seinen Eigenarten. 5
Diporreta, Luca: Sankt Galler SpitzenEigentlich wollen Robert Keller (Leiter der Kripo St. Gallen) und Lea, seine Partnerin ein gemeinsames Wochenende im Wellnesshotel am Bodensee verbringen, doch eine Leiche macht diesem ein vorzeitiges Ende. Mia Schneider, Chefdesignerin der Textilfirma Vadiana, wird vergiftet aufgefunden und Robert Keller ist gefordert. Seine Ermittlungen führen ihn in die Kreise einer angesehenen Textildynastie. Das Opfer, erst überall beliebt, scheint sich einige Feinde gemacht zu haben, doch Robert Keller tappt im Dunkeln. Was hat er übersehen? Ein solider und unterhaltsamer Krimi nach bewährtem Muster.4
Meyer, Thomas: Hannah Arendt. Die BiografieDer Versuch, Hannah Arendts Leben und Werk nicht in Bezug auf die Aktualität heute, sondern aus ihrer Zeit heraus vorzustellen, wobei die 20 Jahre nach der Emigration nach Paris die prägendsten seien. Entstanden ist eine eher langatmige Wanderung durch das Leben und Schreiben einer herausragenden Philosophin, die keine offensichtlichen Ziele oder Absichten zu kennen scheint. Leider sehr unbefriedigend. 
Shalev, Zeruya: Nicht ich – abgebrochenWorum es wirklich geht, fand ich beim Lesen der ersten 27 Seiten nicht. Einige schöne Sprachbilder, eine abstruse Geschichte – ein Buch, in das ich schlicht nicht reinfand
von Schirach, Ferdinand, Alexander Kluge: Die Herzlichkeit der VernunftZwei kluge und klare Denker unterhalten sich über aktuelle Themen, berufen sich auf die grossen Philosophen Sokrates, Voltaire, Kleist und mehr. Sie sprechen über Schuld und Scham, über Freiheit und Verantwortung, über das Leben und die Politik. Wunderbar tiefgründig und zum Nachdenken anregend. 5
Helfer, Monika: Die JungfrauMonika Helfer erinnert sich an ihre Freundin Gloria, erinnert sich an eine Frau, mit der sie in ihrer Kindheit befreundet war und es auf eine Weise blieb trotz räumlicher Trennung später. Schreibend tastet sie sich an die eigenen Erinnerungen heran, versucht das Bild der Freundin lebendig werden zu lassen. Sie tut es in einer eigenwilligen, mal brutal klaren, dann wieder poetisch verschlungenen Sprache. 5
Miller, Suzie: Prima FacieTess kämpft sich mit Ehrgeiz und viel Arbeit durch die sozialen Schichten, kann mit einem Stipendium in Cambridge studieren und später in eine angesehene Kanzlei in London eintreten. Sie merkt, dass sie aus einer anderen Klasse stammt, es wird ihr überall bewusst. Sie versucht, sich anzupassen, die Verhaltensweisen anzueignen, die es braucht, um dazuzugehören, und sie schafft sich Respekt durch ihre Leistung und ihr Können. Alles läuft auf graden Schienen, bis ein einziger, verhängnisvoller Abend alles zunichte zu machen scheint und ihre ganze Welt aus den Fugen gerät. Was soll sie tun? Was steht auf dem Spiel? Ist sie bereit, den Preis für ihre Überzeugungen zu bezahlen? Ein wichtiger Roman, der aufrüttelt und den Blick auf die Fehler im System öffnet.5
Kehlmann, Daniel: LichtspielG.W.Pabst hat es geschafft. Er konnte Europa mit seiner Frau und seinem Sohn rechtzeitig verlassen und in den USA das tun, was er liebte: Filme machen. Der Erfolg hält nur kurz, zudem ist seine Mutter noch in Österreich und nicht bei bester Gesundheit. Mit seiner Familie reist er zurück, um die Mutter in ein Sanatorium zu bringen und dann – so gibt er vor – zurück in die USA zu gehen. Er bleibt, kommt in die Mühlen der Nazis, dreht fortan unter deren Augen. Der rote Pabst von einst plötzlich ein Nazizudiener? Sprachlich grossartig, anfangs wirklich einnehmend, dann Längen entwickelnd. 4
Andreas Gruber: Dinner in the Dark. Achtzehn Crime-StorysDie ersten Kurzgeschichten waren spannend, mitreissend, das Ende blieb bis am Ende offen und es gelang Gruber, kurz vor Schluss noch eine Wendung hinzubringen, die alles in einem neuen Licht zeigte. Dazu seine sprachlich schönen Wendungen und Bilder. Grossartig. Die Sprache blieb, die Spannung verschwand nachher. Langes und seichtes Geplätscher endete jeweils in einem nicht ganz erwarteten Ende, doch selbst das hatte kaum eine Anlehnung an eine Kriminalgeschichte. Schade. Ein fulminanter Start mit einem abrupten Ende schon früh im Buch. 3
Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten – abgebrochenAtemberaubend sollen sie sein, ein Stück Weltliteratur. Leider musste ich dieses dahinplätschernde Nicht-Geschehen nach kurzem abbrechen. Es nahm mir nicht den Atem, als Weltliteratur hätte ich es auch nicht bezeichnet. Schade. 
Bärbel Reetz: Emmy Ball-Hennings. Leben im VielleichtEigentlich eine tragische Geschichte: Eine Mädchen, eine junge Frau mit Tatendrang, Visionen, Träumen und Zielen, die den Mut hat, all diese zu verfolgen, die in die Welt aufbricht, sich alles erkämpfen muss und dabei unten durch geht, die tanzt, dichtet, liebt, sich verkauft, abstürzt, im Gefängnis landet, sich immer wieder aufrappelt. Sie beweist immer wieder, dass sie etwas kann, viele verehren sie – und doch reicht es nie zum Leben, knapp nur zum Überleben. Bärbel Reetz zeichnet das Leben und Schaffen der Emmy Hemmings nach, wobei sie zu viel Gewicht auf all die Figuren um sie herum und zu wenig auf Emmy selbst schaut. Dadurch ist eine sehr langatmige, oft verwirrende, zeitlich hin und her springende Biografie entstanden, welche den Menschen Emmy Hemmings nicht wirklich fassbar macht. 3.5

Gedankensplitter: Glück – «Irgendeinisch»

Als ich ein Kind war, sagte mir mein Vater einmal:

«Du taugst nicht zum Glücklichsein.»

Und ja, die Schwere lastete mehrheitlich auf mir. Wenn ich in meine Kindheit zurückdenke, fallen mir wenige unbeschwerte Momente ein. Aus späteren Jahren zum Glück einige mehr, sonst würde das hier nun eine Trauergeschichte, was schlecht zum Titel passen würde.

Kürzlich sass ich in wunderbarer Begleitung und ausgelassener Stimmung in meinem Lieblingslokal und plötzlich durchzuckte es mich:

«Ich bin glücklich.»

Das Glück ist eine schwierige Sache, da so schwer fassbar. Man kann es nicht einfangen und schon gar nicht bewahren. Man ist ihm ausgeliefert, denn es kommt und geht nach eigenem Gesetz. Es hilft nur eines: Bereit sein, damit es offene Türen einrennt, wenn es kommt. Ich war es wohl und es trat ein. Meine wunderbare Begleitung meinte, ich müsse auch mal über das Glück schreiben, nicht nur über das Schwere. Natürlich war mein erster Impuls der des Widerspruchs. Ich schreibe nicht nur vom Schweren, da ist auch viel Leichtes, Schönes, Gutes drin.

Aber ja. Ich bin Melancholiker. Mindestens. Das Schwere ist präsent. Mittlerweile – wohl auch durch die Milde des Alters – gemässigt. Es hilft wohl, dass das Leben es plötzlich gut mit mir meint. Weil da so viel Schönes ist. Weil ich das Glück habe, meine Leidenschaft leben zu können. Dafür bin ich dankbar. Tag für Tag. Dankbarkeit half mir durch die dunkelsten Zeiten meines Lebens, sie ist auch in den hellen ein Geschenk.

Und dann war da also dieser Glücksmoment. An einem normalen Abend, einfach da. Und vielleicht ist es genau das, was das Leben lebenswert macht: Die kleinen Momente sehen, die gut sind. Sich ihnen ausliefern. Sie geniessen. Im Wissen, es gibt auch andere. Aber im Moment ist alles gut. Alles ist gut.

Und das ist Glück.

Gedankensplitter: Das Wichtige im Blick behalten

«Manchmal ist man nicht in der Lage, zu erkennen, dass so etwas wie Zufriedenheit möglich ist, weil diese Zufriedenheit so klein wirkt neben dem Glück, das man sich wünscht.» Daniel Schreiber, Zuhause

Es gibt die Diskussion, ob ein Glas halb voll oder halb leer ist. Aus der Antwort werden dann die möglichsten und unmöglichsten Schlüsse gezogen, ganze pseudopsychologische Profile lassen sich mal ernst, mal spasseshalber erstellen. Ich denke, es ist weniger relevant, welche Antwort wir geben, als dass wir uns überhaupt mit dieser Frage befassen. Sie setzt voraus, dass wir einerseits überhaupt ein Glas haben und auch die Möglichkeit, es zu füllen. Wir nehmen das selbstverständlich. Den Mangel sehen wir erst im Umstand, dass das Glas nicht ganz voll sein könnte.

Wir leben in unseren Welten und nehmen oft das als selbstverständlich, was wir haben. Wir sind daran gewöhnt und hinterfragen es nicht mehr. Wir sehen nicht die Vorteile, die wir anderen gegenüber haben, wir schätzen nicht all das, was gut ist, da es nicht in Frage gestellt ist. Stattdessen streben wir nach mehr. Ein grösseres Auto, noch eine Handtasche, das 40. Paar Schuhe und vieles mehr stehen auf der Liste der Dinge, die uns zu unserem vermeintlichen Glück noch fehlen.

Und oft sind wir so sehr mit diesen Wünschen beschäftigt, dass wir das verpassen, was wir schon haben. Dann stürzen wir das Glas runter, egal ob halb voll oder halb leer, und geniessen nicht mal wirklich den Inhalt desselben.

Lebenskunst: Das Gute schätzen

Heute Morgen floss ich durch meinen Morgenflow auf der Matte, spürte meinen Körper, fühlte, wie ich fest auf dem Boden stand, mich nach oben streckte, als wollte ich über mich hinauswachsen. Und dann nahm ich die Hände vors Herz und spürte diese Ruhe. Und Dankbarkeit. Und ich formulierte sie in Worte, dankte mir für meine Disziplin, jeden Morgen auf der Matte zu erscheinen. Ich dankte meinen Körper, dass er mich zuverlässig durchs Leben trägt, obwohl ich ihm nicht immer gut geschaut, ihn zeitweise eher schlecht behandelt hatte. Danach spürte ich den Boden noch intensiver, ich spürte, wie ich getragen bin und ich spürte ein Vertrauen in diese Basis, von der aus ich weiter wachsen darf. 

Von Bruder David Steindl-Rast stammen diese wunderbaren Worte:

„Dankbarkeit ist Denken im Einklang mit der kosmischen Intelligenz, die uns in dankbaren Augenblicken inspiriert. Sie kann mehr als eine Stimmung verändern, sie kann die Welt verändern.“ 

Oft nehmen wir das Gute für selbstverständlich, sehen nur die Mängel, und vergeben uns damit so viel. Dankbarkeit für das, was ist, bringt eine Kraft ins Leben, welche hilft, mit Herausforderungen besser umzugehen. Eine Kraft, die Ruhe bringt, wo vorher alles drehte, die Positives ins Zentrum rückt, wo vorher Angst und Not und Ohnmacht herrschten.

Wofür bist du dankbar? Was ist gut in deinem Leben?

Lebenskunst: Dankbarkeit

«Danke doch lieber für das, was du bekommen hast; auf das andere warte und freue dich, dass du noch nicht alles hast.» Seneca


Eine neue Tasche, einen Partner, ein paar Kilos weniger, eine kleinere Nase, mehr Gelassenheit, mehr Kraft, weniger Macken – oft wollen wir ganz viel und denken, wenn wir es nur hätten, wären wir glücklicher. Dann wäre die Welt eine bessere, zumindest unser Leben in ihr wäre besser. Doch: Wenn wir etwas erreicht haben von all dem, kommt immer was Neues dazu – oder es ist noch genug da. Das wirkliche Glück will sich nicht dauerhaft einstellen. Es scheint, als ob immer was fehlte. Und ja, das stimmt, es fehlt etwas Essentielles: Die Dankbarkeit für das, was ist.

Wenn ich auf mein Leben schaue, ist daran so viel Schönes und Gutes. Ich habe ein schönes Dach über dem Kopf, habe wunderbare Beziehungen zu grossartigen Menschen, ich habe genug zu essen, die Möglichkeit, meiner Leidenschaft zu folgen. Ich hatte das Glück, gute Ausbildungen absolvieren zu können, mein Leben frei und unabhängig zu leben, und ich lebe in einem Land, das mir noch viel mehr Freiheiten zugesteht. Wie viel davon nehme ich als selbstverständlich wahr, denke nicht weiter drüber nach neben all dem Wünschen? Wie wäre es, einfach mal dankbar zu sein für all das, was nämlich alles andere als selbstverständlich ist für ganz viele Menschen auf dieser Welt?

Dankbarkeit ist ein Gefühl, das Glück bringt. Es ist undenkbar, wirklich unglücklich zu sein, wenn man ganz viel Dankbarkeit im Herzen fühlt für das, was ist. Das Gefühl der Dankbarkeit, immer wieder bewusst ins Gedächtnis gerufen, kann auch helfen, wenn wir mal wieder hadern. Wenn wieder einmal Wünsche da sind, die sich nicht erfüllen lassen, zumindest nicht gleich: Wieso nicht auf das Gegenteil konzentrieren? Weg vom Mangel an dem, was wir wollten, sondern hin auf die Fülle, was da ist?

Dankbarkeit hilft auch in schwierigen Lebenssituationen, wenn das Leben seine Krallen zeigt. Wenn wir leiden, weil Umbrüche stattfinden, die Gesundheit instabil ist, wir uns verletzt fühlen oder benachteiligt. Sich dann hinzusetzen, Tag für Tag, und aktiv ins Gedächtnis zu rufen, was neben all dem Schweren an Schönem im Leben ist, für das wir dankbar sein können, wird zwar nicht die unschönen Umstände beseitigen, es hilft aber, innerlich etwas mehr Ruhe und Kraft zu entwickeln, aus der heraus wir dann das Schwere besser (er-)tragen können. Ich habe in schwierigen Zeiten immer ein Dankbarkeitstagebuch geführt. Es hat mich durch die Zeiten getragen. Und wenn mir mal nichts in den Sinn kam, weil zu viel Dunkles die Sicht versperrte, blätterte ich in den alten Aufzeichnungen und fand immer etwas, das noch immer gut war, so dass ein wenig Licht ins gefühlte Dunkel kam.

Wofür seid ihr dankbar?

5 Inspirationen – Woche 22

Was ist mir diese Woche begegnet, hat mich diese Woche inspiriert?

  • Ich hörte einen Podcast mit Remo Largo. Sein Lebenswerk ist beeindruckend genug und wohl den meisten bekannt, was mir von diesem Podcast speziell geblieben ist, sind zwei Dinge: Jeder Mensch ist einzigartig, es gab ihn nie vorher und wird ihn nicht mehr geben. Der Mensch ist bestimmt durch seine Anlagen, die er nicht verändern kann. Er kann seine Möglichkeiten aber ausschöpfen und genau das zu tun gibt dem Leben auch einen Sinn. Es geht also darum, sich selber kennenzulernen und zu sehen, wozu man in der Lage ist, was einem liegt, weil es in einem angelegt ist. Das Zweite war sein Spruch vom Getriebensein: Schöpferische Menschen seien immer getriebene, sie wollen nicht, sie müssen schaffen. Das kenne ich von mir, merke, dass ich innerlich unruhig und unzufrieden werde, wenn ich nicht kann, weil äussere Umstände dazwischen kommen. Wie oft hörte ich, ich solle gelassener sein, es käme ja ein neuer Tag. Aber nein, das geht nicht. Irgendwie spürte ich wie eine Bestätigung, so sein zu dürfen.
  • Ich las einen Artikel mit einem Interview mit Francis Fukuyama, Professor in Stanford, Politikwissenschaftler und politischer Ökonom. Er vertritt darin eine Sicht, die ich seit langem – leider oft auf verlorenem Posten – teile: Wir reiten unsere Demokratie zugrunde. Offene Dialoge finden kaum mehr statt, jeder versucht krampfhaft, die eigene Meinung als der eigenen Identiät geschuldete Maxime hochzuhalten, andere Argumente werden ausgeblendet, beschimpft, in den Sozialen Medien, welche praktisch der Totalersatz früherer Marktplätze und Stammtische sind, geblockt und damit unsichtbar gemacht. Genehm ist, was einem entspricht. So ist keine Demokratie möglich, die wirklich noch beinhaltet, was der Begriff verheisst.
  • Kürzlich sass ich beim Nachtessen und mir ging spontan durch den Kopf, wofür ich alles dankbar bin. Ich hatte – vor allem in schwierigen Zeiten – ein Ritual, mir jeden Abend drei Dinge zu notieren, für die ich an dem Tag dankbar war. Das half mir, den Blick vom Dunkel ins Licht zu heben, das half mir, einen klareren Blick zu bewahren. Es kam dann eine Zeit, in welcher sich die drei Punkte jeden Tag hätten wiederholen können. Nicht, dass nichts mehr schlecht war, aber das Gute war immer auch im Blick und half, die Waage im Gleichgewicht zu halten. Heute dachte ich an die Dankbarkeitsübungen zurück, war dankbar, sie in dunklen Zeiten zur Hand gehabt zu haben. Und ich spürte das wunderbare Gefühl, das Dankbarkeit in mir auslöste. Einfach mal wieder hinschauen. Dankbar sein. Danke sagen. Es tut so gut.
  • Manchmal ertappe ich mich dabei, zu viel zu wollen. Ich schreibe ganze Listen, was ich unbedingt an dem Tag reinbringen will, darunter auch ganz viele kreative Projekte. Und dann bleibt die Inspiration aus, die Schaffenskraft versiegt, ich sitze da und bin unzufrieden. Ich habe gemerkt, dass es oft mehr bringt, ohne Vorsätze, ohne Absichten an die Dinge heranzugehen. Vielleicht mich einfach mal ein wenig treiben lassen zuerst. Sehr oft springt mich dann etwas an, das mich inspiriert, das einen Gedanken auslöst, aus dem sich dann ganz viel entwickelt. Und einmal dran, läuft der Tag nachher wie von selber. Vielleicht ist dies dieses „In der Ruhe liegt die Kraft“?
  • Abschliessen möchte ich mit einem Gedicht. Zwar sind die Temperaturen schon sommerlich draussen, aber ich lasse Ludwig Uhland doch nochmals den Frühling preisen:

Frühlingsglaube

Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Ende.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiss nicht, was noch werden mag,
Das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
Nun armes Herz, vergiss die Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden.

Ein Gedicht, das Hoffnung macht, das nicht nur den Frühling lobt, sondern darauf hinweist, dass nach kargen, kühlen, düsteren Zeiten auch wieder andere kommen. Wie tröstlich, wenn man das in den schweren Zeiten im Sinn behalten kann.

Ich hoffe, es war was für euch dabei, das euch angesprochen hat. Wenn ihr etwas habt, das euch diese Woche angesprochen, bewegt, inspiriert hat – ich würde mich freuen, wenn ihr davon berichten würdet. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende und einen guten Start in die neue Woche!

5 Inspirationen – Woche 19

Eine schöne Woche liegt hinter mir, das Highlight war sicher der Muttertag mit einer wunderschönen Überraschung und dem Brunch mit meiner Mutter. Trotz miserabler Wetterprognosen schien dann und wann die Sonne, die ich sehr genossen habe, was will man mehr?

Was ist mir diese Woche begegnet, hat mich diese Woche inspiriert?

Dürrenmatt schwankte am Anfang, ob er Maler oder Schriftsteller werden solle, entschied sich dann fürs Schreiben, da er sich nicht aufraffen konnte, in eine Kunstschule zu gehen. Er war ein Autodidakt und wollte das auch bleiben, wollte seine eigene Vorstellung als Massstab haben. Das allein fand ich schon eine eindrückliche Sichtweise, aber noch mehr hat mich angesprochen, dass er sein Leben lang zeichnete und malte, dies aber nur für sich tat, ohne es an die Öffentlichkeit zu bringen. Das sei sein Schonraum gewesen, der Raum, wo er bei sich war und keiner Kritik ausgesetzt. Das Bild eines Schonraums als Raum, in dem man sicher ist, sich selber sein kann, seine Ideen und sein Wesen ausleben kann, das fand ich schön und irgendwie wichtig.

  • Ich schaute den Film „Die Luftbrücke – Nur der Himmel war frei“ – die Verfilmung der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als die Sowietunion den Westteil Berlins von der Versorgung abschnitten und die Amerikaner die Bevölkerung nur über eine Luftbrücke mit dem Nötigsten versorgen konnten. Erstens fand ich es spannend, ein historisches Ereignis so verbildlicht zu sehen, zweitens regte der Film auch sehr zum Nachdenken an. Ich kann ihn nur empfehlen.
  • Mein Lebensmotto seit Jahren stammt aus einem Rilke-Gedicht: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“. Diese Vertonung kenne ich schon lange, stiess kürzlich wieder drauf und möchte sie gerne mit euch teilen, weil sie so wundervoll ist:
  • Nicht neu, aber es gibt immer wieder Anlässe, mir dessen bewusst zu werden: Dankbarkeit ist so wichtig. Und sie tut so gut. Einfach mal beim durchs Leben treiben Lassen innehalten und hinschauen, was alles gut ist, was wir für selbstverständlich nehmen, obwohl es das eigentlich nicht ist. Und dankbar sein dafür.
  • Ab und an inspiriere ich mich selber. Ich habe bei Twitter seit langem einen angehefteten Text.

„Notiz an mich: Ich muss nicht alles können. Ich muss nicht jedem gefallen. Ich muss nicht alles wissen. Ich muss nicht jeden mögen.“

Ab und an lese ich ihn wieder und frage mich: Habe ich es schon ganz verinnerlicht oder arbeite ich noch dran? Ich denke, es geht immer besser, aber ab und an tappe ich noch in Fallen und hadere doch mit Dingen, die ich nicht weiss, Menschen, von denen ich mich nicht akzeptiert fühle. Es ist ein Prozess…

Ich hoffe, es war was für euch dabei, das euch angesprochen hat. Wenn ihr etwas habt, das euch diese Woche angesprochen, bewegt, inspiriert hat – ich würde mich freuen, wenn ihr davon berichten würdet. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende und einen guten Start in die neue Woche!

5 Inspirationen – Woche 17

Diese Woche durften hier die Terrassen der Restaurants wieder öffnen. Das Wetter spielte mit und es war, wann immer ich vorbeifuhr, alles voll, Lebensfreude sprudelte regelrecht von den Tischen. Das unbeschwerte Miteinander ist wohl für viele das, was wirklich fehlt. Ich bin dankbar, konnte ich das diese Woche dreimal im privaten Rahmen geniessen. Der persönliche Austausch, das Hinaustreten aus dem eigenen Denk-Universum und das Erleben von Freundschaften, von Austausch, von Miteinander ist auch für einen eher introvertierten Menschen wie mich immer wieder wertvoll.

Was ist mir diese Woche begegnet, hat mich diese Woche inspiriert?

  • Im Zusammenhang mit einem der drei oben genannten Treffen erreichte mich dieses Zitat von Viktor Frankl, den ich schon lange thematisch studiere und als gedanklich wertvoll erachte:

„Wir sind nicht verantwortlich für die Zeit, in der wir leben, aber wir sind verantwortlich dafür, wieweit wir diese Zeitströmungen mitprägen oder ihnen auch gegenhalten.“

Wir können die Zeiten nicht ändern, in denen wir leben, wir können auch gewisse Einflüsse von aussen nicht ändern, aber wir können doch bestimmen, wofür wir in unserem eigenen Leben verantwortlich sein wollen. Wir können Grenzen setzen für uns persönlich (nicht für die ganze Welt und missionarisch), müssen aber dann bereit sein, den Preis zu zahlen. Ich wünsche mir manchmal ein beherzteres «Nein» zu Dingen, die mir wirklich widersprechen. Aber: Das liegt dann allein in meiner Macht. Ich muss ja nicht jeden Trend mitmachen, muss nicht jeder Mode entsprechen, muss auch nicht mit dem Mainstream schwimmen – aber es wird etwas mit sich bringen.

  • Ich hörte einen Podcast. Ich habe überhaupt keine Lehre draus gezogen. Wobei. Das stimmt nicht, wohl ganz viele. Aber hauptsächlich war ich unterhalten, habe laut gelacht, war begeistert, die Zeit flog förmlich beim Hören. Das allein ist schon so wertvoll. Ich kann ihn nur ans Herz legen: Der Podcast vom Spiegel mit Joachim Meyerhoff. Hinsetzen, reinhören, geniessen. Danach ist alle schlechte Laune verflogen – und ja… so ein paar Gedanken zu sich selber macht man sich durchaus auch. 
  • Ich schaute am Wochenende die Regenprognosen an: Nur Regen… über Tage. Grau in Grau. Und ich fand das keine wirklich erbauliche Aussicht. Am Montag war der Tag dann doch etas sonnig, der Regen blieb aus, am Dienstag ebenso. Am Mittwoch hiess es, er käme, kam aber nicht, am Donnerstag war er dann da… die weiteren Prognosen verheissen immer noch nichts Gutes. Was mich daran inspiriert? Oft wird alles nicht so schlimm, wie es scheint, und: Ich mag das leise Prasseln am Fenster irgendwie auch. Sicher nicht über Tage, aber so im Moment ist es durchaus schön.
  • Vor ungefähr vier Jahren gab es einen grossen Bruch in meinem Leben – alles, was mal war, brach weg…Vor etwa drei Jahren trat ich in ein ziemlich neues Leben ein. Ich hatte wunderbares Neues gefunden, manche Dinge mit viel Schmerz und Tränen verloren, einiges suchte ich. Und ich musste mich in diesem Neuen einrichten und ich war unsicher. Und wenn ich heute zurück blicke, sehe ich ganz viel Schönes, sehe eine Veränderung auch bei mir selber, sehe, dass ich an all den Herausforderungen gewachsen bin. Ich habe seit Jahren, Jahrzehnten schon ein Lebensmotto, das ich einer Gedichtzeile von Rainer Maria Rilke entnahm:

«Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen…»

Ich nehme aus allem etwas mit, auch aus dem Schweren. Und ich wachse daran. Und nur so geht es weiter.

  • Ich sitze ganz oft am Donnerstag da und denke an meinen Vorsatz, jeden Freitag fünf Dinge zu haben, die mich in der Woche inspirierten. Anfangs hatte ich alle beisammen, das nahm dann ab, in letzter Zeit habe ich am Donnerstag wenig bis nichts. Und jedes Mal denke ich, es dieses Mal nicht zu schaffen. Und dann setze ich mich doch hin und überlege. Ich lasse die Woche Revue passieren und eines nach dem anderen stellt sich ein. Und ich habe gemerkt, dass mir auch dieser Prozess wirklich gut tut, weil ich mir nochmals bewusst vor Augen führe, was ich alles Wunderbares hatte diese Woche. Es wäre sonst einfach verpufft. So freute ich mich nochmals drüber. Vielleicht sollten wir das öfters tun: Wenn wir denken, dass die Zeit sinn- und nutzlos verstrichen ist, einfach mal zurückschauen. Hinschauen. Und merken, dass da ganz viele Dinge waren, die schön waren, bereichernd, sinnstiftend. (Und wer weiss… vielleicht gibt es irgendwann einen Freitag, an welchem nichts mehr kommt… aber das dürfte dann nach so vielen bereichernden Wochen auch mal sein. Irgendwie)

Ich hoffe, es war was für euch dabei, das euch angesprochen hat. Wenn ihr etwas habt, das euch diese Woche angesprochen, bewegt, inspiriert hat – ich würde mich freuen, wenn ihr davon berichten würdet. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende und einen guten Start in die neue Woche!

5 Inspirationen – Woche 13

Der April ist angebrochen, Ostern steht vor der Tür. Es war eine anstrengende Woche, ich hoffe auf ein paar ruhige Tage. Diese Woche fiel mir plötzlich auf, dass ich viel zu wenig auf alles achtete, was mich inspiriert hat – es zog alles an mir vorbei. So setzte ich mich hin und dachte nach. Und fand Stück für Stück die Dinge wieder, die diese Woche auf mich Eindruck machten. Ab und an glaube ich, dass vieles zu unbeachtet an uns vorbei zieht. Eine bewusste Rückschau kann die Lichtblicke des Alltags wieder in den Blick bringen.

Was ist mir diese Woche begegnet, hat mich diese Woche inspiriert?

  • Als es mir diese Woche mal nicht so besonders ging, wollte ich mir keine Schwäche anmerken lassen und gab mich betont stark. Ich dachte, das sei wichtig und nötig, ich wollte mir und nach aussen etwas beweisen, wollte auch nicht zur Last fallen – und tat es wohl gerade drum umso mehr. Das zeigte mir mal wieder deutlich:

„Immer stark sein wollen, um zu merken, dass ich am stärksten dann bin, wenn ich die eigene Schwäche zulasse.“ (SvS)

  • Rundherum blühen die Kirschbäume und es ist eine wahre Pracht, das zu sehen. Auch wenn die Welt gerade aus den Fugen ist durch diese ganze Corona-Geschichte, gibt es ganz viel Schönes. Es ist wohltuend, dies mit offenem Blick und Dankbarkeit zu sehen.
  • Diese Woche las ich mal wieder ein Gedicht einer meiner liebsten Lyrikerinnen, Mascha Kaleko, weil es mir so direkt aus dem Herzen spricht – immer wieder:

Memento

Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der anderen muß man leben.

  • Interessant fand ich den Podcast von Radio 1, Roger Schawinski im Gespräch mit Esther Vilar. Anlass war das Jubiläum ihres Bestsellers „Der dressierte Mann“. Ein spannendes Buch, das mal eine andere Sicht einnimmt zu den gemeinhin verbreiteten Sichtweisen. Spannend fand ich aber auch ihre Sicht auf die Freiheit, die sie in ihrem Buch „Die Angst vor der Freiheit“ thematisierte:

„..die Sehnsucht, alle persönliche Verantwortung in die Hände eines anderen zu legen, sich aus freien Stücken dessen Befehlen zu beugen – war von jeher das Thema meiner schriftstellerischen Arbeit und wird wohl bis zuletzt irgendwie bestimmend für sie bleiben.“

Eine Sicht, die ich durchaus teile. So sehr wir uns alle Freiheit wünschen, oft begeben wir uns freiwillig in Situationen, in denen wir nicht mehr wirklich frei sind. Und die Frage ist: Wie frei können wir überhaupt wirklich sein als soziale Wesen?

  • Nach einem wirklich traumhaft schönen Sonnentag sass ich abends am Schreibtisch und hörte plötzlich, wie der Regen gegen die Fenster prasselte, der Himmel grollte, graue Wolken am selben standen. Und ich fand es wunderschön. Das Geräusch des Regens hatte eine versöhnlich-beruhigende Wirkung, ein kühler Luftzug kam durch das geöffnete Fenster und ich dachte plötzlich bei mir: Nichts ist nur gut oder schlecht. Alles hat zwei Seiten. Wichtig ist, beide immer zu sehen.

Ich hoffe, es war was für euch dabei, das euch angesprochen hat. Wenn ihr etwas habt, das euch diese Woche angesprochen, bewegt, inspiriert hat – ich würde mich freuen, wenn ihr davon berichten würdet. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende und einen guten Start in die neue Woche!

Delphine de Vigan: Dankbarkeiten


„Alt werden heisst verlieren lernen. […] Und auf der Einnahmenseite steht gar nichts mehr.

Früher unabhängig und stolz auf ihre Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, verliert Michka nach und ach, was ihr mal wichtig war: Wörter. Eins ums andere lässt sich nicht mehr finden, sie taucht vergeblich danach oder ersetzt es durch ein anderes, ähnlich klingendes. Als das Leben im eigenen Zuhause nicht mehr möglich ist, muss Michka in ein Heim. Die Tage sind lang und einsam, nur zwei junge Menschen besuchen sie regelmässig: Marie, die durch die gemeinsame Vergangenheit fast zu einer Art Tochter geworden war für Michka, und Jérôme, der Logopäde des Heims.


„Manchmal muss man sich der Leere stellen, die der Verlust hinterlassen hat.“


Während im Hier und Jetzt immer mehr verloren geht, erinnert sich Michka in ihren Träumen an die Vergangenheit. In ihr wächst der Wunsch, den Menschen noch danke sagen zu können, die sie als kleines Mädchen vor dem sicheren Tod gerettet hatten. Marie und Jérôme versuchen, ihr dabei zu helfen.


„Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie oft Sie in Ihrem Leben wirklich Danke gesagt haben? Ein echtes Danke. Als Ausdruck Ihrer Dankbarkeit, Ihrer Anerkennung, der Schuld, in der Sie stehen.“


Delphine de Vegan erzählt auf stille und fast zärtliche Weise die Geschichte einer Frau, die damit konfrontiert ist, immer mehr zu verlieren. Sie braucht dazu keine dramatischen Wendungen, keine Verzweiflungstaten, keine emotionalen Ausbrüche, und doch (oder gerade darum?) drängt die Tragweite dieses Verlusts, der Schmerz, die Verzweiflung aus den Zeilen entgegen, lässt einen mitfühlen. Dabei gelingt es de Vegan trotzdem, eine Leichtigkeit zu bewahren, nicht in die Traurigkeit abzutauchen.

Als Leser gleitet man oft gerührt, ab und an schmunzelnd durch die Seiten, taucht ein in ein Leben und lebt mit. Dies vor allem auch darum, weil die Charaktere authentisch und lebensecht gezeichnet sind, was durch die gewählte Erzählform noch verstärkt wird. Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt, immer in der ersten Person des jeweils Erzählenden. So blickt man als Leser durch die Augen von Marie, Jérôme und Michka auf das Geschehen und ist nicht nur aussen vor, sondern quasi mittendrin.

Dankbarkeit ist ein Buch über das Altern, über den Verlust, aber auch ein Buch über das Leben, die Dankbarkeit und die Kraft des Mitgefühls, des Mit- und Füreinanders.

Fazit:
Ein leises und zärtliches Buch über eine Frau, die immer mehr verliert und sich dabei der Dankbarkeit besinnt, die sie noch ausdrücken will. Ein Buch, das einen sanft an der Hand nimmt und mitleben lässt. Sehr empfehlenswert.

Über die Autorin
Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman ›No & ich‹ (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman ›Nach einer wahren Geschichte‹ (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien außerdem 2017 ihr Debütroman ›Tage ohne Hunger‹ und 2018 der Roman ›Loyalitäten‹.

Angaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
Verlag: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG; 2. Edition (17. April 2020)
Übersetzung: Doris Heinemann
ISBN-Nr.: 978-3832181123
Preis: EUR 20 / CHF 31.90

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Dankbarkeit – auch jetzt

Krisen sind unschön. Man wünscht sie sich nicht. Und wenn sie dann da sind, fragt man sich, wie es so weit kommen konnte. Meist drum, weil man nicht damit rechnete, dass es wirklich passiert, obwohl man eigentlich grundsätzlich den ganzen Tag damit beschäftigt ist, sich Sorgen um Dinge zu machen, die nicht sind, die aber sein könnten. Und man steigert sich dann gerne rein, und man fühlt sich dann auch ganz unglaublich schlecht und das bitte zu recht, hat man doch schliesslich das entsprechende Szenario im Kopfe präsent.

Nur: Was man dann nicht tut, ist ein Mittel zu erdenken, das greifen würde, täte das so aktuell ausgedachte Szenario auch wirklich eintreffen. Man suhlt lieber in den sich vorgestellten Leidenspfuhlen, statt gedanklich zum Retter zu werden. Und so bleibt es nicht aus, dass in dem Fall, wenn wirklich ein Unglück eintrifft, alle mit offenen Augen und Mündern dastehen und denken – sogar sagen:

Wie konnte das passieren? Damit hat ja keiner je gerechnet?

Und nein, damit hatte in der Tat keiner gerechnet, die meisten rechneten tagtäglich mit viel schlimmerem, denn sonst hätten sie viel mutiger ihren Lebensalltag bestritten. Leider war das nicht mutige Beschreiten die einzige Massnahme, die nur dazu führte, den eigenen Lebenssaft abzuschneiden, nie aber dazu, in wirklichen Notsituationen Lösungen präsent zu haben. Und so stehen wir nun hier.

Und wir stehen und sehen und klagen und zagen. Und sind so ziemlich am Berg. Und stehen halt an. Wir könnten den Berg auch als Chance sehen. Eine Chance, die uns zeigt, dass wir was lernen können. Ich habe einiges gelernt bislang, es kommt sicher noch viel dazu. Hier mal das wenige bis nun:

  • Ich bin dankbar, kann ich alleine sein.
  • Ich bin dankbar, kann ich mich selber beschäftigen.
  • Ich bin dankbar, habe ich ein schönes Dach über dem Kopf, an dem es sich leben lässt, auch wenn ich es nicht verlassen darf.
  • Es gibt Menschen, die mir wichtig sind und um die ich mich kümmere. Auch aus der Distanz.
  • Es gibt Menschen, die an mich denken. Auch aus der Distanz.
  • Es gibt Menschen, die hört man nicht – selbst wenn man sich selber meldet. Das gibt Platz in der Agenda für die Zeiten, die wieder voller sind. Die muss man dann auch nicht mehr berücksichtigen.
  • Es gibt Solidarität unter den Menschen. Sie wird gelebt.
  • Es gibt in allen Situationen auch Gutes. Man muss es nur sehen.

Ich habe die Zeit bislang genutzt, zu sehen, was ich wirklich will. Ich habe sie aber auch nutzen können, zu sehen, was oder wer mir wichtig ist, zu spüren, wem ich wichtig bin. Und ich werde das sicher nicht vergessen, wenn die Zeiten wieder „normal“ werden. Ich wünsche mir, dass wir alle gut aus dieser Situation kommen. Ich wünsche mir zudem, dass wir gelernt haben, dass Solidarität, Empathie und ein Miteinander die einzige Möglichkeit sind, zu überleben. Keiner ist eine Insel, keiner überlebt für sich allein. Profit allein wird uns nicht retten. Wir brauchen neben den notwendigen Mitteln vor allem eines: (Mit-)Menschlichkeit. Gelebte Beziehungen. Und ab und an ist es wertvoll, zu sehen, auf welche man bauen kann. Dafür bin ich dankbar – trotz ein paar wenigen Enttäuschungen.

Das Licht nach dem Dunkel

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Wie oft ist es gerade nach den dunkelsten Nächten plötzlich hell, so hell, wie man es sich nicht hätte erhoffen können noch in der Nacht? Könnte man doch in der Nacht das Vertrauen haben und drauf bauen, dass die Sonne immer wieder aufgeht. Das Dunkel wäre leichter zu ertragen. Doch zum Glück: Auch ohne dieses Vertrauen geht sie irgendwann wieder auf.

Danke für all das Licht!

30. Juni

„Glück ist Selbstgenügsamkeit.“ Aristoteles

Erich Fromm sagte mal, dass nur der eine Beziehung führen kann, der allein sein kann. Nur wer sich selber eine gute Gesellschaft ist, kann eine Beziehung auf Augenhöhe führen. Wenn ich mir selber nicht genug bin, brauche ich den anderen, um die Lücken zu stopfen. Ich trete mit Erwartungen an ihn auf und degradiere ihn zum Erfüller.

Es kann nur einen geben, der mich ganz macht: Mich selber.