Eine Geschichte: Nun ist alles gut (XXXVII)

Lieber Papa

Kürzlich las ich ein Buch von Paul Auster. Darin schrieb er diesen Satz:

„…weil du immer geglaubt hast, er würde ein hohes Alter erreichen, hat es dich nie gedrängt, den zeitlebens zwischen euch hängenden Nebel zu lichten.“

Ich dachte an dich. An uns. Wir haben auch geschwiegen. Sassen im Nebel und sahen nicht hindurch. Wir dachten wohl nicht, uns bliebe noch Zeit. Das Schweigen war unsere Heimat, der vertraute Ort, an dem wir uns immer trafen.

Die Sprachlosigkeit war ein eingeübtes Verhalten, ein antrainiertes, vereinbartes Miteinander. Sie entsprach nicht meinem Naturell. Ich musste sie annehmen. Akzeptieren. Anwenden. Sie wurde aus der Erfahrung geboren, dass du keine Worte hören willst. Zumindest keine Widerworte. Oder unangenehmen Worte. Oder unbequemen Worte. All die hatten auszubleiben. Versuchte ich es anfangs noch, gab ich bald auf.

„Heute reden alle ständig und zu viel. Darum gibt es so viel Streit.“

So dachtest du. Und schwiegst. Ich wollte keinen Streit. Nicht zwischen uns. Früher nicht, jetzt erst recht nicht. Wenn ich doch ab und zu wieder einen Versuch unternahm, etwas Schwieriges ansprach, etwas erwähnen und besprechen wollte, das nicht gut gelaufen war, kam die immer gleiche Antwort von dir:

„Wir hatten es gut.“

Und:

„Alles war schön.“

Damit war alles gesagt. Das Thema war beendet, bevor ich es richtig angesprochen hatte.

Nun konnte ich nicht mehr schweigen. Ich schrieb dir all diese Briefe. Und immer wieder fragte ich mich, ob es richtig ist. Was bringt es, dir nun noch sagen zu wollen, dass es eben für mich nicht nur gut und schön war? Wieso soll ich dir deine Sicht nehmen? Aber ja, manchmal frage ich mich auch, ob du das wirklich glaubst. Dass alles gut war. Ich kann es kaum glauben. War das nicht nur dein Schutzschild, um nicht hinschauen zu müssen? Vielleicht sogar Fehler zugeben zu müssen?

Und dann denke ich wieder: Was soll’s. Es ist vorbei. Es war, wie es war. Und nun ist es gut.

Ende Teil 1

(„Alles aus Liebe“, XXXVII)


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6 Kommentare zu „Eine Geschichte: Nun ist alles gut (XXXVII)

    1. Es ist ja schon eine Weile her, seit ich das ganze fertig geschrieben habe. Und ja, es ist gut und so steht es auch. Es folgt nun noch ein zweiter Teil, der anders ist und doch dazugehört. Ende Jahr ist dann alles fertig. Und das ist gut so.

      Danke für deine Worte, liebe Grüsse zu dir!

      Gefällt 1 Person

  1. Nach jahrelanger Therapie interpretiere ich „aber wir hatten es doch gut“ als „wir haben getan, was wir es damals für das Beste hielten“.Meine Eltern leben noch, aber wenn ich nachfrage kommt meistens ein „mir wei nid grüble“ zurück – dann muss ich erst recht grübeln, um das Warum und das Wieso zu verstehen. Ich schicke Dir eine Umärmelung, liebe Sandra!

    Gefällt 2 Personen

    1. Ich bin pberzeugt, dass sie alles taten, was sie konnten und vor allem für richtig hielten. Dieses „für richtig halten“ hat im Nachhinein oft einen Beigeschmack, aber was sonst sollte man tun, als nach eigener Überzeugung des Beste zu tun? Klar kann man einwenden, man müsste offener sein und hätte und sollte und… am Schluss muss man sich für etwas entscheiden für etwas. Das Verstehen, wieso sie etwas taten, kann vielleicht helfen, einen versöhnlicheren Blick auf gewisse Dinge zu bekommen. Was war, kann man nicht ändern, die Versäumnisse, Prägungen, Schmerzen bleiben, aber das Hier und Heute, den Blick und den Umgang kann man ändern. Damit es heute nicht mehr belastet.

      Fühl dich umarmt, liebe Grüsse zu dir, Katharina.

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  2. Ich finde es sehr schön, dass du das aufgeschrieben hast, und sehr heilsam! Und dadurch, dass du es öffentlich getan hast (obwohl das nicht einfach ist), kann es auch für andere heilend wirken.
    Danke dir!
    Liebe Grüße
    Maren

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