Lieber Papa
Kürzlich las ich in einem Buch dieses Zitat:
«Ich war so traurig an diesem Abend; ich begriff mit einer Klarheit, wie nur zu wenigen anderen Zeiten meines Lebens, dass die Isolation meiner Kindheit, die Angst und die Einsamkeit, mich nie ganz loslassen würden. Meine Kindheit war ein einziger Lockdown gewesen.»
Elizabeth Strout
Weisst du, wie einsam ich mich oft fühlte als Kind? Von klein an? Immer jemandem im Weg. Immer von jemandem nicht gewollt. Da gab es diesen Tag, als Mama mir sagte:
«Ich weiss, dass Papa dich lieber hat als mich.»
Das kam aus dem Nichts. Es war eine einzige Anklage. Ich stand da. Wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte. Wie mir geschieht. Ich fühlte mich schuldig. Und traurig. Und allein. Ich hatte ihr etwas weggenommen. War das der Grund, dass sie mir gegenüber immer so distanziert war? Konnte sie mich drum nicht lieben? Weil ich ihre Feindin war? Nahm sie mich darum nie in den Arm? Fühlte sich darum alles, was sie tat, an, als erfülle sie eine Pflicht? Ich meine: Äusserlich ging es mir immer gut. Ich war warm angezogen, hatte zu essen, sie «kümmerte sich». Sie war eine Kümmermutter, keine liebende.
Vielleicht war das die gerechte Strafe für mich. Mich konnte man nicht lieben. Weil ich böse war. Ich stahl anderen die Liebe. Ich hatte keine Ahnung, aber ich versuchte, alles wieder gut zu machen. Ich wollte, dass sie glücklich ist. Und ich wollte, dass sie mich liebt. Ich versuchte, mich von dir fernzuhalten. Das war schwer, denn du warst alles, was ich hatte. Du warst der einzige, bei dem ich dachte, er wolle etwas mit mir machen. Und ich war gerne mit dir zusammen. Ich habe die Aussage nie mehr vergessen. Von da an fühlte ich mich immer zwischen den Stühlen. Ich wusste nicht, dass es noch schlimmer kommen könnte.
Erinnerst du dich? Wir fuhren zusammen zum Einkaufen. Mama und ich hatten mal wieder Streit gehabt. Keine Ahnung, weswegen. Du hast mir diesen Streit übelgenommen. In deinen Augen war ich dafür verantwortlich. Das war ich immer, wenn irgendwo etwas nicht gut lief. Das war immer nur so, weil ich war, wie ich war.
Ich erinnere mich so gut an alles. Du warfst mir an den Kopf, dass Mama wunderbar sei, dass sie alles für mich mache. Du schimpftest mich undankbar. Ich müsse mich ändern, weil es so nicht weitergehen könne. Und dann sagtest du diesen Satz, der mein ganzes Leben mit einem Schlag in Frage stellte:
«Deine Mutter ist mir das Wichtigste. Wenn du nicht endlich mit ihr klarkommst, kannst du gehen. Dann will ich dich nicht mehr hier haben.»
Kein Schlag, keine Ohrfeige hätte mich mehr treffen können.
Das war der Tag, an dem ich gefühlt alles verloren habe und keinen Sinn mehr sah im Leben. An diesem Abend sammelte ich alle Schlaf- und Schmerzmittel zusammen, die ich im Haus finden konnte. Es waren viele. Ich schluckte sie. Es sollte endlich alles vorbei sein. Ich schlief ein.
Erst viele Stunden später und mit viel Anstrengung habt ihr mich wieder einigermassen wach gekriegt. Mir war übel. Ich stand neben mir. Alles drehte sich. Die Beine wollten mich nicht mehr tragen. Aber ich lebte. Leider. Nur in mir war etwas gestorben.
(«Alles aus Liebe», XXXVI)
Entdecke mehr von Denkzeiten - Sandra von Siebenthal
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Lebensgeschichten! Ich kann dir so gut nachfühlen, liebe Sandra.
Ich könnte auch so vieles niederschreiben im Moment, ich habe meinen Mann verloren und mit seinem Abschied offenbart sich mir eine Lebensgeschichte, auf die ich nicht gefasst war. Und dann meine eigene dazu, die jetzt an die Oberfläche drängt…alles zusammen ist viel, traurig und schön. Leben halt. Das volle Leben.
Hab einen guten Tag
liebe Grüsse Brig
LikeLike
Liebe Brig
Ich wünsche dir von Herzen ganz viel Kraft für deinen Weg. Ich hoffe, du kannst das alles für dich so angehen, dass du damit gut und hoffnungsvoll weiterleben kannst. Wie du sagst: Das volle Leben. Man hätte oft gerne nur die hellen Stunden, leider braucht es die anderen wohl irgendwie. Zumindest sind sie da und es gilt, sie so ins Leben zu integrieren, dass dieses doch ein gutes und gelingendes ist.
Liebe Grüsse zu dir
Sandra
LikeLike
Oh, das trifft schwer ins Mark.
LikeGefällt 1 Person
Mich jammert deine Protagonistin bei jedem neuen Kapitel. Aber so langsam bekomme ich wirklich Angst um sie.
Morgenkaffeegrüße 🌥️🍂🍁☕
LikeGefällt 1 Person
Liebe Christiane, ja, sie geht durch tiefe Täler. Möge ihr der Aufstieg bald gelingen! Liebe Grüsse zu dir
LikeGefällt 1 Person
Das Schlimme ist ja, dass die Erwachsenen die Verantwortung für ihr eigenes Handeln und der Folgen auf das Kind übertragen. Kann es sein, dass Du heute das erste Mal über die Mutter schreibst? Ich hatte beim Lesen Deiner Geschichten immer ein diffus ungutes Gefühl und viele Fragen. Existiert eigentlich eine Mutter? Warum ist der Vater so auf seine Tochter fixiert? Weiß er, was er da tut? Wahrscheinlich nicht. Selbstreflexion wird ihm weitgehend unbekannt sein. Und die Mutter spielt ihre Rolle ohne einen Ausweg zu suchen oder zu finden.
Heute sehe ich ihren Schmerz und natürlich den der völlig überforderten Tochter, die die Familiendynamik nicht durchschauen, sich nicht wehren kann und daran zerbricht.
Ähnlichkeiten sehe ich in meiner eigenen Familiengeschichte. Was mir dort als Liebe verkauft werden sollte, war alles andere, nur das nicht. Wobei ich weiß, dass meine Eltern mich liebten, aber ihre Handlungen hatten andere Motive. 🫂 🙋♀️
LikeGefällt 2 Personen
Das fiel mir auch mal auf mit der Mutter. Aber es sollte ja auch um den Vater gehen. Trotzdem ist das ein sehr spannender Punkt. Ich glaubte, ich hätte darüber geschrieben, als ich übers Skifahren schrieb – kann aber sein, dass das noch nicht kam (müsste zwar) oder ich es vergessen habe am Ende. Auf alle Fälle sah ich ein Foto von mir mit meiner Mutter in Skiausrüstung. Und der erste Gedanke: Ach ja, sie war auch dabei, muss so gewesen sein, aber ich erinnere mich überhaupt nicht mehr an sie oder an irgendetwas Gemeinsames bei allem. Da war immer nur er.
Aber ja, sie hatte ihre Rolle. Ich nehme es ihr nicht übel. Sie hat auch ihre Geschichte und in Kenntnis darum kommt für vieles Verständnis auf. Leider wusste ich damals nichts davon und auch das Verständnis nimmt nicht die Trauer über vieles. Allerdings nie als Schuldzuweisung.
Liebe Grüsse
Sandra
LikeLike
Das verstehe ich, Schuldzuweisungen haben wir ja genug erlebt. Aber benennen finde ich schon wichtig, um zu verstehen. Einfühlen konnte ich mich sowieso erst viel später. Und jetzt im Alter fühle ich eine echte Verbundenheit mit meinen verstorbenen Eltern.🙋♀️
LikeGefällt 2 Personen
Ich denke auch, dass es wichtig ist, Worte zu finden. Ich habe gerade in einem anderen Text geschrieben, ich würde diese Erinnerungen im Nachhinein nicht mehr aufschreiben… aber vielleicht war es auch wichtig. Vielleicht hat mich genau dieses Schreiben an einen Punkt gebracht, weiterzugehen und mich von gewissen Dingen lösen zu können. Zuerst dachte ich, mir sei etwas Wichtiges abhanden gekommen, weil mir vieles von früher nicht mehr passte. Nun merke ich, ich habe es loslassen können, um endlich zu dem zu kommen, was ich irgendwie immer wollte.
LikeGefällt 2 Personen
💝
LikeGefällt 1 Person