Eine Geschichte: Vom Träumen (XVII)

Lieber Papa

Lieber Papa

Kürzlich war ich an einem Fest. So viele Menschen. So viel Lachen, Reden, Feiern. So waren unsere Feste nie. Es gab kaum welche ausser dem alljährlichen Geburtstag von Grossmutter. Da kamen alle zusammen. Sonst waren da nur wir drei. Sonst keiner. Niemand gehörte zur Familie. Zu unserer. Manchmal dachte ich sogar, nicht mal ich gehöre dazu. Weil ich anders war. Nicht wie ihr. Nicht wie ihr mich wolltet. Das sagtest du mir oft.

«Du bist anders.»

Und

«So will dich keiner. Wir sind deine Eltern, wir müssen bleiben. Die anderen können gehen.»

Anfangs dachte ich, ich sei nur das falsche Kind für euch.. Vielleicht war ich vertauscht worden. Das war unwahrscheinlich. Vielleicht habt ihr mich adoptiert. Einige Male durchwühlte ich in heimlichen Momenten alle Ordner. Suchte nach Beweisen. Las mich durch Unterlagen und Dokumente. Aber ich nichts. Vielleicht war ich nicht das falsche Kind für euch, vielleicht war ich grundsätzlich falsch. Nicht in Ordnung.

Als ich an diesem Fest mit zwei wunderbaren Menschen ins Gespräch kam, stellte ich mir plötzlich vor, sie könnten mich adoptieren. Der Gedanke löste ein kleines Glücksgefühl aus. Ich dachte kurz, ich könnte mir meine eigene Familie suchen. Ganz naiv. Und voller Freude. Schon kurz danach hörte ich eine innere Stimme. Sie sprach von Flausen. Davon, dass ich nicht solche Hirngespinste haben solle. Ich sei nun gross. Müsse alleine klarkommen. Und doch war da diese leise Sehnsucht. Nach einer Familie. Meiner Familie. Eine, die lacht. Die mich aufnimmt. In der ich mich wohl fühle. Dazugehörend.

Uns drei gibt es schon so lange nicht mehr. Schon als ich 16 war, drohtest du, ich könne gehen, wenn ich mich nicht an deine Regeln halte. Du und Mama, das sei der wichtige Kern. Wenn ich den störe, sei ich nicht mehr erwünscht. Das sagtest du und ich spürte eine Klinge, die tief stach. Mit 22 endete das Kapitel Familie endgültig. Ich zog aus. Noch heute höre ich deine Worte, sachlich, rational, klar:

„Nun trennen sich unsere Wege. Wir gehen unseren. du deinen.“

Das Messer von früher drehte sich. Das tat verdammt weh. Diese explizite Trennung.
Wenn ich heute zurückblicke, hätte es eine Befreiung sein können. Dazu kam es nicht. Ich habe dich innerlich mitgenommen. Als Stimme. Doch da war auch dieses Loch. Der tiefe Wunsch nach einer Familie für mich, nach Menschen, die mich verstehen, Menschen, bei denen ich zuhause und gewollt bin. Menschen, bei denen ich nicht falsch, nicht ungenügend, nicht abnormal und eine Enttäuschung wäre. Das war ein Traum. Meiner. Und wird es wohl bleiben.

Und ich schimpfe mit mir. Ich bin zu gross für solche Träume. Für solche Sehnsüchte. „Werd’ endlich erwachsen!“, höre ich deine Stimme in mir. „Werd’ endlich normal.“ Und dann sagst du noch:

«Du bist eigentlich intelligent, aber menschlich, in Lebensdingen, so dumm.»

Und immer ist es deine Stimme. Und sie spricht in mir. Und ich glaube ihr. Und fühle mich klein. Und falsch. Und doch: Die Träume bleiben. Und ich bin froh, sie zu haben. Sie sind wie leuchtende Sterne am dunklen Himmel. Und manchmal denke ich, irgendwann kann ich vielleicht den einen oder anderen ergreifen.

Vielleicht ist es besser, wenn du diesen Brief nie liest. Aber schreiben musste ich ihn, bevor ich mit unserer Geschichte weitermachen kann.

(«Alles aus Liebe», XVII)


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2 Kommentare zu „Eine Geschichte: Vom Träumen (XVII)

  1. Die Stimmen nehmen wir mit. Klingt nach einer sehr harten Erfahrung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich so etwas anfühlen muss
    Ein Rudelausschluss. Intelligenz und Intelligenz -praktische Intelligenz ist notwendig, aber ich habe nie verstanden, warum die die diese zur Verfügung haben so unendlich stolz darauf sind, bei gleichzeitiger Ächtung der eingeschränkt praktisch intelligenten. Behinderungen weisen beide Modelle auf. DenTräumern mangelt es an Boden, den Bodenständigen an Himmel

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