Lieber Papa
Es gab immer wieder Phasen, in denen ich versuchte, Erinnerungen aufzuspüren. Und immer stiess ich auf diese Leere. Vielleicht ab und zu ein Häppchen, aber da war nie eine ganze Geschichte. Habe ich nichts erlebt? Oder ist mein Gedächtnis so schlecht? Habe ich alles verdrängt? Wieso hätte ich das tun sollen?
Das scheint nun anders zu sein. Es ist, als ob ein Ventil aufgegangen ist und die Erinnerungen plötzlich fliessen. Ich fange jede ein und schreibe sie nieder. Für dich. Weil ich merke, dass da in mir etwas ist, das raus muss. Ich merke, dass unsere Geschichte nicht abgeschlossen ist und zu viel Schweigen die Vergangenheit prägte.
Ich merke, wie ich in eine Euphorie gerate bei diesem Schreiben. Ein rasender Fluss von Episoden, die ans Licht drängen. Und plötzlich. Fertig. Er hört er auf. Ich warte. Ich suche. Ich strenge mich an. Nichts. Und mit dem versandeten Fluss ist auch die Lebendigkeit, die durch die Erinnerungen in mein Heute getragen wurde, weg. Als wäre das Erinnern eine Energiequelle gewesen, die nun versiegt ist.
Manchmal weiss ich gar nicht mehr, wieso ich zu schreiben begann. Es war ein Impuls. Aus dem Nichts. Ich habe keine Ahnung, woher die Lebendigkeit kam. Die Themen waren nicht sehr aufbauend. Vielleicht lag das weniger an den Erinnerungen, sondern daran, dass ich endlich schrieb. Endlich tat ich das, was ich immer hatte tun wollen. Ich tat es auf eine Weise, die ich selbst ernst nehmen konnte.
Und nun ist wieder alles still. Wo ist dieser Fluss hin? Ist er abgezweigt und ich habe das verpasst? Bin ich in die falsche Richtung geschwommen? In eine Sackgasse? Wo kann ich wieder anknüpfen? Wie weiterschwimmen?
Vielleicht habe ich meinen Schreibfluss selbst zum Stehen gebracht. Mit all meinen wiederkehrenden Zweifeln. Du willst das alles doch gar nicht hören, sagte ich mir. Wolltest du nie. Wen interessiert, was ich sage, denke, schreibe? Wer soll es lesen? Soll es überhaupt jemand lesen? Was bringt das? Wer bin ich, meine Geschichte so wichtig zu finden, dass sie erzählt werden muss?
„Nimm dich nicht so wichtig!“
Sagtest du mir oft.
„Du bist nichts. Niemand. Keiner interessiert sich für dich.“
Sagtest du.
„Am Ende taugt doch alles nichts.“
Das sage ich mir. Immer wieder.
„Es ist nicht gut genug. Weil ich nicht gut genug bin.“
Sage ich mir.
Und genau das ist die Ursache. Für so viel. Das treibt mich immer wieder um. Vermutlich ist das der Grund. Dieser eine Glaubenssatz. Ich bin nicht genug. Darum fing ich an zu schreiben.
Und nun kommt die Angst: Sie werden mich auslachen. Sie werden mich in der Luft zerreissen. Sie werden hinter vorgehaltener Hand über mich herziehen. Mich lächerlich finden. Sie werden denken, ich sei nicht normal. Ich solle mich anpassen. Sein wie die anderen. So wie du es tatst. Sie werden nicht verstehen, was ich tue. Sie werden fragen, wieso ich schreibe. Das sei kein Beruf. Sie werden denken, wieso ich nicht einfach Schreiner, Coiffeuse, Ärztin, Juristin, Verkäuferin bin – normal halt.
Solche Jobs hatte ich. Ich erinnere mich gut. Ich war zum Beispiel in einer Bank. Ich entwarf Datenbanken und betreute sie. Das hatte ich mir selbst beigebracht. Ich war gut. Ich verdiente gut. Es war nicht meine Welt. Du hast mich nicht verstanden. Bleib da, hast du gesagt. Sei nicht so zimperlich, hast du gesagt. Ich konnte nicht dableiben. Und enttäuschte dich schon wieder. Ein Teil von mir hätte sich gewünscht, es wäre anders. Nur um dir zu gefallen. Ich musste dir doch gefallen, denn: Wen hatte ich ausser dir? Niemanden. Das sagtest du mir oft:
„Ausser mir hast du keinen.“
Ich habe dir geglaubt. Ich glaube es teilweise heute noch.
Ich muss weiterschreiben. Vorerst. Auch wenn ich nicht weiss, ob das alles stimmt, woran ich mich zu erinnern glaube. Ich las kürzlich bei Irvin D. Yalom, dass er überzeugt sei, dass die Qualität der Realität sich immer wieder ändere, dass sie fragil sei. Er schrieb in seinen Memoiren:
«Erinnerungen, zweifellos auch die hier vorgelegten, sind viel fiktiver, als wir meinen möchten.»
Vermutlich ist da viel Wahres dran.
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wieder ein sehr schöner, überzeugender Text. Weiterschreiben, Sandra! möchte ich rufen. Und dachte: vielleicht wäre es gut für dich, schreibend auch deine Erinnerungen im Dialog mit anderen Menschen hervorzuholen, wenn du mit deinem Vater in eine Sackgasse geraten bist. Es ist ja nicht wahr, dass du nur ihn hattest. Du kannst, wenn du möchtest, auch anderen Menschen einen erinnerungswerten Platz in deiner Vergangenheit einräumen.
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Liebe Gerda, lieben Dank dafür. Die Geschichte ist fertig geschrieben. Das war ein Prozess von knapp zwei Jahren. Zuerst von Hand, dann digital erfasst, umgeschrieben, überarbeitet, nochmals überarbeitet, und nun ist sie als Fortsetzung geplant. Die letzte Folge wird am 31. Dezember erscheinen. Die Geschichte wird also mit dem Jahr ihren Abschluss finden.
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danke, du dokumentierst also nicht einen aktuellen Schreibprozess, sondern einen bereits abgeschlossenen. Verstehe. Ein literarisch sehr gelungenes Jahresprojekt, finde ich. Ob es dann auch die entsprechende innere Neubewertung erm;glichte, kann ich nicht wissen.
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Das weiss ich selbst noch nicht. Das Schreibprojekt lief lange, wie gesagt. Den Schreibprozess habe ich erst kürzlich beendet, eine Zeit lang war ich fast zeitgleich schreibend (die letzte Fassung) und veröffentlichend. Von wegen Neubewertung ist das schwer zu sagen. Ich bin erst gestern mit dem Schreiben fertig geworden. Da hängt noch viel nach. Es ist auch eine gewisse Leere da, denn so sehr ich das Ende anstrebte, fällt nun doch viel weg.
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