Eine Geschichte: Musik machen (XIII)

Lieber Papa

Erinnerst du dich an meine ersten Schritte in der Musik? Blockflöte war’s. Im Kindergarten, ich war wohl etwa 5. Ich erinnere mich nicht mehr an das Spielen selbst, ich erinnere mich nur noch an die goldenen und silbernen Sternchen, die wir ins Heft kriegten, wenn wir gut übten. Die Schlechtesten kriegten nichts, dann kam ein kleiner silberner Stern, ein grosser silberner, ein kleiner goldener und für die besten Spieler ein grosser goldener. Ich wollte diese Sterne, nur darum ging es mir. Das denke ich zumindest heute. Mit der Blockflöte hatte ich Glück. Ich musste nicht üben und konnte trotzdem alles spielen. Irgendwie lag mir das Instrument. Talent hätte ich, sagte die Lehrerin. Daran erinnere ich mich. Hast du mich je spielen gehört? Ich erinnere mich nicht daran.

Ich habe nicht lange Blockflöte gespielt. Weisst du noch? In der Stadt war Gewerbeausstellung, als ich sechs war. Wir gingen hin. Ich liebte es, überall die Prospekte einzusammeln. Was ich damit machen wolle, fragtest du. Ich wusste es nicht. Aber sie waren so schön bunt. Und dann hörte ich die Musik. Da war dieser Mann, der aus einem einzigen Instrument unendlich viele Melodien, Rhythmen und Stimmen herausholen konnte. Er klang allein wie eine ganze Band. Ich war begeistert. Das war wie ein Wunder, das wollte ich auch. Schon da zeigte sie sich: Meine Faszination für Musik. Woher kam sie? Wir hörten kaum welche. Sie sollte noch viel grösser werden und tiefer gehen. Dazu später. So oder so: Ich durfte Orgel lernen. Ich erinnere mich noch an das Gefühl, als die Orgel bei uns einzog. Es war gross.

Ich liebte es, an all den Knöpfen und Hebeln rumzudrücken, liebte es, die Orgel selbst spielen zu lassen. Nur eines liebte ich nicht: Das Üben. Einmal pro Woche musste ich zum Unterricht. Der Lehrer war nett. Und sehr nachsichtig. Mama nicht. Sie stellte den Timer, dass ich auch täglich genügend übe. Keine Minute weniger. Es gab keine Unterbrüche oder Pausen, es gab nichts als mich und die Orgel. Ich hätte Talent. Sagte der Lehrer. Später erfuhr ich, dass Mama auch mal ein Instrument lernen sollte. Akkordeon. Sie sei unmusikalisch gewesen. Sagte sie. Sie hörte bald wieder auf. Sollte ich das nun für sie nachholen? Oder für dich die Musik wieder ins Haus holen, nachdem deine Jazzplatten nicht mehr gespielt wurden? Was liess sie verstummen? Ich weiss es nicht. Was ich weiss: Dieses Üben mit der Stechuhr vermieste mir alle Freude. Da nützte mir auch das Talent nicht. Immerhin gingen mir die Lieder gut von der Hand, ich schaffte sie mehrheitlich ab Blatt. Wenn es dann gut klang, war ich immer ein bisschen stolz.

Fürs Gymnasium musste man ein Instrument wählen, Orgel war nicht zugelassen. Ich wechselte zum Klavier. Ihr wolltet das so. Das sei nah dran. Ich hätte lieber Saxofon gespielt. Da hattet ihr kein Musikgehör. Nun gut. So schwer kann das nicht sein. Dachte ich mir. Immerhin Tasten. Wie die Orgel. Sogar nur ein Manual. Also einfacher. Und weniger Pedale. Noch einfacher. Dachte ich mir. Nur: Das Klavier lag mir nicht. Mir lag die Musik nicht, die ich da spielen sollte. Es klang alles so fremd. Es sprach mich nicht an, mir fehlten die packenden Rhythmen, die eingängigen Melodien. Klassik. Das hatte ich vorher noch nie gehört. Ich hatte keinen Zugang. Und mir fehlten die weiteren Pedale, mir fehlte das zweite Manual. Mir fehlte meine Musik. Die, welche ich verstand.

Zu Hause musste ich üben. Täglich eine halbe Stunde. Es war eine Qual. Ich kürzte ab. Erinnerst du dich an Bettina, die über uns wohnte? Sie spielte auch Klavier.

„Hör nur, Bettina übt jeden Tag 30 Minuten. So macht es richtig. Nicht wie du. Nimm dir ein Beispiel!“

Ich habe es versucht, das mit dem Beispiel. Es gelang nicht lange. Es machte keine Freude. Dir hätte ich besser gefallen, wäre ich wie Bettina gewesen. Ich spürte immer einen leisen Stich, wenn ich sie üben hörte. Ich fragte mich, wieso ich nicht sein kann wie sie. Dann wäre ich gut genug. So war ich es nicht.

Bettinas Klavier wurde nach einem halben Jahr abgeholt. Ich spielte bis zur Matur weiter. Zwar bedauerte meine Klavierlehrerin – ich sehe sie noch vage vor mir, weiss aber ihren Namen nicht mehr – immer, dass ich mein Talent verschwende, aber sie nahm es mir nicht übel. Sie setzte sich mit mir hin und wir spielten vierhändig ab Blatt. Ich liebte es. Zwar lernte ich nie virtuos Klavierspielen, aber ich hatte in den Momenten Freude an dem, was ich tat – was wir taten.

Die Sehnsucht nach einem Saxofon oder einer Gitarre kam immer wieder auf. Leider konnte ich da nie Stunden nehmen. Ob ich mehr geübt hätte? Manchmal finde ich es schade, dass ich kein Instrument spielen kann. Was ich nicht bereue, sind all die anders genutzten Stunden, wenn ich nicht geübt habe. Und: Meine Liebe zur Musik kann ich zum Glück anders ausleben, mit all denen, die geübt haben und nun für mich spielen. Vielleicht muss man gar nicht alles selbst können. Und es ist trotzdem gut genug.

(„Alles aus Liebe“, XIII)


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2 Kommentare zu „Eine Geschichte: Musik machen (XIII)

  1. mit den Musikinstrumenten ist es ein Drama: wie oft gibt es da einen Konflikt zwischen sollen und wollen! Und am Ende sehr viele Abbrüche. Mein Mann sollte als Kind Geige lernen, wollte aber Klavier. Ich wollte als Kind unbedingt Geige lernen, aber es gab nur ein Klavier und kein Geld für eine Geige. Die besorgte ich mir dann mit dem ersten selbstverdienten Geld – da war ich fünfzehn, lernte zwei Jahre mit Inbrunst, dann starb plötzlich mein Lehrer, einen anderen gab es nicht … und zum Studium nahm ich das Instrument schon gar nicht mehr mit. Viel später lernte ich dann klassische Gitarre und gab auch die auf, als mein Lehrer auswanderte. Mein Sohn lernte erst Blockflöte, dann Gitarre und landete schließlich beim Bouzouki. Mir fehlt die lebendige Musik im Haus. Sie ist durch nichts zu ersetzen.

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