Gedankensplitter: Ich sein

«Die Person zu werden, die jemand anders sich für uns ausgedacht hat, ist keine Freiheit – sondern eine Hypothek auf das eigene Leben, mit der die Ängste anderer abgetragen werden. Wenn wir uns nicht wenigstens vorstellen können, frei zu sein, so führen wir ein Leben, das nicht das richtige ist.» Deborah Levy

«Das gehört sich nicht.» Oder:  «Das macht man nicht.» Sätze, die viele wohl aus der Kindheit kennen. Leider bleiben sie oft nicht dort, sondern laufen durch die Jahre mit, schleichen sich in die Gegenwart ein, sitzen im Hinterkopf und kommen hervor, wann es ihnen passt. Sie erklären uns als Stimme aus dem Off, wie das Leben zu laufen habe, wie die Gesellschaft einen haben wolle, was angemessenes Verhalten wäre und was nicht. Sie erzählen uns von passendem und unpassendem Tun und Sein, schelten unsere Mängel und fordern Besserung.

«Sei mal normal!»

Ein Satz, den ich als Kind oft hörte. Ich war es offensichtlich nicht. Was soll das auch sein, normal? Wer setzt es fest? Diese Fragen stelle ich mir heute, damals kamen sie mir nicht in den Sinn, denn da überstrahlte die Trauer, nicht zu genügen, alles. Kinder wachsen in eine Welt hinein, in der sie aber genau das sollen: genügen. In Tabellen wird festgelegt, wann sie was können müssen, wie grosse und schwer sie zu sein haben, wie weit sie zählen, wie hoch sie springen und wie schnell sie laufen können sollten, um zu genügen. Die einzelnen Resultate werden dann in weiteren Tabellen festgehalten, in Zeugnissen als Bewertung notiert, damit anderen die Einordnung leichter falle.

Einerseits waren da die Noten für Mathe, Deutsch und Sport, und ja, sie waren schlimm genug. Aber es ging noch schlimmer: die Bewertung bei «Betragen». Von ‘sehr gut’ bis ‘ungenügend’ führte die Treppe nach unten. Sie zeigte den eigenen Stand in dieser Gesellschaft deutlich. Bei den anderen Noten war man vielleicht dumm, aber immer noch ein guter Mensch, ungenügendes Betragen hingegen war der Todesstoss. Da stand dann schwarz auf weiss:

«Du bist nicht gut genug.»

Ein Satz, der lange nachhallt, teilweise ein Leben lang. Ein Satz, der wie ein Messer zusticht und sich immer mal wieder in der Wunde dreht. Ein Satz wie ein Mal, ein Mahnmal, das dich immer wieder zur Vorsicht aufruft: «Pass bloss auf, dass keiner merkt, dass du nicht genügst». Ein Satz, der bremst («Es wird eh nicht gut sein, was ich mache.»), der untergräbt («Das war nur Glück, dass mir etwas gelang.») und verurteilt («Kein Wunder, gelingt das nicht, ich bin einfach nicht gut genug.»).

Doch was sagt der Satz eigentlich aus? Doch nur, dass man den Anforderungen des Umfeldes, in dem man sich befindet, nicht entspricht. Man hat sich diesen Anforderungen nicht einfach untergeordnet, sondern ist ausgebrochen. Man hat sich nicht einfach unterworfen, sondern hatte etwas entgegenzusetzen. Sich selbst. Ich will damit nicht sagen, dass es keine Regeln mehr geben und keiner die vorhandenen achten soll. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass gegenseitige Rücksichtnahme und ein achtsames Miteinander wichtig und richtig sind für ein friedliches Zusammenleben und das Funktionieren von Gemeinschaften. Nur sollten diese Regeln so sein, dass sie den Mitgliedern der Gemeinschaft entsprechen, indem sie diese als Individuen mit Eigenheiten und Besonderheiten annehmen und sie nicht nach von aussen angelegten Massstäben passend zu machen versuchen.

Wo dies nicht der Fall ist, stellt sich vielleicht die Frage, ob man nicht, statt sich selbst zu verbiegen und doch zu hören und zu fühlen, dass man nicht genügt, das Umfeld wechseln könnte. Ob man sich nicht ein Umfeld suchen sollte, in dem eigene Bedürfnisse und äussere Anforderungen und Angebote besser übereinstimmen.


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6 Kommentare zu „Gedankensplitter: Ich sein

  1. Worte wie Ohrfeigen, allerdings nachhaltiger. Meine natürlich erfolglose „Therapie“ bestand aus 22 Jahren Alkohol- und Drogenkonsum. Ohne dem hätte ich mich vermutlich umgebracht.

    Lange her, das alles. Was bleibt, sind Narben und eine Sensibilität für solche Worte.
    Guten Morgen dir & Grüße, Reiner

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  2. Sandra: „Worte können nachhallen, sie können Gräben graben in die Seele und ins Herz.“

    Ja, wir alle wurden auf die eine oder andere Weise durch Worte und Gesten konditioniert. Die Gräben werden aber nur an der Oberfläche gegraben. Seele und Herz werden nicht erreicht.

    Konditionierung hat Macht
    – aber auch ihre Ohnmacht.

    Was wir sind, erreicht sie nicht,
    darauf hat sie keinerlei Einfluß.

    Sie wirkt nur an der Oberfläche, im Bereich des individuell Persönlichen und zeigt sich vorwiegend in dem, was wir Charakter nennen, das Eingegrabene. Hier werden die Dramen inszeniert.

    Wesentliches,
    wie das Bewußtsein,
    bleibt von ihr unberührt.

    Da uns die Konditionierung dieses Leben über erhalten bleibt (im nächsten gibt es eine neue), macht es Sinn, sich mit ihr zu arrangieren und nicht wie ein Don Quijote, dagegen zu kämpfen.

    Wenn wir morgens die Augen aufschlagen,
    ist sie schon da – aber sie ist nicht wesentlich.

    Sie ist so etwas wie die Klamotte des Tages.

    Es liegt an uns…, wie wir mit ihr umgehen, für wie
    wichtig wir sie nehmen und auf was wir fokussieren.

    Jede Konditionierung bietet ihren eigenen, individuell zugeschnittenen Rahmen für das Feld des Erlebens, Erfahrens, Lernens, Verstehens…

    Unsere Seele sucht sich die genau passende aus ― was aber schon längst vergessen ist, bevor wir auch nur „papp“ sagen können.

    Herbstgrüße… 🍂
    von Nirmalo

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  3. Ich wünschte, die Wahl des Umfeldes wäre leichter möglich. Als Kind in der Schule soll man ja z.B. auch lernen, mit Charakteren, die einem nicht liegen, zurecht zu kommen. Und ja, man kann nicht allem ausweichen im Leben, muss sich wohl einen Panzer aufbauen gegen gewisse widrige Umstände. Aber es das ist oft hart und schmerzlich und gefühlt nur dem Umstand geschuldet, dass der Zufall Personen zusammengewürfelt hat, die zu wenige Gemeinsamkeiten haben und nicht zusammen gehören.

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