
Hansjörg Schertenleib, 1957 in Zürich geboren, ist gelernter Schriftsetzer und Typograph. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller Das Zimmer der Signora und Das Regenorchester wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, u.a. Werke von Eoin McNamee und Sam Shepard, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und pendelt seit Sommer 2020 zwischen Autun im Burgund und Suhr im Kanton Aargau. Im Kampa Verlag sind erschienen: Die Fliegengöttin, Palast der Stille, Der Glückliche, die Maine-Krimis Die Hummerzange und Im Schatten der Flügel und Offene Fenster, offene Türen (HIER geht es zur Rezension).
Wer sind Sie? Wie würden Sie Ihre Biografie erzählen?
Es dauerte Jahre, um diese Frage zu beantworten… im übrigen interessiert mich die Frage ´wer könnte ich sein´ ungemein mehr denn die Frage, wer ich bin. Wer bin ich? Mehrere. Immer wieder ein Anderer. Immer wieder Andere.
Wieso schreiben Sie? Wollten Sie schon immer Schriftsteller werden oder gab es einen konkreten Auslöser?
Auch diese Frage kann ich, je länger ich schreibe, und ich tue dies nun schon fast vierzig Jahre professionell, nicht beantworten. Schriftsteller werden wollte ich ab etwa meinem 19. Lebensjahr. Warum weiss ich nicht mehr.
Woher holen Sie Ihre Ideen für Ihr Schreiben? Natürlich erlebt und sieht man viel, aber wie wird eine Geschichte daraus?
Arbeiten. Arbeiten. Arbeiten. Nachdenken. Nachdenken. Nachdenken. Überprüfen. Überprüfen. Überprüfen. Arbeiten. Arbeiten. Arbeiten.
Wenn Sie auf Ihren eigenen Schreibprozess schauen, wie gehen Sie vor? Mit Papier und Stift oder am Computer? Entsteht zuerst ein durchdachtes Gerüst oder aber schreiben Sie drauf los und schauen, wo das Schreiben hinführt?
Die erste Fassung entsteht am Laptop und auf Papier, geschrieben mit Bleistift; früher arbeitete ich mit präzisen Bauplänen, wusste also genau, wohin ich mich schreibenderweise bewege, heute schreibe ich freier, unkontrollierter, gelöster. Was auch bedeutet, dass ich mich auf Abwege begebe, Umwege liebe, Überraschungen (und diese bietet jeder Text) gerne annehme.
Wie gehen Sie mit Schreibblockaden um? Gibt es diese überhaupt?
Längere Schreibblockaden kenne ich nicht; kürzere Blockaden kenne ich sehr wohle, sehe sie allerdings nicht als Problem, sondern als zwingend und dringend nötiges Zögern und Zaudern oder unbewusstes Innehalten. Ich geniesse diese kurzen Blockaden geradezu.
Ich hörte mal, der größte Feind des Schriftstellers sei nicht mangelndes Talent, sondern die Störung durch andere Menschen. Brauchen Sie zum Arbeiten Stille und Einsamkeit, oder stören Sie andere Menschen nicht? Wo schreiben sie bevorzugt?
Ich schreibe in der Ruhe, der Stille, abgeschieden, im Inneren Exil, im selbst erschaffenen Reservat der Literatur an meinen Schreibtischen. Den einzigen Menschen, den ich in dieser Arbeits- oder Schreibzeit ´ertrage´, ist meine Frau Brigitte. Alle anderen Menschen sind Störung.
„Offene Fenster, offene Türen“ behandelt eine sexuelle Beziehung zwischen einer Studentin und einem Professor, die in den Sozialen Medien verurteilt wird. Hatten Sie nie Skrupel, ein so heisses Eisen anzupacken?
Literatur die keine ´heissen Eisen´, wie Sie es nennen, anpackt, interessiert mich nicht. Ein Stoff muss brennen, brennen auch unter den Nägeln des Schreibenden. Skrupel? Kenne ich höchstens, was die ´Behandlung´ meiner Figuren betrifft.
Carsten Arbenz, ihr Protagonist, geht ab und an in die Selbstreflexion, Juliette, die Protagonistin ist mehr damit beschäftigt, (auch unlautere) Strategien zu ihrer Rufrettung auszudenken? Lässt sich daraus eine grössere Sympathie Ihrerseits für Ihren männlichen Protagonisten herauslesen?
Ich mag beide Figuren genau gleich gern. Sie sind mir nah und zugleich fern. Figuren eben, die ich auf der nötigen Distanz halte – beide auf der gleichen Distanz, nota bene.
Apropos Sympathie: Unterm Strich sind beide Protagonisten nicht wirklich Sympathieträger. Nun neigen Leser, vor allem wohl auch Leserinnen, dazu, sich gerne mit den Figuren in Geschichten zu identifizieren oder zumindest mitfühlen zu können, was hier doch schwer fällt. Was hat sie daran gereizt, ihren Roman mit so wenig gewinnenden Figuren zu bestücken?
Ich kenne durchaus Leserinnen und Leser des Romans, welche die beiden Hauptfiguren sympathisch finden. Mir als Leser ist es unwichtig, mich mit Figuren identifizieren zu können, mag es im Gegenteil nicht, wenn Autorinnen und Autoren mich über ihre Figuren manipulieren, indem sie sich mir andienen.
Sie kritisieren die Sozialen Medien mehrfach in ihrem Roman, bezeichnen sie als rachsüchtiges und ungerechtes Tribunal, schreiben von Denunziation und von einem sozialen Zirkus. Sind die Sozialen Medien des Teufels oder sehen Sie auch positive Aspekte darin?
Die Sozialen Medien sind nicht des Teufels nein, sie sind einfach dumm, eitel, laut, ungerecht, verurteilend. Nein, etwas Positives sehe ich in ihnen nicht.
Goethe sagte einst, alles Schreiben sei autobiographisch. Wie viel Hansjörg Schertenleib steckt in Ihrem Roman „Offene Fenster, offene Türen“?
Ich denke auch, dass sich jedes ernsthafte literarische Schreiben aus dem Speicher gemachter Erfahrungen speist. Ob dies dann gleich Autobiographisches Schreiben ist, wäre eine andere Frage. Was und wieviel in meinen Texten steckt geht niemanden etwas an, Vwerzeihung.
Im Moment ist das Thema „Frauen in der Literatur“ in vieler Munde. Es gibt Stimmen, welche die Frauen als untervertreten ansehen, andere, die behaupten, als Mann hätte man fast keine Chance mehr, ein Manuskript unterzubringen (es gibt gar männliche Autoren, die unter weiblichem Pseudonym schreiben deswegen). Wie erleben Sie das?
Hier schweigt des Dichters Höflichkeit.
Welche fünf Tipps würden Sie einem angehenden Schriftsteller geben?
Ich war fünf Jahre als Mentor am Literaturinstitut Biel beschäftigt und habe dort gelernt, keine Ratschläge mehr zu geben. Höchstens diesen: Schreiben kann man nicht lernen, lernen kann man höchstens Tricks, Abkürzungen, Kniffe, Strategien, das Auftreten, sich Verkaufen, Anpreisen. Alles Dinge, die ich verabscheue.