Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…
Das Gedicht «Einsamkeit» stammt aus Rilkes Gedichtband «Buch der Bilder» und es macht diesem Buchtitel alle Ehre: Rilke fasst etwas in Worte, das sich eigentlich nur fühlen lässt, das sich der Sprache entzieht. Er schafft wunderbare Wortbilder, die das Unsagbare erfahrbar machen. Die Einsamkeit wird durch eine Metapher zu etwas Handfestem, etwas, das jeder aus der eigenen Erfahrung, aus dem eigenen Leben kennt und darum nachvollziehen kann: «Die Einsamkeit ist wie ein Regen».
Es folgt eine Beschreibung dessen, was in der Natur vor sich geht, wenn es regnet: Das Wasser wird erst aus dem Meer angezogen, um sich schliesslich vom Himmel über die Welt zu ergiessen. Genau das passiert auch mit der Einsamkeit: Sie ergiesst sich zu gewissen Stunden über die Stadt, in Stunden nämlich, in denen der Mensch auf sich selber zurückgeworfen ist, weil die Ablenkung des alltäglichen Lebens wegfällt und nur der Mensch für sich zurückbleibt. Es sind diese Momente, die einen zum Nachdenken bringen, oft fast zwingen, die Momente, in welchen man Bilanz zieht über das, was wir das eigene Leben nennen.
Rilke weist auf die Leiber hin, die nicht fanden, was sie suchten, die dann traurig wieder ihre eigenen Wege gehen, den anderen lassen, wo er ist. Er erzählt von den Menschen, die im selben Bett liegen, obwohl sie sich hassen. Und in all dem steckt das Eine: Die Einsamkeit, die den Menschen in der Situation mitreisst wie ein Fluss.
So gesehen ein tief trauriges Gedicht, aber in meinen Augen steckt auch hier – wie in vielen seiner Gedichte –
Rilkes Sicht des Lebens als Kunstwerk drin, mit welcher sein Satz „du musst dein Leben ändern“ (das ich besser mag als ein „du kannst dein Leben ändern“) einhergeht: Wie oft verharren wir in Situationen, die uns nicht gut tun, nur weil wir uns vor Neuem fürchten? Müssen wir (sinnbildlich) das Bett mit einem teilen, den wir hassen? Hätten wir es nicht in der Hand, Situationen und Stätten, die für uns nur noch leidvoll sind, zu verlassen? Damit hätte das Gedicht auch etwas Mutvolles, etwas, das Selbstwirksamkeit verspricht, wenn man nur genau hinschaut. Und dazu rufen Gedichte immer wieder auf. Trotzdem bleibt zu sagen, dass sowohl das Hinschauen wie auch das Ändern nicht immer einfach ist. Aus dem Grund kennen wohl alle Menschen das Gefühl, das dieses Gedicht so wundervoll bildhaft beschreibt.
Ich schätze Rilke ohnehin sehr. In diesem Text finde ich ebenfalls eine Anregung. Mutig sein. Optimistisch und offen auf kritische Situationen zugehen.
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