Kleine Poesie: Schmetterling

Die Raupe und der Schmetterling

Freund, der Unterschied der Erdendinge
Scheinet groß und ist so oft geringe;
Alter und Gestalt und Raum und Zeit
Sind ein Traumbild nur der Wirklichkeit.

Träg und matt auf abgezehrten Sträuchen
Sah ein Schmetterling die Raupe schleichen
Und erhob sich fröhlich, argwohnfrei,
Daß er Raupe selbst gewesen sei.

Traurig schlich die Alternde zum Grabe:
„Ach, daß ich umsonst gelebet habe!
Sterbe kinderlos und wie gering!
Und da fliegt der schöne Schmetterling.“

Ängstig spann sie sich in ihre Hülle,
Schlief, und als der Mutter Lebensfülle
Sie erweckte, wähnte sie sich neu,
Wußte nicht, was sie gewesen sei.

Freund, ein Traumreich ist das Reich der Erden.
Was wir waren, was wir einst noch werden,
Niemand weiß es; glücklich sind wir blind;
Laß uns eins nur wissen: was wir sind.

(J. G. Herder)

4 Kommentare zu „Kleine Poesie: Schmetterling

  1. Danke für diesen in jeder Hinsicht wundervollen Eintrag. Ja, wir spielen nur unser Stückchen – und wissen es und leiden in dem Moment, wo wir das Cliche aussprechen. Aber was wissen wir wirklich? Sind wir wirklich nur „a walking shadow, a poor player that struts and frets his hour upon the stage and than is heard no more“? (Macbeth). War die Raupe nicht Schmetterling und der Schmetterling Raupe? Und wer-was waren wir und werden wir sein? Wenn wir das große Bild ins Auge fassen, findet der Traum seinen Ort in der Wirklichkeit und wir erkennen vielleicht, dass Schmetterling und Raupe endlich sind, die Metamorphose aber im Ewigen beheimatet ist.

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