Das Leben konfrontiert uns mitunter mit Herausforderungen, die uns im ersten Moment überfordern, die wir uns nie vorzustellen wagten und die dann über uns hereinbrechen. Der Umgang damit bereitet Probleme, zeigt uns Grenzen auf, über die wir immer wieder hinausgeführt werden.
Der folgende Gastbeitrag ist eine Fortsetzung zum bereits hier erschienenen Artikel:
Vielleicht erinnert Ihr Euch an meinen ersten Gastbeitrag in Sandras Blog, als ich meinen Vater mit akuten Wahnvorstellungen in die Psychiatrie Weinsberg einweisen ließ. Als ich ihn dort Anfang Oktober die ersten zwei, drei Tage besuchte, wurde er immer „normaler“, schien sich auf dem Weg zur Besserung zu befinden. Er machte sich große Sorgen um die Umstände seiner Einweisung (Messer, Polizei) und wie immer waren seine letzten Worte bei unserem Abschied, ich solle doch bitte vorsichtig fahren. Allerdings: seine Angst vor der Anstalt blieb bestehen. Er warnte mich unablässig, dass er hier umgebracht werden würde, machte sich große Sorgen, ob ich die geschlossene Abteilung unbehelligt wieder würde verlassen können und wähnte sich in einer großen Verschwörung, die er klar erkennen konnte und in der ich seiner Meinung nach unwissentlich mitarbeitete. Als sein bester Freund und meine Tante, die Schwester meiner 2011 verstorbenen Mutter, ihn besuchten, redete er von Flucht und zeigte ihnen alle Fenster und Türen. Er beschwor sie eindringlich, ihn zu retten, da er sonst verloren sei.
Er war 5 Tage dort, als ich nachts kurz vor 23 Uhr einen Anruf bekam, man hätte ihn in das nahegelegene Klinikum auf die Intensivstation verlegt, da er am Vormittag gestürzt und den ganzen Tag nicht mehr ansprechbar gewesen sei. Nicht aufzuwecken. Weggedriftet. Ich eilte noch nachts dorthin, man ließ mich 20 Minuten auf dem Gang warten, ohne mir Bescheid zu geben, in welchem Zustand er sich befand. Krank? Lebensbedrohliche Situation? Schon gestorben? Mein Vater war mittlerweile in ein Delirium gefallen – bedingt durch seinen gutartigen Hirntumor, Cortison, Diabetes, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankung, Aufregung über die Einweisung, Demenz – what ever – die Liste seiner Risikokomponenten für ein Delirium ist mehr als nur vollständig.
Man stellte uns eine lebensrettende Operation des Tumors in Aussicht, sobald in einer der dafür spezialisierten Kliniken ein Intensivbett frei werden würde. Es gab zahlreiche neurologische Konzile zwischen der behandelnden Klinik in Heilbronn, und solchen in Würzburg und Ludwigsburg. Wir machten uns Hoffnungen, da uns bisher nur gesagt wurde, dass der Tumor nicht für seine Ausfälle verantwortlich sei und daher eine OP nur bei Beeinträchtigung des Sehnervs in Frage käme. Leider scheint dabei die Tatsache übersehen worden zu sein, dass mein Vater sich in einem tiefen Delirium befand und damit inoperabel war. Langer Rede kurzer Sinn: Man verlegte ihn aus dem Klinikum zurück in die gerontologische Psychiatrie. Als ich ihn auf der Intensivstation besuchte, sah ich einen verkabelten Mann im Bett liegen, bei dem alle Funktionen überprüft wurden, weil man sich Sorgen machte. Zwei Stunden hatte man ihn wie einen nassen Sack in einem übergroßen Rollstuhl fixiert, sabbernd und völlig desorientiert.
Er reagierte auf mich aggressiv. Offensichtlich regte ihn meine Anwesenheit auf. Man riet mir, meine Besuche auszusetzen, was ich mehr als nur dankbar annahm. Ich bin eine Verdrängungskünstlerin. Ich brauchte Abstand, ich habe meinen Vater und seine Situation kunstvoll ignoriert. Ich bin sogar nach München gefahren und habe das Wochenende dort genossen.
Kaum war ich wieder zurück, wurde ich vom stellvertretenden Arzt – der Chefarzt war im Urlaub – zum Gespräch gerufen – ein Novum. Einfühlsam aber zielstrebig kam er auf die fehlende Patientenverfügung zu sprechen, meine Vollmacht, die stetige Verschlechterung des Zustands, die Hoffnungslosigkeit und die Möglichkeit, alle lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen, da mein Vater mittlerweile über eine Magensonde ernährt wurde. Selbstverständlich würde man aber weiter schmerzstillende Medikamente geben, ihn aber letztlich verhungern und verdursten lassen. Und das, obwohl er kurz vorher bei einem Besuch deutlich geäußert hatte, dass er Hunger hätte. Auf das Wort „Brei“ hat er zustimmend mit „JA!“ geantwortet. Mir kam es wie ein verrecken lassen vor.
Ich sah meinen Vater leiden. Wenn ich nach Zukunftsaussichten oder auch nur der Möglichkeit fragte, dass er wieder aus dem Delirium kommen könnte – Schweigen. Ungewissheit. Man wusste es nicht. Natürlich nicht, daraus mache ich keinem Menschen einen Vorwurf. Ich bat mir Bedenkzeit aus und ging nach Hause. Rief von dort nach zwei Stunden an und sagte, dass ich wolle, dass bei meinem Vater alles Menschenmögliche zur Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen getan werden solle. Ja, man würde dies so in die Akten übernehmen. Hat man übrigens nicht, das nur als Randnotiz.
Und nun sind wir am Punkt angelangt: Es ist nicht lustig, wenn ein Mensch vier Wochen im Delirium, Koma oder sonst was liegt. Er hatte Schmerzen beim Liegen, sein Mund war völlig wund, schwarz mit Schrunden übersät, er litt ganz offensichtlich. Er musste nach wie vor 5-Punkt-fixiert werden, da er sich gegen pflegerische Maßnahmen wehrte, sich die Magensonde ausriss, etc..
Dabei wurde er immer weniger, verlor nach und nach die Sprache. Ich habe ihn letzte Woche zum Glück sehr oft besucht, hatte seinen Lieblingshund dabei, habe mit ihm klassische Musik gehört. Manchmal öffnete er die Augen, aber er hat mich nicht erkannt. Vor zwei Tagen fragte ich ihn, ob ich wieder mit Aristo (unserem Hund) zu Besuch kommen solle und er hat es positiv beantwortet.
Gestern rief mich dann die psychiatrische Abteilung an und meinte, dass sich sein Zustand akut verschlechtert hätte. Wieder stand die Frage im Raum: Sollte man ihn noch auf die Intensivstation verlegen oder ihn dem sicheren Tod preisgeben? Ich musste mich entschieden. Ich hatte zahlreiche schlaflose Nächte mit zu viel Rotwein hinter mir, hatte Angst, ihn unnötig leiden zu lassen. Mich verfolgte sein Leid, sobald ich das Licht ausschaltete – und doch, wer bin ich, seinen sicheren Tod zu veranlassen? Man hat mir die Option mehrmals sehr eindrücklich nahegelegt, die fehlende Patientenverfügung schien ein Problem zu sein. Ich stieß überall auf lauter vorgefertigte Meinungen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ihn schon so lange leiden zu lassen. Meine Mutter ist vor drei Jahren an Krebs gestorben, es war richtig schlimm. Auch wenn man keine Hitparade der schlimmsten Tode starten muss, kein Mensch hat es verdient, so wie mein Vater zu sterben.
Ich rief die Mutter meines Vaters an, fragte sie um Rat. Zum Glück (ich hatte es schon vermutet) lehnte sie es ab, ihn einfach dem sicheren Tod zu überlassen, und entschied sich für die Intensivstation. Er wurde verlegt. Nierenversagen wurde diagnostiziert. Sie teilten mir mit, dass sie alle Reanimation ablehnen würden, da Gehirn und Herz schwerstens geschädigt seien. „Soll ich vorbei kommen?“ „Nein, es kann sehr lange dauern, wir informieren Sie.“ Ich ging ins Bett, Telefone neben mir. Schlechte Nacht. Sehr schlechte Nacht. Schlaflos. Erleichterung, wenn der frühe Morgen vorbei war, denn Todkranke sterben in den frühen Morgenstunden. Nein, sie sterben auch morgens um 9 Uhr – so wie mein Vater. Sie haben reanimiert. Erfolglos.
Ich bin froh, habe ich nicht zu verantworten, dass er sterben musste. Ich bin froh, haben wir alles versucht und ich muss mich nicht mein Leben lang fragen, ob er vielleicht noch länger hätte leben können – in welchem bedauernswerten, hilflosen Zustand auch immer. Ich möchte und werde diese Entscheidung für ein anderes Leben nicht fällen. Feige? Ja, wahrscheinlich. Aber mein Vater wollte bis zuletzt nicht sterben! Patientenverfügung? Wird es von mir niemals geben, denn ich habe erlebt, wie sie allzu schnell gezogen wird und wie man sich rechtfertigen muss, wenn man noch Hoffnung hat – sei sie berechtigt oder nicht. Und nein, ich will nicht verrecken, indem man mich mutwillig verhungern und verdursten lässt.
Ich bin traurig. Verloren.
Was bereitet mir den meisten Kummer? Dass die Angst meines Vaters sich bewahrheitet hat. Dass sich seine Ängste von einem völlig überdrehten, realitätsfremden Alptraum zu seinem Schicksal entwickelt haben. Er hatte recht: Er hat die Abteilung nie mehr verlassen, er ist dort gestorben, sie haben ihn quasi festgehalten. Und: Ich war Erfüllungsgehilfin. Natürlich geschah alles unter anderen Vorzeichen, aber all das, was er geäußert hat unter schlimmster Pein, hat sich auch erfüllt. Seine Ängste waren berechtigt.
Es ist ganz schlecht, wenn man keine Patientenverfügung hat. Scheinbar. Ich werde nie eine haben, denn ich fühlte mich schon fast rechenschaftspflichtig, wenn ich darum gebeten habe, das Leben meines Vaters zu retten. Es gab keine klare Aussagen, ob er Überlebenschancen hat und wie er nach einem Delirium würde leben können. Alle waren jedoch sehr bemüht, ihn möglichst schnell aus dem Leben zu befördern.
Ich bin traurig, unsortiert, hilflos. Ich habe Phasen, wie beim Beerdigungsinstitut, da funktioniere ich. Dann kommen wieder die Phasen wie jetzt: Ich sitze da und heule Rotz und Wasser.
Mein Vater ist heute Morgen gestorben.
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Mein herzliches Beileid. Ich wünsche dir viel Kraft, die Gewissheit, dass du für dich und euch das Richtige entschieden hast. Ich wünsche dir, dass die Erinnerungen weniger schmerzvoll werden und die Liebe im Herzen zurückbleibt.