Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben

«Unsere Mutter sollte sich heimisch fühlen, denn, wie wir ihr im Laufe des Tages immer wieder sagten, hier wohnte sie jetzt, das war jetzt ihr «Zuhause», wogegen sie resigniert protestierte: «Nein, das wird nie mein Zuhause sein», dann: «Nein, das ist nicht mein Zuhause, bevor sie es leid war, dass wir sie scheinbar nicht verstanden, und sagte: «Jaja, ich weiss, aber es ist nicht dasselbe.»»

Didier Eribon erzählt von seiner Mutter, vordergründig, in Tat und Wahrheit erzählt er mehr von sich und seinem Verhältnis und Verhalten der Mutter gegenüber. Er liefert eine Sozialstudie dessen, was es heisst, alt und damit Minderheit zu sein. Er demonstriert, was es bedeutet, einer unteren Klasse zuzugehören, und welche Probleme damit verbunden sind.

«…mir wurde wieder einmal bewusst, wie befremdlich und nahezu unerträglich das sein kann, was man gemeinhin als «Familienbande» nennt. Was verband uns? Nichts. Rein gar nichts. Ausser der Tatsache, dass wir hier waren, um uns um unsere Mutter zu kümmern, dass wir hier sein mussten.»

Und: er zeigt die Zerwürfnisse und Schwierigkeiten in Familien, vor allem dann, wenn es darum geht, Lösungen zu finden, an denen alle beteiligt sind und die alle in einer Weise betreffen. Neben der persönlichen Ebene dieses Buches gibt es auch die soziale, die politische. Didier Eribon verweist auf die Lage von alten Menschen in unserer Gesellschaft, auf ihr Übergangensein, auf ihre Stellung am Rande der Gesellschaft und dieser quasi nicht mehr zugehörig. Sie haben keine Stimme mehr, Entscheidungen werden oft über ihren Kopf hinweg und für sie getroffen. Es ist, so Eribon, dringend nötig, alten Menschen wieder eine Stimme zu geben, ihnen die Würde zu belassen, die ihnen zusteht.

«Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit.»

Eribon schaut unbarmherzig auf seine Beziehung zu seiner Mutter. Er sieht seine Versäumnisse, sein mangelndes Einfühlungsvermögen und auch die Vernachlässigung der Beziehung. Er war in seinem Weg der Abgrenzung von seiner Herkunft, damit, all das, was dafürstand, abzulehnen, so gefangen, dass ihm der Blick auf die anderen, das Einfühlen in ihre Position und ihren Umgang mit der Situation, verborgen blieb. Nein, all das blieb nicht einfach verborgen, er schaute bewusst weg.  

Eribon bleibt aber nicht beim Persönlichen stehen, er zeichnet auch ein Bild der Gesellschaft, wie sie war, vor allem auch für Frauen:

«Als Frau hatte man es schwer, Männer konnten machen, was sie wollen, Frauen nicht.»

Seine Mutter kam aus einer Zeit, in welcher Frauen wenig Rechte und Möglichkeiten hatten. Den Frauen und deren Entscheidungen ausgeliefert hatten sie den Platz einzunehmen, der ihnen zugewiesen wurde. Dies war vor allem in den unteren Klassen der Fall, in welchen generell wenig Spiel- und Freiraum zur Lebensgestaltung herrschte.

«Selbst wenn eine Ohnmachtserfahrung der Vergangenheit angehört, wenn sie längst in Vergessenheit geraten ist, hinterlässt sie unauslöschliche Spuren.» 

Auch wenn sich die Zeiten verändert haben, Frauen mehr Rechte bekamen, so sitzen die Spuren dessen, was war, doch tief. Ein neues Verhalten, eine neue Gewissheit für den eigenen Platz in der Gesellschaft ergibt sich nicht von heute auf Morgen. Zudem hat sich das Neue auch in den Köpfen anderer noch nicht vollkommen eingenistet, so dass Spuren vom Alten noch immer aktuell sind und damit auch erlebt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass mit der fortschreitenden Zeit eine weitere Schwierigkeit auftaucht, ein neues Stigma, welches den Stand in der Gesellschaft erneut schwieriger macht: Das Alter. Mit diesem einher geht eine weitere Diskriminierung, die erneute Erfahrung, nicht mehr zum aktiven Teil der Gesellschaft gezählt zu werden und nach und nach, wenn die Gesundheit entsprechend ist, in Zwangssituationen zu geraten, die man selbst nicht möchte.

«Der Umzug ins Altenheim ist… der Eintritt in eine erzwungene Gemeinschaft, der man sich schwerlich entziehen kann.»

Wer sagte nicht in jungen Jahren, dass er nie in einem Altenheim leben möchte, weil man damit wenig Positives verbindet. Diese Sicht verfestigt sich und ist nicht einfach weg, wenn der Zeitpunkt kommt, dass man es in Erwägung ziehen muss – oder dazu genötigt wird, es in Erwägung zu ziehen. Dieser Umzug ist nicht einer von vielen, er gleicht einem aus der Freiheit des eigenen Seins und Tuns in ein geregeltes System mit Vorschriften und erzwungenen Nachbarschaften.

«Wenn alte Menschen keine Stimme haben. Oder nicht mehr haben oder sogar, im Fall Pflegebedürftiger, nicht mehr haben können – sind dann nicht andere angerufen, ihnen eine Stimme zu geben»?

Wir dürfen nicht wegschauen. Menschen sind Teil unserer Gemeinschaft. Immer. In jedem Alter, mit allen Fähigkeiten und Hindernissen. Oft vergessen wir die, welche sich nicht mehr wehren können. Wir lassen sie am Rand stehen. Vordergründig sind sie versorgt, doch was dieses «versorgt» wirklich bedeutet, blenden wir aus. Didier Eribon hat hingeschaut. Und er hat dieses Buch geschrieben. Er hält den Finger in die Wunde dieser Gesellschaft. Er gibt seiner Mutter eine Stimme, als diese keine mehr hat. Er gibt durch sie den Menschen eine Stimme, die keine haben. Damit wir sie hören. Und hinschauen.

Das Buch wurde von mir sehr erwartet und hatte damit wohl einen schweren Stand. Auch schwer war es, weil ich von den beiden vorher gelesenen Büchern «Rückkehr nach Reims» und «Gesellschaft als Urteil» mehr als begeistert war. Ich wurde, ich kann es gleich sagen, enttäuscht. Ob das nur der hohen Messlatte geschuldet war, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber für mich war es sicher nicht Eribons bestes Buch. Trotzdem ist es absolut lesenswert und eine Empfehlung von mir.

Lesemonat August

Der Monat glich eher einem April als einem August. Nach einer unsäglichen Hitze in strahlendem Sonnenschein, tobten bald schon Unwetter und das Grau in Grau der verregneten Umwelt verschleierte den Blick aus dem Fenster. Immerhin war es das passende Wetter, mich in die Bücher zu versenken, so dass ich teilweise wenig davon mitkriegte. Der Monat war – im Gegensatz zu den meisten anderen – thematisch konzentriert, die gelesenen Bücher behandelten Themen der Politik und der Gesellschaft, sie handelten von Herkunft und deren prägendem Charakter für den Menschen und die Gesellschaft, von Macht und Herrschaft und damit einhergehender Diskriminierung derer, welche nicht den Normen des dominanten Herrschaftsmehrs entsprechen.

Das erste Buch war ein Abgesang an die romantische Liebe, im zweiten sollten wütend Wände eingerissen werden. Danach ging es sachlicher zu und her, Mittel und Wege gegen Klassismus wurden aufgezeigt, die Fremde und ihre Grenzen wurden beleuchtet, das Gefühl der Entfremdung in der Gesellschaft erforscht. Ich befasste mich mit dem Liberalismus, um dann wieder zum Klassismus zurückzukehren. Ich beschäftigte mich mit Bildung und Ungerechtigkeit und der Frage, was das Gute ist. Und dann….

Dann kam das Highlight wohl nicht nur des Augusts, sondern einer langen Lesegeschichte – und es wird nachhallen: Didier Eribons «Rückkehr nach Reims» und dessen Fortsetzung «Gesellschaft als Urteil». Selten, dass mich ein Buch so gepackt hat. Selten, dass ich aus einem Buch so viel mitgenommen, so viel für mich erkannt habe. Selten, dass mich ein Buch so begeistert hat und ich daraus so viel Inspiration für eigene Projekte gewann.

Was waren eure Highlights im August?

Die ganze Liste:

Andrea Newerla: Das Ende des Romantikdiktats. Warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken solltenUnsere Liebesbeziehungen sind nicht Privatsache, sondern soziale Konstrukte, die wir verinnerlicht haben. Die Herausstellung der romantischen Liebesbeziehung ist eine neue, konventionelle Errungenschaft und sie unterliegt patriarchalischen und gesellschaftsrelevanten Normen. Dieses Bewusstsein sollte dazu führen, unsere Beziehungen neu zu denken, Freundschaft einen anderen Stellenwert einzuräumen, Sexualität aus der romantischen Beziehung zu nehmen und Intimität vielfältiger lebbar zu machen, um zu neuen Formen des Miteinanders zu kommen, die Individualität, Autonomie und Gemeinsamkeit besser vereinbaren lassen. Viele Wiederholungen, viele Gemeinplätze und Altbekanntes, wobei ein Aufruf zur Anerkennung vielfältiger Lebensformen und -gestaltungen durchaus wichtig ist. 3
Pia Klemp: Wutschrift. Wände einreissen, anstatt sie hochzugehenEin wichtiges, ein dringendes Thema (soziale, strukturelle und systematische politische Entscheidungen, die Flucht und Migration zu einem menschenunwürdigen und oft tödlichen Unterfangen machen), doch ich musste das Buch abbrechen. Die Sprache ist dermassen mündlich, fast vulgär, dass ich das so nicht lesen möchte. Es ist vielleicht des wirklich brennenden Themas wegen in Wut und Rage geschrieben, was zum Titel passen würde, doch hier verleidet mir die Form den Inhalt und wende mich lieber anderen Büchern zu dem Thema zu. 
Francis Seek, Brigitte Theißl: Solidarisch gegen Klassismus. organisieren, intervenieren, umverteilenKlassismus ist überall, und doch kaum ein Thema. Klassismus grenzt Menschen aus, führt in die Isolation, macht krank. Klassismus muss diskutiert werden, muss sichtbar werden, muss als Problem mit all seinen vielen Ausprägungen bewusst werden. Und wir brauchen Lösungen. 26 Texte, teils sachlich, teils Interviews, teils persönlich aus der Betroffenheit heraus zeigen die verschiedenen Aspekte von Klassismus. Das Ziel ist, das Problem sichtbar zu machen, Projekte vorzustellen, die Lösungen anstreben, Strategien zu erläutern, die wir ergreifen können, um etwas zu verändern.

Ein wichtiges Buch, ein Buch, das Pflichtlektüre werden sollte. 
5
Elisabeth Wellershaus: Wo die Fremde beginntGedankenräume über erfahrenen Rassismus, Nachdenken über blinde Flecken bei sich und in der Gesellschaft, eine persönliche Lebensreise durch verschiedene Stationen der eigenen Biografie, pendelnd zwischen Spanien und Deutschland, zwischen verschiedenen Identitäten und Zuschreibungen. Ein persönliches, ein augenöffnendes Buch, ein Buch über systemische, strukturelle und individuelle Diskriminierung. 5
Peter v. Zima: Entfremdung. Pathologien der postmodernen GesellschaftEine Untersuchung der verschiedenen Bereiche der Entfremdung wie Arbeit, Familie, Konsum, Psyche, Medien, etc. sowie das Aufzeigen der Verbindung derselben untereinander. Der Mensch in seinem Fremdsein im Umfeld wird beleuchtet, die Rolle von Geld, Tauschwirtschaft und immer grösser Partikularisierung aufgezeigt, welche den Menschen unter einen Leistungsdruck in zunehmender Anonymisierung der Umwelt treiben, so dass er versucht, ein Image aufrechtzuerhalten, um wenigstens auf Bewunderung zu stossen, so dass er (vermeintlich) seinen Selbstwert bewahren kann. Das Kranken der Gesellschaft an immer grösserer Indifferenz, in welcher sich der Einzelne, auf sich selbst zurückgeworfen und als dieser nicht wirklich anerkannt, von sich und der Welt entfremdet.  5
Elif Özem: Was ist Liberalismus?Was macht den Liberalismus aus, auf welchen Grundsätzen beruht er und wie lassen sich die in der Praxis durchsetzen, so dass eine Gesellschaftsform aus freien, gleichen und individuell pluralistischen Bürgern entsteht? Elif Özem diskutiert fundiert und tiefgründig vor dem Hintergrund von Rawls Gerechtigkeitstheorie, Hannah Arendts Ansätzen zum Pluralismus und anderen philosophischen Wegbereitern bis zurück in die Antike die Idee des Liberalismus und zeigt, wieso die liberale Demokratie «die schlechteste Regierungs- und Lebensform – abgesehen von allen anderen» ist. 5
Andreas Kemper, Heike Weinbach: Klassismus. Eine EinführungKlassismus als Begriff für individuelle, institutionelle und kulturelle Diskriminierung und Unterdrückung ist kaum bekannt als Form der Diskriminierung, dabei wirkt sie auf dieselbe Weise auf Menschen und Menschengruppen wie die besser erforschten Formen des Sexismus, Rassismus und anderer. Das Buch will die verschiedenen Formen des Klassismus aufzeigen, will die Stereotypen offenlegen, mit denen Menschen konfrontiert wird und den Blick auf das Unrecht lenken, das zu oft ignoriert wird sowohl von der Politik wie auch von der Gesellschaft. 5
Maria do Mar Castro Vaerla & Bahar Oghalai: Freund*innenschaft. Dreiklang einer politischen PraxisEs soll eine Vermittlung zwischen rechten Strömungen und linker Identitätspolitik sein, doch ich fand sie nicht. Das Thema der Fraundschaft in seiner Abhandlung bei anderen Philosophen, Begriffe wie Allyship und Solidarität oder Sisterhood wurden behandelt und es fehlte schlicht der rote Faden oder das Ziel, wohin das alles führen soll. 2
Meike Sophia Baader, Tatjana Freytag (Hrsg.): Bildung und Ungleichheit in DeutschlandArtikel zum Thema, welche eine Vielzahl an Studien kommentieren und zusammenfassen, Soziologen zitieren, Artikel nennen. Oft bleibt ein wirkliches Fazit aus, die Aussage, dass gewisse Bereiche noch zu wenig erforscht seien, findet sich nicht selten, und wirkliche Umsetzungsvorschläge sucht man vergeblich. So bleibt man mit vielen Fragezeichen zurück und hat keine Ahnung, wozu das Buch nun wirklich gut war. Vielleicht für angehende Bildungssoziologen, die den Stand der aktuellen Forschung kennenlernen wollen, wobei das Buch dazu wohl einen Anhaltspunkt, aber sicher keine abschliessende Antwort liefern kann. 3
Didier Eribon: Rückkehr nach ReimsDie autobiografische Erzählung von Didier Eribon, welcher zu seinen Wurzeln im Arbeitermilieu zurückkehrt, aus dem er für lange Zeit geflohen war – körperlich und geistig. Eribon verwebt autobiografische Erlebnisse mit politischen, soziologischen und psychologischen Erklärungen, er zeichnet das Bild einer Zeit und einer Gesellschaft, erläutert politische Gesinnungen und Gesinnungswechsel, legt eigene Gedanken und Verhaltensmuster offen. Ein kluges, ein tiefes, ein bewegendes, ein wichtiges Buch. Ein Herzensbuch.6 von 5
Iris Murdoch: Die Souveränität des GutenIris Murdoch geht der Frage nach, was das Gute wirklich ist. Sie beruft sich auf Kant, Platon, Kierkegaard, setzt sich von den Existenzialisten ab, indem sie deren Ansatz als zu wenig weit reichend darlegt. Das Gute ist in sich nicht fassbar, doch liegt es allem sonst zugrunde, ist es das, wonach alles strebt, allen voran die Liebe. Das Buch lässt einen roten Faden vermissen, es hat keine abschliessende Antwort, es ist ein Suchen und sich Annähern, dessen letzter Schritt offen bleiben muss. 4
Didier Eribon: Gesellschaft als UrteilDie Fortsetzung zu «Rückkehr nach Reims», eine weitere Innenschau und Analyse der äusseren Verhältnisse, der Klassenkämpfe und anderer Herrschaftskämpfe in der Gesellschaft. Die Aufschlüsselung verschiedener Macht- und Unterdrückungsstrukturen, die Beschreibung der eigenen verinnerlichten Muster und Zwiespältigkeiten, vor allem auch nach Klassenwechseln. Ein weiteres grossartiges Buch, das neben den Bezügen auf das eigene Leben auch vielfältige Verweise zu soziologischen, philosophischen und literarischen Werken macht. 5

Gedankensplitter: Herkunft, die nicht vergeht

«Die lange verleugnete Wahrheit über das, was ich war, kam zu mir zurück und zwang mir ihr Gesetz auf.»

Wir kommen in diese Welt und sie schreibt sich in uns fest. Wir gehen unseren Weg, doch nehmen wir mit, was wir unterwegs auflesen. Jean Paul Sartre schrieb in seinem Stück Saint Genet:

«Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.»

Als Existenzialist vertrat er die Meinung, dass wir sein können, wer wir wollen, dass das Leben keinen Sinn hat ausser dem, den wir ihm zuschreiben durch unser Dasein. Und doch: Wir sind, wer wir sind, auch aufgrund dessen, woher wir kommen. Und diese Herkunft prägt unser Sein bis tief in unsere Gene, sie ist in unserer Haltung, unserer Sprache, unserem Denken eingeschrieben und wirkt sich da aus. Zwar können wir die Herkunft verlassen, doch los werden wir sie nie.

Als ich Didier Eribons «Rückkehr nach Reims» las, kamen mir unter der Dusche spontan folgende Zeilen in den Sinn, so dass ich diese verliess, um sie sofort aufzuschreiben:

«Es gibt Bücher, die sind für dich geschrieben. Sie tragen Sätze in sich, die zu dir sprechen, weil sie gleichsam auch aus dir sprechen. Sie scheinen dazu geschrieben worden zu sein, dass du dich in ihnen erkennst und dir endlich erklären kannst, was du bislang nur gefühlt hast, aber nicht erfassen und einordnen konntest – oder dich nicht trautest, es zu tun.»

Müsste ich ein Buch nennen, das mir wichtig ist, das mir am Herzen liegt, das ich nicht missen möchte, es wäre dieses.

***

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, Suhrkamp Verlag, 2023.

Die autobiografische Erzählung von Didier Eribon, welcher zu seinen Wurzeln im Arbeitermilieu zurückkehrt, aus dem er für lange Zeit geflohen war – körperlich und geistig. Eribon verwebt autobiografische Erlebnisse mit politischen, soziologischen und psychologischen Erklärungen, er zeichnet das Bild einer Zeit und einer Gesellschaft, erläutert politische Gesinnungen und Gesinnungswechsel, legt eigene Gedanken und Verhaltensmuster offen. Ein kluges, ein tiefes, ein bewegendes, ein wichtiges Buch. Ein Herzensbuch.

Claire Marin: An seinem Platz sein. Wie wir unser Leben und unseren Körper bewohnen

Inhalt

«Bei der Suche nach dem richtigen Platz geht es um die Frage nach unserer Einzigartigkeit, aber auch darum, wie wir uns in eine Gesellschaft, eine Familie oder Gruppe einfügen, der wir angehören oder gern angehören würden.»

Wer bin ich und wo gehöre ich hin? Diese Frage stellt sich dem Individuum und sie lässt sich nicht so leicht beantworten. Es ist eine Frage nach dem Ort und der Zugehörigkeit im Leben und im Sein, es ist die Frage, welches der Platz ist, den man in diesem Leben, in dieser Gesellschaft innehat. Was prägt den Platz und wie prägt er den Einzelnen? Was passiert, wenn der Platz nicht mehr verfügbar ist und was, wenn er uns in eine Rolle zwängt, die uns nicht entspricht? Diesen und weiteren Fragen nach dem Platz des Einzelnen in der Welt, in der Gesellschaft, in der Familie und im eigenen Sein geht Claire Marin in diesem Buch nach.

Gedanken zum Buch

«Man stellt sich seinen Platz wie eine sichere Bank vor, und er entspricht ja zweifelsohne einem gewissen Bedürfnis nach Ordnung, nach genauer Bestimmung und Abgrenzung.»

Wir werden an einen Ort geboren, wachsen in einem Milieu auf und nehmen die da herrschenden Strukturen. Innerhalb dieser äusseren Welt leben wir in Familien mit eigenen Gepflogenheiten, die in Räumen stattfinden, die wir als Zuhause empfinden.

«Unsere Zugehörigkeit zu einem Ort, einem Milieu, prägt und schreibt sich bekanntlich körperlich wie emotional in uns ein. Sie strukturiert auch grundlegend unsere affektiven Schemata.»

All das prägt uns in unserem Sein und Werden. Wir haben es nicht ausgesucht, doch wir werden es kaum mehr los. Selbst wenn wir einen bewussten Bruch provozieren, wenn wir das Umfeld, gar die Klasse wechseln, hängen die Anteile der Herkunft in uns fest (Pierre Bourdieu stützte darauf seine Theorie des Habitus ab), sie wirken in uns weiter und suchen oft unbewusst ihren Weg durch die Oberfläche in neue Umgebungen hinein, wo sie nicht mehr passen. Misstöne kommen auf, das Gefühl, zwischen den Welten zu sitzen, nirgends dazuzugehören, macht sich breit.

«Manchmal haben wir das Gefühl, dass wir in unserem Alltag wie in einer Falle festsitzen, aus der wir nicht mehr herauskommen, ohne einen Teil von uns zu opfern, ohne Schaden und Verlust in Kauf zu nehmen.»

Manchmal flüchten wir auch in neue Welten, die sich nach und nach als nicht passend erweisen. Und doch haben wir uns in ihnen eingerichtet, die darin uns entsprechenden Rollen übernommen, die fortan unser Leben ausmachen. Was, wenn das Leiden am Unpassenden überhandnimmt? Was, wenn die Sehnsucht nach der Herkunft grösser wird, bis sie kaum ertragbar scheint? Was ist der Preis dafür, erneut auszubrechen, zurückzugehen? Und gibt es ein Zurück überhaupt? Günther Anders schrieb in seinen Tagebüchern, es gäbe keine Rückkehr, denn dies sei nur eine erneute Erfahrung des Verlustes, weil das, was verlassen wurde, nicht mehr existiert – wie auch der Zurückkehrende nicht mehr der ist, der ging.

«Er [der Emigrant] ist jeglicher Orientierung und Verankerung beraubt. Er befindet sich ausserhalb von Boden, Sprache, Zeit.»

Nicht immer ist das Gehen freiwillig, manchmal werden Menschen aus dem, was sie Heimat nannten, vertrieben. Man nimmt ihnen damit nicht nur die vertraute Umgebung, man nimmt ihnen auch alles, was den Boden ihrer Identität ausmacht. Was erschwerend dazukommt, ist, dass mit der Vergangenheit und der Gegenwart auch die Zukunft gestohlen wird, die man sich in dieser Heimat erhofft hatte. Man steht vor der Leere des Seins ohne Grund und Boden, ohne Rückhalt und Zugehörigkeit.

Claire Marin schafft es, in immer wieder neuen Denkräumen den Platz des Menschen in der Welt zu umkreisen, zu entdecken, zu verorten und wieder zu öffnen, um neue denkbare Plätze zu entdecken. Sie beleuchtet dabei all die verschiedenen Facetten, die das Konstrukt «Platz» ausmachen, nimmt die soziale, lokale und zeitliche Dimension ins Visier und leuchtet sie aus.

Fazit
Ein grossartiges Buch, das dazu anregt, das eigene Sein in Raum und Zeit zu bedenken und weiterzudenken.

Zur Autorin
Claire Marin, geb. 1974, lehrt Philosophie in Frankreich und feiert seit einigen Jahren mit ihren philosophischen Essays große Erfolge. Ihre Bücher »Hors de moi« (2008) und »Rupture(s)« (2019) wurden mehrfach ausgezeichnet.

Übersetzung: Ute Kruse-Ebeling

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (19. Mai 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 197 Seiten
  • Übersetzung‏ : ‎ Ute Kruse-Ebeling
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3150114384

Philosophisches: Faden im Gewebe

«Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Gesellschaft, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozess […] nicht abzulösen.» Max Horkheimer

In der heutigen Zeit ist es das höchste Ziel, möglichst selbstbestimmt, authentisch, autonom zu sein. Die eigene Identität steht im Zentrum des eigenen Universums, sie will gelebt werden, sie darf nicht unterdrückt werden, sondern ihre Freiheit im Sinne einer freien Entfaltung ist das höchste Gut. Einschränkungen werden mit Argwohn betrachtet, schnell abgelehnt und verurteilt. Dabei vergessen wir, dass wir als die, die wir sind, eigentlich ein Produkt der Gesellschaft sind, in die wir geboren wurden. Erst durch unseren Austausch mit anderen bildet sich unsere Persönlichkeit heraus, erst durch unser Handeln und Sprechen mit ihnen, können wir werden, wer wir sind.

Hannah Arendt hat das schöne Bild der Gesellschaft als Gewebe gezeichnet: Durch unser Sprechen miteinander schaffen wir ein Gewebe, das wir als Gesellschaft bezeichnen. Sie ist das, was zwischen uns entsteht, wenn wir sprechen und handeln. Wird nun ein neuer Mensch geboren, webt er sich durch sein Dazukommen und Mitreden als Faden in dieses Gewebe ein. Der gegenseitige Austausch prägt den Einzelnen in seinem Sein und gibt der Gesellschaft etwas Neues hinzu.

Webt man dieses Bild nun weiter, würde jeder Faden, der aus dem Gewebe herausgerissen wird, ein Loch entstehen lassen. Indem wir also Menschen, die zum Gewebe der Gesellschaft gehören, unterdrücken, diskriminieren, ausgrenzen, schädigen wir das Gewebe, in das unser Faden eingewebt ist, von innen heraus. Wir machen ein schadhaftes Gewebe daraus. Insofern schaden wir nicht nur denen, die wir schlecht behandeln, sondern fügen auch uns selbst Schaden zu, indem wir den Ort, der uns zu dem macht, die wir sind, auf eine Weise prägen, die auch das eigene Leben irgendwann beeinträchtigen kann, denn: Wer sagt, dass eine Gesellschaft, die sich gegen Pluralität stellt, nicht plötzlich auch etwas an uns selbst findet, das nicht in ihre Vorstellungen passt?

Ein Grund mehr, darauf zu achten und sich dessen bewusst zu sein: Jeder Mensch ist anders und er soll das sein dürfen. Er gehört in diesem So-Sein zum Gewebe, das unser Miteinander darstellt. Nur so kann ein strapazierfähiges, buntes Gewebe entstehen.

Die Schöne und das Biest (aka der alte Weisse Mann)

Als ich begann, mich mit dem Feminismus und den damit zusammenhängenden Themen zu beschäftigen, merkte ich, dass mich das Thema packte, inspirierte und ausfüllte. Ich las, was ich in die Hände kriegte und stiess dabei natürlich auch immer wieder auf Widersprüche – mehr noch: Auf gegenseitige Anfeindungen. Die jungen Feministinnen schimpfen auf die älteren, die schwarzen auf die weissen, die Frauen auf die Männer und diese zurück (zumindest auf die Feministinnen). Einige meinen, man könne nur darüber schreiben, was man selber erfahren hat, andere kritisieren, wenn man ein Thema nicht behandelt (aus mangelnder eigener Erfahrung oder einer anders lautenden Fragestellung). Es kommt so ein bisschen das Gefühl auf: Wenn du nicht alle Weltprobleme mit einem Schlag lösen kannst, lass es ganz bleiben.

Ich frage mich, wie man eine gerechtere und gleichberechtigtere Welt erreichen will, wenn man selbst das Gegenteil lebt, wenn man selbst statt miteinander nur in Frontenkriegen, Auf- und Abwertungen agiert? Als Pierre Bourdieu das Buch „Die männliche Herrschaft“* schrieb, wurde ihm von Feministinnen vorgeworfen, dass er sich als Mann feministischen Themen zuwandte. Wie konnte es ein „alter weisser Mann“ (gut, den Begriff hatten sie damals wohl nicht, aber heute würde es so klingen) wagen, einen feministischen Blick auf die Welt zu wagen und somit diese zu erklären? Dass sein Blick durchaus gut und tief und schlüssig war, stand nicht zur Diskussion. Dass dieser klare, intelligente Mensch der eigentlichen Sache diente, indem er Aufmerksamkeit darauf lenkte, die Notwendigkeit propagierte, wurde ignoriert. Man wollte sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. So jedenfalls wirkt es, zumal es keine andere sachliche Erklärung gibt.

Einmal mehr frage ich mich: Sollte man nicht, statt gegeneinander zu kämpfen, sich zusammenschliessen und jeder seinen Beitrag zu einem Ganzen leisten? Können wir es uns leisten, auszusieben, wen wir genehm finden in unserem „Kampf“ und wer da keinen Platz hat? Vor allem: Geht es bei all dem wirklich um die Sache oder nicht doch auch um die eigene Profilierung als Experte?

Nachdem Bourdieu die Missstände der gesellschaftlichen Strukturen herausgearbeitet hat, kommt er zum Schluss, dass eine schlagartige Veränderung wohl nicht möglich ist, sondern diese fortwährender Arbeit bedürfe. Man müsse wegkommen von Kälte und Gewalt, hin zur Liebe und ihren Wundern:

„das Wunder der Gewaltlosigkeit, das durch die Herstellung von Beziehungen ermöglicht wird, die auf völliger Reziprozität beruhen und Hingabe und Selbstüberantwortung erlauben; das der gegenseitigen Anerkennung, die es gestattet, sich, wie Sartre sagt, „in seinem Dasein gerechtfertigt“, gerade in seinen kontingentesten oder negativsten Besonderheiten angenommen zu fühlen…“

Wenn wir dahin kommen, dann ist die Welt eine bessere. Davon bin ich überzeugt. Und ich bin genauso überzeugt, dass es machbar ist und eigentlich der Wunsch von vielen. Natürlich stehen Ängste da. Jeder fürchtet auch um seine Privilegien. Aber viele wären froh um Entlastung von Erwartungen. Männer wie Frauen. Und Rollenmustern, die erfüllt werden müssen. Männer wie Frauen. Und der eigenen Unsicherheit, wie man denn zu sein habe. Männer wie Frauen.

Wenn da ein alter weisser Mann kommt und mithelfen will, sollte man ihn mit lautem „Herzlich willkommen“ begrüssen und mit ihm diskutieren. Ihn auszuschliessen, nur weil er eben grad keine Frau, nicht schwarz, nicht schwul und erst noch heterosexuell ist, fände ich nicht nur höchst bedenklich, sondern schlicht daneben. Schlussendlich wollen wir ja genau das nicht: Menschen ausschliessen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, Religion, Herkunft, sexuellen Ausrichtung. Und ja: Auch ein weisser Mensch kann Rassismus erfahren, sowie ein Mann Opfer von Sexismus sein kann. Es mag nicht die Mehrheit sein, aber jeder einzelne Fall ist einer zuviel.


*Angaben zum Buch:

Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft
Pierre Bourdieu entwickelt das Bild einer Gesellschaft, in welcher die männliche Dominanz in ökonomischer, wirtschaftlicher wie auch gesellschaftlicher Sicht eine symbolische Herrschaft darstellt. Die dadurch gesteuerte Sicht unterwirft die Frau und zwingt sie in vordefinierte Rollen. Bourdieu plädiert für eine soziale Revolution mit dem Ziel, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzugestalten und der Frau ihre rechtmässige Position als gleichberechtigter Mensch einzuräumen.

Zum Autor:
Pierre Bourdieu, am 1. August 1930 in Denguin (Pyrénées Atlantiques) geboren, besuchte dort das Lycée de Pau und wechselte 1948 an das berühmte Lycée Louis-le-Grand nach Paris. Nachdem er die Eliteschule der École Normale Supérieure durchlaufen hatte, folgte eine außergewöhnliche akademische Karriere. Von 1958 bis 1960 war er Assistent an der Faculté des lettres in Algier, wechselte dann nach Paris und Lille und wurde 1964 Professor an der École Pratique des Hautes Études en Sciences Sociales. Es folgten diverse Lehraufträge, Forschungsaufenthalte und Lehrstühle sowie vielzählige Publikationen und Auszeichnungen. Pierre Bourdieu stirbt am 23. Januar 2002 in Paris.

Franziska Schutzbach: Die Erschöpfung der Frauen

Inhalt

«Erschöpfung ist kein individuelles Schicksal, sondern Ausdruck eines kollektiven Leidens, das auch gesellschaftliche und nicht zuletzt ökonomische Ursachen hat.»

Frauen haben in der heutigen Zeit so viele Möglichkeiten, wie wohl nie zuvor. Sie waren wohl auch noch nie so vielen Erwartungen ausgesetzt wie heute, und müssen gleichzeitig noch immer mit Benachteiligungen leben, die keiner rationalen Grundlage, sondern nur einer über Jahrzehnte gewachsenen Struktur geschuldet sind. Noch immer verdienen Frauen weniger, erwartet man von ihnen die Sorge um die Mitmenschen, oft auch als Gratisarbeit, sollen sie am besten gefällig, nett anzuschauen und möglichst angepasst sein.

Das stille sich Hineinfügen in die immer noch vorhandenen Ungerechtigkeiten aber auch der Kampf, etwas zu ändern, kosten Kraft, Kraft, die nicht unendlich vorhanden ist und die mehr und mehr ausgeht und Frauen in die Erschöpfung treibt.

Franziska Schutzbach schaut genau hin, thematisiert die Missstände, belegt sie mit eindeutigen Zahlen und zeigt so den dringenden Handlungsbedarf, der auch heute noch herrscht.

Weitere Betrachtungen

«Eine feministische Arbeit gegen die Erschöpfung ist eine Arbeit an Beziehungen. Wenn Menschen ihre Sehnsucht nach Bezogenheit und ihre Bedürftigkeit nach Umsorgung ernst nehmen, wenn sie zueinander in Beziehung stehen, können sie sich einander verletzlich zeigen – und auch erschöpft. Wenn Menschen in Beziehung stehen, können sie ohne Angst verschieden sein.»

Wir haben es noch nicht geschafft, Gleichberechtigung ist noch nicht erreicht. Bücher wie dieses können dabei helfen, die Augen zu öffnen für die Missstände, die noch immer herrschen. Dass dies nicht das Anliegen eines Einzelnen sein kann, liegt auf der Hand. Wir leben in einer Welt, in welcher sich ein System über Jahrzehnte herausgebildet hat. Es liegen klare Rollenbilder vor, wie Frauen (und Männer) zu sein haben und wie sie behandelt werden (dürfen, wie die landläufige Meinung zu sein scheint). Es reicht nicht, wenn eine Einzelne in einer persönlichen Situation einfach reagiert, es bedarf des gemeinsamen Kampfs gegen diese Missstände, denn sonst wird sich nie etwas im Grossen ändern, sonst werden sich das System und dessen immanente Struktur nie zu einem Besseren verändern.

«Im Nachhinein wird ausgeklammert, welche Radikalität notwendig war, damit sich überhaupt etwas verändert, und dass Frauen für ebendiese Radikalität angegriffen und gehasst wurden.»

Franziska Schutzbach zeigt auf, wie Frauen in vielen Belangen des täglichen Lebens in ihren Ressourcen ausgenutzt, wie sie kulturell und sozial benachteiligt und in ihren Rechten beschnitten werden. Zwar haben wir durch den langen Weg der Frauenbewegungen schon einiges erreicht, aber wir sind noch nicht am Ziel. Dass es kein einfacher Weg war, zeigt die Geschichte, er wird auch jetzt nicht leichter werden, da die Privilegierten ungern auf ihre (unverdienten) Privilegien verzichten wollen und alles dransetzen, sich diese zu bewahren.

Franziska Schutzbach ist eine fundierte, gut recherchierte und informative Arbeit gelungen. Die Autorin verweist auf aufschlussreiche Studien und Schriften namhafter Theoretikerinnen und präsentiert die Ergebnisse auf eine gut lesbare und verständliche Weise. Entstanden ist so ein Buch, das zum Nachdenken und Weiterdenken und hoffentlich auch zur Tat anregt.

Persönlicher Bezug

«Wer sich öffentlich für feministische Anliegen ausspricht, sexistische Strukturen kritisiert und Fehlverhalten anspricht, ist mehr als nur Meinungsverschiedenheiten ausgesetzt. Diese massiven Widerstände sind erschöpfend.»

Es war und ist nicht einfach, sich Feministin zu nennen, da man dann sofort in eine Ecke gedrängt und oft angefeindet wird. Die Reaktionen, die von Ignoranz über Belächeln bis hin zum Angriff und zur Beleidigung reichen, zeigen deutlich, wie viel noch im Argen liegt, denn wenn etwas so heftig abgelehnt und bekämpft wird, dann hat man in ein Wespennest gestochen, einen Missstand entdeckt. Es wird nichts bleiben, als weiterzumachen, Feminismus als wichtige Aufgabe und aktives Tun zu sehen, um den Weg hin zu einer gerechteren Gesellschaft weiterzugehen. Ich hoffe, dass gerade auch Frauen merken, dass sie nur gemeinsam Erfolg haben werden, dass nur gelebte Solidarität und ein aktives Miteinander helfen, so eingefahrene Strukturen zu verändern. Leider mangelt es gerade daran oft.

Fazit
Ein wichtiges Buch über ein aktuelles Thema, das zum Nachdenken anregt. Ein Aufruf, weiterzukämpfen für eine gerechte Welt, in welcher Menschen nicht ihres Geschlechts wegen benachteiligt sind. Sehr empfehlenswert.

Autorin
Franziska Schutzbach, geboren 1978, ist promovierte Geschlechterforscherin und Soziologin, Publizistin, feministische Aktivistin und Mutter von zwei Kindern. Im Jahr 2017 initiierte sie den #SchweizerAufschrei, seither ist sie eine bekannte und gefragte feministische Stimme auch über die Schweiz hinaus.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschlechterthemen wie Misogynie und Sexismus, darüber hinaus befasst sie sich mit den Kommunikationsstrategien von Rechtspopulisten. Franziska Schutzbach lebt in Basel.

Angaben zum Buch
Herausgeber: Droemer HC (1. Oktober 2021)
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
ISBN: 978-3426278588

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Annemarie Pieper: Gut und Böse

Die Frage nach dem Guten und Bösen hat viele Philosophen, Theologen, Psychologen, Biologenbeschäftigt. Jede Richtung ging aus der ihr eigenen Warte an die Thematik heran, versuchte sie mit Hilfe der eigenen Methoden zu entschlüsseln. Annemarie Pieper geht diesen Erklärungsversuchen quer durch die einzelnen Richtungen nach.

Können Mittel, die zu einem bösen Zweck verwendet gut sein? Rechtfertigt der gute Zweck die bösen Mittel? Was ist „das Gute“ im Gegensatz zu „gut“ als Adjektiv? Alltagssprachlich streben wir nach dem Guten, wollen das Böse meiden. Wir teilen Menschen in gut und böse ein und haben damit unsere Welt strukturiert. Dass dies zu kurz greift, liegt auf der Hand. Die Problematik liegt tiefer. Und so kommt Annemarie Pieper zu der Hypothese,

dass der Mensch von Natur aus weder gut noch böse ist, wohl aber an sich indifferente Anlagen mitbringt, die sich je nach Einfluss und Milieu zur Moral oder zur Unmoral hin entwickeln können.

Annemarie Pieper stürzt sich zur weiteren Erforschung in die Ethologie, verweist auf Lorenz’ Aggressionstrieb, geht weiter zum Sozialdarwinismus, wo sie Dawkins egoistisches Gen seziert, geht danach der Frage nach, ob der Mensch durch seine Anlagen determiniert oder frei in seinem Handeln und damit dafür verantwortlich ist. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte.

Als nächstes sind die Psychoanalytiker und Soziologen gefragt, welche auf eine Wechselbeziehung zwischen Ich und Gesellschaft verweisen. Dabei gehen die Meinungen auseinander, ob nun das Individuum in seiner Triebunterdrückung oder aber die Gesellschaft mit ihren repressiven Strukturen für das Böse mehr verantwortlich sei. Wohl auch da liegt die Antwort irgendwo in der Mitte oder ganz woanders.

Bei so viel irdischem Unwissen kann nur noch die Theologie helfen, welche daraufhin befragt wird, wo das Übel herkomme. Von Gott kann es nicht kommen, es muss von den Menschen sein. Der hätte es zwar kommen sehen, musste es aber stehen lassen, um dem Menschen nicht seine Willensfreiheit zu nehmen, welche den Menschen als solchen ausmacht. Das ist die Antwort auf die Frage, wie Gott Auschwitz hätte geschehen lassen können. Nachdem auch noch Pandora als Schuldige ins Feld geführt wurde, kommen wir zur Philosophie, durchlaufen Metaphysik und Ethik, verweilen lange bei Kant, streifen Kierkegaard, vermissen danach Hannah Arendt, freuen uns dafür über Nietzsche.

Und am Schluss stehen wir da und sind so klug als wie zuvor. Der Mensch will stets das Gute, fühlt sich vom Bösen angezogen, widersteht ihm nicht und tut es doch. Im Wissen, dass es falsch ist, zu sehr davon gezogen. Schlussendlich bleiben die Begriffe ein Rätsel, das auch dieses Buch nicht lösen konnte.

Die Lösung zu erwarten wäre zu hoch gegriffen. Die Thematik ist zu komplex und es gibt keine definitiven klaren Antworten. Die Ausführungen sind teilweise für die knappe Schrift zu lang, um in der Folge in wenigen Sätzen verworfen zu werden. Es fehlt der rote Faden und eine wirklich stringente Argumentationskette. Das Ganze wirkt eher wie eine Aneinanderreihung von verschiedenen Theorien, die man aufgelesen hat, nun da wiedergibt, wo sie gerade in die vorher gesetzten Kapitel passen und am Schluss zum schon vorher klaren Ergebnis kommt, nämlich keinem. Trotzdem ein guter Einstieg in die Thematik, der gute Hinweise zur Vertiefung liefert.

Fazit
Ein guter Einstieg in ein sehr komplexes Thema. Die breit angelegte Analyse hilft, verschiedene Gesichtspunkte dieses Themas wahrzunehmen und das Gefühl für die Vielschichtigkeit desselben zu erhalten. Prädikat empfehlenswert.

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 127 Seiten
Verlag: C.H.Beck Verlag 2008
Preis: EUR: 8.95 ; CHF 13.40