Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox

Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen

Inhalt
Hannah Arendt beschrieb die Menschenrechte einst als «das Recht, Rechte zu haben». Dieses Recht müsste jedem Menschen zustehen, würde aber genau da ausser Kraft gesetzt, wo es den grössten Bedarf gäbe: Bei den Flüchtlingen. Judith Kohlenberger hat einen ähnlichen Ansatz, wenn sie schreibt:

„Grundrechte kann man nicht einfach für die einen abstellen, während sie für die anderen weiter gelten. Sie sind, wie Maya Angelou, die amerikanische Schriftstellerin und Ikone der Bürgerrechtsbewegung, so treffend formulierte, wie Luft: Entweder alle haben sie – oder niemand.“

In ihrem Buch «Das Fluchtparadox» widmet sie sich der paradoxen Situation rund um das Thema Flucht. Sie beleuchtet die Widersprüche, die darin verborgen sind, macht die Not und das Leid der Flüchtenden sichtbar sowie die Hürden, mit denen sie zu kämpfen haben. Menschen, die aus ihrer Heimat müssen, setzen ihr Leben aufs Spiel, um an einen sicheren Ort zu kommen, wo sie nicht wirklich gewollt sind. Einerseits sollen sie sich integrieren, andererseits aber bitte unsichtbar bleiben. Dieses und weitere Paradoxe sind zentrale Themen, die an aktuellen Beispielen wie Syrien, der Ukraine und vielen anderen deutlich gemacht werden.

Kohlenberger gelingt eine differenzierte, sachliche, informative Analyse unseres Umgangs mit Flüchtlingen, sie legt den Finger in die Wunden der heutigen Regelungen und beleuchtet, wo wir versagen, weil wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden.

Gedanken zum Buch

„Vertrieben zu sein verdeutlicht in seiner passiven Form nämlich, dass man keine Wahl hat, dass man den Umständen, die zum Aufbruch zwingen, unterworfen ist.“

Wie oft hört man, dass Flüchtlinge doch bitte dankbar sein sollen, dass sie aufgenommen werden, Forderungen und Ansprüche seien da fehl am Platz. Aber auch – oder gerade – Flüchtlinge haben Bedürfnisse. Sie sind die Vertriebenen, welche keine Heimat mehr haben, die oft ihre Familien und liebsten Menschen hinter sich lassen mussten. An den Umständen, dass es soweit kam, sind wir westlichen Länder oft nicht unschuldig. Wir haben mit unseren globalen, wirtschaftlichen Machenschaften dazu beigetragen, dass arme (und oft) korrupte Länder ausgebeutet werden. Wir haben ihnen ihre Ressourcen genommen und sie im Elend zurückgelassen. Aus diesem Elend sind nicht selten Unruhen entstanden oder die Lebensbedingungen wurden sonst unzumutbar.

Wenn nun diese Menschen fliehen und bei uns Zuflucht suchen, wäre es in unserer Verantwortung, dafür auch geradezustehen, im Wissen, was wir an Schuld auf uns geladen haben. Doch wir verschliessen die Augen. Wir wollen unseren Wohlstand schützen (der auch auf der Ausbeutung generiert wurde), und ihn nicht von den Flüchtlingen gefährdet sehen, weil wir teilen müssten.

Wir stellen Grenzen auf und Forderungen an die Menschen, die kommen, Forderungen, die in sich paradox und teilweise menschenverachtend sind.

„…worum es in der Asyl- und Migrationsfrage eigentlich gehen sollte: nicht um Almosen, um Akte der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, zu der wir uns durch Bilder von Leid, Elend und absoluter Verzweiflung bemüßigt fühlen, sondern um Rechte.“

Es muss sich etwas ändern, und zwar dringend. Wir müssen die strukturelle Ungerechtigkeit erkennen und unsere Verantwortung anerkennen. Menschen müssen Rechte haben. Alle Menschen. Sie müssen ein Recht auf diese Rechte haben, die ihnen niemand nehmen darf, weil sie Menschen sind.

Fazit
Ein sachliches, informatives, differenziertes Buch zu einem aktuellen und brennenden Thema.

Philosophisches: Gleiche Rechte für alle?

«Die Rechte, die man anderen zugesteht, kann man auch von anderen fordern; doch können wir von anderen nicht fordern, was wir selbst nicht respektieren.» (George H. Mead)

Ein einfacher Satz, dem die meisten wohl zustimmen würden auf den ersten Blick. Auf den zweiten wirft er doch Fragen auf: Kann ich wirklich von anderen fordern, dass sie mir sie gleichen Rechte zugestehen wie ich ihnen? Ich kann es hoffen, vielleicht sogar erwarten (mit einer möglichen Enttäuschung), aber fordern? Zudem: Von was für Rechten sprechen wir? Und hat jeder wirklich dieselben? Sollte jeder dieselben haben? Gibt es nicht auch bei Menschen unterschiedliche Voraussetzungen, die unterschiedliche Rechte (und auch Pflichten) zur Folge haben? Ein Kind hat andere Rechte als ein Erwachsener, ein Polizist hat andere Rechte im Umgang mit Straftätern als eine Privatperson.

Die nächste Frage ist, ob es überhaupt sinnvoll wäre, Rechte einzufordern. Das würde Rechte zu einem Tauschgeschäft machen. Ich habe dir einen Gefallen getan, nun musst du mir auch einen tun. Was, wenn nicht? Bereue ich meinen dann? Mache ich dem anderen nie mehr einen? Sinkt er nun in meiner Anerkennung, meiner Zuneigung?

Beim letzten Teil wird es leichter. Was wir nicht bereit sind, zu tun, können wir auch nicht einfordern. Es ist unfair, selbst hohe moralische Werte zu haben, selbst aber nicht danach zu leben, dies aber von anderen zu erwarten. Das ist eine Doppelmoral, die sich leider oft zeigt: Der ausgestreckte Zeigefinger auf andere, wenn die gegen die eigenen Lebensmaximen verstossen. Dass dabei immer drei Finger auf einen selbst zeigen, ignoriert man, weil man da nicht genau hinschaut. Darauf angesprochen finden sich immer Gründe, wieso man selbst grad nicht konnte, wieso man selbst gerade eine Ausnahme machen musste. Das kann man tun, nur sollte man dies dann auch dem anderen zugestehen. Und wenn man das nicht will, bleibt Gandhis Spruch, an dem viel Wahres ist:

«Sei du die Veränderung, die du in der Welt gerne sähest.»

Die Würde des Menschen

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

So lautet der erste Absatz des ersten Artikels des Deutschen Grundgesetzes. Neu ist der Begriff der Würde nicht, er lässt sich historisch durchaus zurückverfolgen, Was ich hier aber nicht ausführlich tun möchte. Nur noch soviel: In der Aufklärung schrieb der Naturrechtsphilosoph Samuel von Pufendorf:

„Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt.“

Er verknüpft die menschliche Würde mit der Vernunft und der (Entscheidungs-)Freiheit, eine Verbindung, die sich auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 findet:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“

Kürzlich hörte ich eine Sendung über Menschenwürde. Im Grundgesetz gilt diese – wir sahen es oben – als unanstastbar und zwar für alle Menschen ohne Unterschied allein aufgrund ihres Mensch-Seins. Ferdinand von Schirach hat diese Unantastbar bezweifelt und ein Buch mit dem Titel „Die Würde des Menschen ist antastbar“ geschrieben, in dem er ausgeführt, sie würde täglich angetastet durch unsere gesellschaftlichen Umstände, welche mehr auf Profit als auf Mitmenschlichkeit ausgerichtet sind.

Die Würde wird oft herbeigeholt, wenn es darum geht, Argumente für etwas zu finden, manchmal für verschiedene Standpunkte. Man denke zum Beispiel an die Sterbehilfe: Beide Seiten argumentieren mit der menschlichen Würde, um ihre Position zu begründen. Und manchmal kommt es mir so vor, als wäre die Würde ebenso ein Konjunktiv wie das entsprechende Verb in der Form: Sie würde schon jedem zukommen, die Würde, aber darum können wir uns gerade nicht kümmern…

In dieser Sendung wurde argumentiert, dass Würde nur bei entsprechenden kognitiven Fähigkeiten verletzt werden könne, da jemand, der eine Erniedrigung nicht als solche empfinde, könne gar nicht verletzt werden. Schlimmer noch: Mangels dieser kognitiven Fähigkeiten und auch der Möglichkeit auf freie (politische) Entscheidungen sprach man Babies und Kleinkindern, zudem entsprechend Behinderten und Dementen Würde ab (was nicht hiess, dass man sie nicht trotzdem gut behandeln müsse). Und ich merkte, wie sich alles in mir sträubte.

Auf den ersten Blick könnte man denken, diese Argumentation stimmt überein mit Pufendorf und in der Menschenrechtserklärung, wo Würde mit Vernunft und freier Entscheidung zusammenfällt. Sich auf Pufendorf zu berufen, wäre in meinen Augen keine hinreichende Begründung für das Absprechen von Würde in der heutigen Zeit. Pufendorf attestiert dem Menschen durchaus Würde aufgrund einer Seele, welche er als vernunftbegabt und zu Entscheidungen fähig sieht. Wenn man allerdings die rassistische und frauenabwertende Sicht der Philosophen der Aufklärung kennt, ist mit einer solchen Begründung wohl auch Schwarzen und Frauen eine entsprechende Seele und damit die Würde abgesprochen worden. In der Menschenrechtserklärung heisst der erste Satz ganz klar:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Alle. Frei und gleich geboren. Mit Würde und Rechten. Die nachfolgende Beschreibung macht das nicht rückgängig. Sie ist auch nicht als nachträglich einschränkende Bedingung formuliert. Insofern behält der erste Satz seine Gültigkeit. Das muss so sein, denn: Könnte man Würde all denen absprechen, die keine ausgebildete Kognitionsfähigkeit zum Erfassen der eigenen Würde haben, wäre Würde eine reine Zuschreibung. Diese erfolgte aufgrund verschiedener Fähigkeiten und Möglichkeiten und wäre in der Form eher beliebig, da Fähigkeiten und Möglichkeiten in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten verschieden bewertet werden.

Würde hat aber eine tiefere Bedeutung. Würde ist etwas dem Menschen immanentes, das schreibt keiner nach irgendwelchen Kriterien zu. Wir haben uns Wesen gegenüber so zu verhalten, dass ihre ihnen eigene Würde nicht verletzt wird – egal, ob sie von ihrer Würde wissen oder eine Verletzung derselben empfinden (können). Wenn wir Würde von individuellen Befindlichkeiten abhängig machen, siegt die Willkür, was dazu verleiten kann, moralische Pflichten des (eigenen) Verhaltens zu vernachlässigen – man kann sich immer darauf berufen, dass man nicht hätte ahnen können, wie der andere etwas empfindet und sich mit Unabsichtlichkeit herausreden: „Mich würde das nicht stören, man wird ja wohl noch sagen/tun dürfen…“

Ich möchte es vorläufig mit Schiller halten:

„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!“

Die Würde steht jedem Menschen zu. Es ist an jedem Einzelnen, Menschen dementsprechend zu behandeln. Menschen verlieren ihre Würde nicht durch fehlende Fähigkeiten oder Möglichkeiten, andere Menschen sprechen sie ihnen ab durch ihr falsches, unwürdiges, entwürdigendes Verhalten – und das tun sie zu Unrecht. Jeder Mensch besitzt eine Würde und wir haben uns Menschen gegenüber so zu verhalten, dass diese gewahrt ist. Weil sie Menschen sind und damit wie wir das Recht darauf haben.