Eine Geschichte: Prägung (XIV)

Lieber Papa

Vor kurzem war ich mit Freunden an einer Degustation. Es gab ein kleines Apéro-Plättchen mit einem Glas Rotwein und einem Glas Weisswein für jeden. Plötzlich kam die Idee auf, wir könnten die Gläser kreisen lassen, damit alle von allen Weinen probieren können.

«Das geht nicht.»

Sagte in mir eine Stimme. Laut. Ermahnend. Zur Tat drängend. Sag es. Sag «nein». Schnell. Bevor es zu spät ist.

«Ich kann das nicht.»

 Eigentlich wäre es eine leichte Sache: Trinken, weitergeben, trinken, weitergeben. Ein Mehrgenuss quasi. Aber in mir stand alles auf Abwehr.

«Macht ihr nur, mir reicht meine Wahl», hörte ich mich sagen. Ich blickte in erstaunte Augen. «Nein, mach auch mit, das ist lustig», kam es zurück. «Das ist eklig. Ich kann nicht aus dem gleichen Glas wie du – wie ihr – trinken!» Ich dachte es nur. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Ich fühlte mich dumm. Anders. Und mein Hirn fuhr Karussell.

Wie oft hast du mir das eingebläut. Jeder hat sein Glas. Jeder hat sein Besteck. Teilen geht nicht. Das ist eklig. Und du erzähltest dazu immer die Geschichte aus deinen Kindertagen. Gottesdienst. Abendmahl. Der Zinnbecher mit dem Wein ging durch die Reihen. Und der Wein sei immer dünner, die Menge Flüssigkeit immer mehr geworden. Es klang gruselig. Du erzähltest von dem Speichel, der als Rücklauf ins Glas floss, wie er es immer tue. Den trinke man mit, wenn man das Glas teile. Das waren deine Worte. Sie schüttelten mich noch heute. In mir wurden Fluchtgedanken laut, bloss: Es gab wohl kein Entkommen.

Du hattest sehr strenge Hygiene-Ansprüche. Alles musste denen folgen, denn sonst kriegtest du diese Bläschen auf der Lippe. Man konnte ihnen beim Wachsen zusehen. Du musstest nicht mal betroffen sein, es reichte schon, wenn du etwas sahst, das du eklig fandest. Es wucherte. Ich erinnere mich noch gut, als in einem Restaurant ein Messer zu Boden fiel, das Servierpersonal dieses aufhob und wieder in die Besteckschublade räumte. Zack. Eine Blase.

Ich habe mich als Kind oft gefragt, ob du die Blase auch kriegen würdest, wenn du vom Verstoss nichts mitgekriegt hättest. Wenn ich zum Beispiel aus deinem Glas trinken würde, bevor ich es dir gäbe, oder deine Gabel auf den Boden und dann wieder auf den Tisch legte. Ich habe nie gewagt, es auszuprobieren. Respekt? Angst? Vor dem Entdecken oder davor, dass du meinetwegen leiden müsstest, wenn du trotzdem reagieren würdest? Ich weiss es nicht. Ich nahm deine Regeln an und folgte ihnen.

Wieso hast du dich nicht gewehrt. Das fragte mich jemand, als ich ihm etwas aus der Kindheit erzählte. «Du hast alles nur erduldet, hast still gelitten. Dich aber so auch der Verantwortung entzogen, indem du das alles mit dir machen liessest», sagte er noch dazu. Es fühlte sich wie ein Angriff an. Ich hörte raus, dass ich mich hätte wehren müssen, dass ich etwas hätte tun sollen. Und können. Ja, ich habe mir die Frage oft gestellt: Wieso habe ich mich nicht gewehrt? Wieso nahm ich deine Regeln, deine Aussagen für bare Münze und habe sie nicht hinterfragt oder gar dagegen aufbegehrt? Oder habe ich?

Ich meine mich zu erinnern, dass ich anfangs noch versuchte, zu argumentieren, dich umzustimmen. Du sagtest, nur ich sei so, alle andern seien normal. Ich versuchte, dir zu sagen, dass ich nur sein wolle, wie das heute normal sei, dein Normal sei aus einer anderen Zeit. Ich kam damit nie durch. Du hast alles, was ich sagte, mit einer wütenden Handbewegung weggewischt und warst danach noch überzeugter, dass ich ein störrisches Kind, eine Enttäuschung sei. Und dann schwiegst du. Mich an. Ich existierte nicht mehr. Das tat weh. Wusstest du das? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das nicht merktest. So kalt warst du nicht. Auch wenn du in dem Moment so wirktest. Ich möchte es nicht glauben.

Mich erstaunt immer wieder, wie lange solche Dinge nachwirken. Ich war 45 Jahre alt, war bei einer Degustation, und studierte, wie ich deine Regeln einhalten kann. Nein, es war eher der Ekel über den Rücklauf, den ich vermeiden wollte. Um Regeln ging es nicht mehr. Ich sah den Wein, den Spuckeschaum, spürte das Kribbeln auf der Haut und hörte das laute Nein in meinem Kopf. Und dann trank ich.

Und: ich überlebte. Es war gar nicht so schlimm. Irgendwie war es eine Befreiung. Seit da geht es. Nicht mit allen, nicht mit grosser Freude, aber immerhin. Es geht. Eine kleine Rückeroberung eines freieren Lebens. Das fängt oft mit kleinen Dingen an. Das merke ich immer wieder.

(«Alles aus Liebe», XIV)

Bewusst sein, bewusst handeln

Bildschirmfoto 2013-06-17 um 17.08.20

Ich wurde aufgefordert, über Bewusstsein zu schreiben. Ein Thema, das mich in den letzten Jahren sehr beschäftigt hat und das mir auch am Herzen liegt. Man könnte es meine tägliche Lebensschule nennen. Natürlich waren die Begriffe „Bewusstsein“ und „Unterbewusstsein“ schon lange bekannt. Im Studium war Freud an allen Ecken und Enden Thema, er hat Wenden in allen möglichen Bereichen herbeigeführt und war in vielen literarischen Werken Thema – selten explizit, sehr oft aber implizit oder thematisch. Darüber hinaus habe ich mich wenig mit diesem Begriff befasst, er war rein theoretisches Gebilde, wissenschaftliche Definition. Alles weit davon entfernt, verinnerlicht zu werden.

Als ich begann, mich mit Yoga zu befassen, war Bewusstsein plötzlich in aller Munde. Alles sollte bewusst sein, das Atmen, das Essen, die Bewegungen, das Sprechen… Zum ersten Mal spürte ich damals ganz bewusst, wie Luft durch meine Nase einströmt, die Luftröhre runter bis in den Bauch, wie der Bauch sich hebt, wieder senkt, die Luft wieder den Weg zurücknimmt und zur Nase ausströmt. Ich wurde gewahr, dass meistens nur ein Nasenloch aktiv ist, die Nasenlöcher nach einer Zeit wechseln. Das war eine sehr spannende Erfahrung.[1] Das Bewusstsein war für mich auf der Matte angekommen. Ab und an nahm ich es ins Leben hinüber, atmete bewusst, wenn mir langweilig war, ich mich beruhigen wollte, ich Angst hatte und mich zu besänftigen versuchte. Es hat oft funktioniert, ich hatte dadurch ein Mittel gewonnen, mein Leben zur Ruhe zu bringen, indem ich bewusst atmete, mich ganz bewusst auf die Luft, die mir Leben und auch Ruhe einflössen kann, konzentrierte. Ich konzentrierte mich dabei auf mich und mein Sein. Eine ganz neue Erfahrung.

Durch diese kleine Übung lernte ich langsam zu sehen, was es heisst, mit Momenten bewusst umzugehen. Wie oft rasen wir durchs Leben, urteilen vorschnell über Dinge, lassen uns zu etwas hinreissen, das bei Lichte betrachtet weder gut noch sinnvoll ist. Wir sehen in dem Moment nur das, was wir gerade sehen wollen in unserer momentanen Stimmung, achten nicht in uns hinein, ob das, was da ist, in und um uns, wirklich den Tatsachen entspricht oder vielleicht doch nur eine Illusion ist. Wer kennt nicht Auseinandersetzungen mit lieben Menschen, in denen der eine ein Wort sagt, welches dem anderen schräg einfährt, dieser darauf reagiert – verteidigend oder gar schon angriffig – und schon bald ist man im schönsten Streit, ohne dass man hinterher noch weiss, wer wirklich angefangen hat und was die Ursache war. Man merkt nur, dass alles ein ganz grosses Missverständnis gewesen ist. Wie kann es dazu kommen?

Wir alle gehen durchs Leben und machen Erfahrungen. Aus diesen lernen wir und verinnerlichen Muster, wie wir in der Zukunft mit gleichen oder ähnlichen Situationen umgehen wollen. Wir legen quasi ein Raster aus Punkten und Strichen an (alles unbewusst), wie wir solche Situationen zukünftig erkennen können. Oft sind es Worte, Gesten oder Blicke, die als Auslöser für die verinnerlichten Muster genügen. Ob die so aufgegriffenen Worte wirklich der Intention entspringen, die wir dahinter sehen, sei dahingestellt. Wir haben nicht auf die momentane Situation reagiert, sondern aufgrund unserer vergangenen Muster. Dieses Verhalten hat seinen Sinn, vor allem evolutionstechnisch. Wenn der Hase immer erst überprüfen würde, ob der Fuchs ihn auch wirklich fressen will, wären Hasen ausgestorben auf dieser Welt. Deswegen ist es sinnvoll, wenn der Hase präventiv die Flucht ergreift, sobald er einen Fuchs sieht. Allerdings sind wir nicht immer Hasen im Angesicht von Füchsen und nicht immer geht es um Leben und Tod.

Ab und an täten wir gut daran, wirklich hinzusehen, was im Hier und Jetzt geschieht, bevor wir unsere innerlichen Muster ablaufen lassen. Dazu hilft es, sich die eigenen Gefühle ins Bewusstsein zu rufen und genau hinzusehen, wie sie ausgelöst wurden, was wirklich gerade passiert ist und ob wir mit unseren Gefühlen tatsächlich auf das aktuelle Geschehen reagiert haben oder aber einem alten Muster folgten. Auf diese Weise könnten wir einige Missverständnisse und auch Verletzungen – eigene und auch die anderer – vermeiden. Zudem würden wir wohl sehr viel über uns selber erfahren und darüber, was uns leitet, was uns geprägt hat, wie wir funktionieren und welchen Mechanismen wir ausgeliefert sind.

Manchmal läuft man mehrmals in dieselbe Falle alter Muster, bis man sie durchschaut. Trotzdem ist es nie zu spät, etwas dazuzulernen und sich vorzunehmen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Wir haben das grosse Glück, jeden Tag eine neue Chance zu haben, unser Leben neu anzupacken.

 


[1] Ich habe diese Übung in praktisch alle meine Yogastunden eingebaut und kann sie jedem nur ans Herz legen. Sich einfach mal entspannt auf den Rücken legen, atmen und dem Atem nachspüren. Versuchen, ihn in allen Bereichen, die er durchfliesst, zu spüren. Auch schön ist in einem weiteren Schritt der Versuch, ihn zu lenken wohin man ihn haben will.