„Hans, es ist heiss.“
„Hans, die Blumen sind dieses Jahr besonders schön.“
„Hans, diese Hitze, ich halte das nicht aus.“
So klang es aus dem Nachbarhaus. Die laute markige Stimme einer älteren Frau, die offenbar vom Balkon ihrem Mann im Innern der Wohnung die Welt draussen erklärte, die für den Rest derer, die es zwangsläufig hörten, offenbar war. Es hatte was Berührendes, sie wuchs mir ans Herz.
Ich habe irgendwann erfahren, dass ihr Mann schon lange im Pflegheim war, sie verwirrt. Ich erinnere mich an einen Sommer, in dem ich plötzlich nichts mehr hörte. Und unsicher wurde. Ich hatte keinen Namen, nichts, aber eine gefühlte Verbindung. Sie rief manchmal vom Balkon zu mir in den Garten, wie süss mein Hund sei. Wir redeten über Blumen und den Sommer, das Wetter – Smalltalk einerseits, aber es war mehr. Ich machte mir Sorgen, als es so still war. Zum Glück klang es plötzlich wieder vom Balkon
„Hans, es ist heiss.“
Ich war beruhigt.
Vor kurzem hörte ich mitten in der Nacht ihre Stimme. Sie rief um Hilfe. Vom Balkon. Sie käme nicht runter und nicht raus und überhaupt. Es solle wer helfen. Sie rief einen Namen, offenbar jemand, der in der Umgebung wohnt. Nichts passierte. Ich hörte nur ihre Stimme. Eine Verzweiflung. Ich habe dann die Polizei gerufen, damit sie zu ihr vordringen können. An dieser Stelle ein ganz grosses Dankeschön an die Stadtpolizei Zürich – sie kamen sofort und konnten ihr helfen.
Seit einiger Zeit ruft niemand mehr nach Hans. Die alte Frau ist gestorben. Sie war schon lange verwirrt gewesen. Allein. War es eine Erlösung für sie? Das liest man von aussen gerne rein. Sie lebte in einer eigenen Welt. Schon lange. Mir fehlen die Rufe vom Balkon. Weil ein Mensch nicht mehr da ist. Das mag ich am Leben in der Stadt nicht. Man wohnt so eng, und kümmert sich nicht.
Immer, wenn ich aus der Wohnung trete, geht mein erster Blick zu ihrem Balkon hoch. Und ich höre ihr kehliges
„Hans, es ist heiss“
Ich wünschte, ich hätte sie besser gekannt. Ich wünschte, sie hätte nicht in der Nacht um Hilfe rufen müssen und keiner half. Ich wünschte so oft, die Welt wäre wärmer, mitfühlender. Und schelte mich einen Idioten, denn ich kriege zu hören, ich soll mal hart sein, realistisch. Das kriege ich in diesem Leben nicht mehr hin. Wenn ich richtig liege, gibt es kein zweites. Machen wir das eine zum besten, das es sein kann, wie Leibniz sagte, die Welt sei die beste aller Welten. Mehr liegt wohl nicht drin. Aber vielleicht halten wir mal die Augen offen, wer so um uns lebt. Und nehmen Anteil. Keiner lebt für sich allein. Keiner sollte es müssen.

Taschenbuch: 128 Seiten


