Tramgeschichten

Eine junge Mutter mit zwei kleinen Mädchen war heute in meinem Bus. Alle drei schwer bepackt (dem Alter angemessen) vom Einkaufen, sassen sie auf drei Sitzen. Der Bus war gut gefüllt, aber es hatte doch noch Lücken da und dort. Mit mir stieg eine ältere Dame ein, wollte sich just auf den Sitz setzen, auf dem eines der zwei Töchterlein der jungen Mama sass. Statt nett zu fragen, ob sie da wohl hinsitzen dürfte (obwohl es noch andere frei Plätze gleich nebenan gehabt hätte), zerrt die resolute Dame das Kind am Arm vom Sitz und setzt sich laut schimpfend hin.

Eine andere – ebenfalls ältere Dame – stimmt in die Schimpftirade ein: Wie rücksichtslos die heutige Welt doch sei, Kindern werde kein Anstand mehr beigebracht, das hätte man davon – nur noch fremde Sitten. Ich vergass wohl, zu erwähnen, dass die junge Mutter einen südländischen Einschlag hatte.

Bald fanden sich weitere Stimmen im Bund gegen die neu erklärte Feindin von Sitte und Anstand – und Nation. Einige ereiferten sich noch dazu, dass die gute Frau aus einer Mücke einen Elefanten mache, nur weil sie sich erlaubte, ab und an zu sagen, man hätte doch nur zu fragen brauchen. Meine Widerworte gegen die alten Damen kamen nicht gut an. Ich wurde gleich ins selbe unverständige Boot geschoben verbal. Damit konnte ich gut leben. Was mir mehr ans Herz ging, war zu sehen, wie die junge Mutter mit den Tränen kämpfte, wie die zwei kleinen Töchter ängstlich zu ihr schauten und nicht wussten, was mit ihnen geschieht.

Als bei einem Ruck des Busses auch noch die Tasche der hilflosen Frau umkippte und die Einkäufe rausfielen, war ihr Tag wohl gelaufen. Ich sammelte alles ein, übergab ihr die Tasche und war unendlich traurig. Auf dem Heimweg sagte mein Sohn, der neben mir im Bus stand, zu mir: „Weißt du Mama, das mag ich nicht in der Schweiz: Alle sind so egoistisch, alle sehen nur sich. Und Ausländer gelten hier gar nichts.“

Früher war Weihnachten viel später – Hinterhältige Weihnachtsgeschichten

WeihnachtenGiselher Nesselgrün beschliesst eines Tages, dass es lächerlich sei, Feste zu feiern, wie sie fallen. Man müsse die Natur korrigieren, ist er sich sicher, und beschliesst, dieses Jahr Weihnachten im August zu feiern. Sein Umfeld reagiert, wer will es diesem verübeln, verwirrt, belächeln den sonderbaren Kauz. Herr Nesselgrün beharrt auf seiner Regie, sieht sich im Recht und das übrige Volk als schlechte Schauspieler, welche sich seinen Anweisungen widersetzen und so das Schauspiel stören. Unbeirrt fährt er weiter, bis sich auch die Menschen auf der Strasse von seiner Weihnachtsfröhlichkeit anstecken lassen.

Da leben sie nun, ganz in meine Illusion gehüllt. Ach! Aber wer andere hineinversetzen will, darf selber nicht darin sein.

Damit zieht Giselher Nesselgrün seinen Schlafanzug an. Kurt Tucholsky beruft sich in seiner Weihnachtsgeschichte auf Giselher Nesselgrün und wundert sich ebenfalls über die Gefühle nach Kalender. Bloss das Herz wisse, wann man fühlt, nicht ein Jahrestag. Das mag wohl sein, aber egal, wann Weihnachten ist, was es dazu braucht, ist ein Weihnachtsbaum. Deren gibt es ganz verschiedene und auch ebensolche Weihnachtsbaumkäufer. Es gibt Muffel, Minimalisten, Schwärmer und Beäuger, Ingenieure und Seelsorger sowie Retter und Abenteurer. Je nachdem, zu welcher Gattung Baumbeschaffer man gehört, kümmert man sich auf sehr eigene, unterschiedliche Weise um seinen persönlichen Weihnachtsbaum.

Und wenn nicht bald ein passender, massgeschneiderter Christbaum gefunden ist, dann wird zu Weihnachten eben erstmals die Stehlampe aufgeputzt. Das spart Nerven. Und Kerzen.

Weihnachten bietet eine Menge Anlass für Geschichten, ist es doch das Fest, das mit Gefühlen und viel Gutem für sich wirbt, das Fest der Liebe und der Familie. So viel Gutes schreit förmlich nach dem Gegenteil und so herrschen denn in den Weihnachtsgeschichten von „Früher war Weihnachten viel später“ bissige, skurile, rabenschwarze Töne vor. Sie nehmen einen mit auf eine Weihnachtsreise der anderen Art und helfen vielleicht, neben all den hohen Ansprüchen von Friede, Freude, Eierkuchen ein wenig bitterböses Leben in die Tage zu bringen.

Fazit:

Kurzweilige und unterhaltsame Lektüre für zwischendurch.

 

Angaben zum Buch:

Taschenbuch: 250 Seiten

Verlag: Diogenes Verlag (Dezember 2012)

Sprache: Deutsch

Preis: EUR: 9.90 ; 15.90 CHF

 

Früher war Weihnachten viel später. Hinterhältige Weihnachtsgeschichten, Diogenes Verlag, Zürich 2012.

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