Eine Geschichte: Ein Stück Glück (XXIV)

Lieber Papa

Ich blättere mich weiter durch die Seiten des Albums. Ich arbeite mich von Bild zu Bild, stöbere in meiner Vergangenheit. Was mir auffällt: Ich lache kaum je auf den Bildern. Das deckt sich mit meinen Erinnerungen. Doch dann stosse ich auf ein Bild, auf dem ich glücklich aussehe. Ich stehe inmitten einer Schar von Kindern. Alle strecken die Arme zum Himmel, auf den Händen tragen wir einen grossen Drachen. Wir haben ihn, so erinnere ich mich, aus vielen Papieren zusammengesetzt und wollten ihn später fliegen lassen.

Das Bild ist in einem Sommerlager entstanden. Das Spielerlebnis fand jedes Jahr ganz in unserer Nähe statt und ich durfte hin. Zwei Wochen. Es war grossartig.

In der ersten Woche bauten wir in kleinen Gruppen Holzhütten. Das Material dazu, Holzlatten und -stangen gab es vor Ort. Die geübteren Baumeister schafften sogar doppelstöckige Häuser mit Leitern, die in den zweiten Stock führten. In einem Haus, ich erinnere mich genau, bauten wir sogar einen Balkon. Wie stolz wir waren. Unser Haus. Selbst gebaut.

In der zweiten Woche durften wir in diesen Hütten übernachten. Ich auch. Das gab es sonst nie. Ich war glücklich. Das Glück spricht aus dem Bild. Aus meinen Augen. Wie kaum sonst auf anderen Bildern.

Ich weiss noch, wie frei ich mich in diesen zwei Wochen fühlte. Da gehörte ich dazu. Da konnte ich sein, wie ich war. Da konnte ich ausleben, was in mir steckte. Ich konnte wild sein, konnte rennen, lachen, schreien, bauen, spielen. Wenn ich zurückdenke, jetzt beim Schreiben, merke ich, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht gebildet hat. Die Erinnerung bringt das Glück zurück. Wie schön.

Wir hatten grossartige Lagerleiter. Sie waren auch in der Pfadi aktiv. Da kam mir die Idee: Was, wenn ich dieses Sommerglück ins Jahr hineinziehen könnte? Ich wollte in die Pfadi. Jeden Samstag ein Stück Freiheit. Jeden Samstag wieder ein Stück vom Glück erleben. Das stellte ich mir schön vor.

Du hast es verboten. Du wolltest mich am Wochenende zu Hause haben. Das Wochenende gehört der Familie. Hast du gesagt. Mama schwieg. Wie immer. Was immer du geboten, verboten, kritisiert, bestraft hast. Sie schwieg. Und stimmte so zu. Das habe ich ihr übelgenommen. Wieso setzte sie sich nicht mal ein für mich. Wieso kämpfte sie nicht für mich? Gegen dich? Heute denke ich, sie fühlte sich wohl genauso hilflos wie ich. Weil auch sie deine Reaktion fürchtete.

Das zu schreiben fällt mir schwer. Weil du kein böser Mensch warst. Weil du mein Papa bist, den ich liebe.  

(„Alles aus Liebe“, XXIV)

Eine Geschichte: Mittagessen (XVIII)

Lieber Papa

Wenn du zu Hause warst, hiess das: Familienzeit. Ich hatte zu Hause zu sein, wir machen Dinge gemeinsam. Einerseits waren da die Ausflüge am Wochenende. Die, für die ich dankbar sein musste, da ihr sie ja nur für mich machtet. Damit ich am Montag etwas zu erzählen hätte in der Schule. Dass sich niemand für diese ständigen Wanderungen interessierte, wolltest du nicht hören. Dass ich sie nicht machen wollte, auch nicht. Die anderen wären neidisch. Sagtest du. Und von mir warst du enttäuscht.

Auch eine wichtige gemeinsame Sache war das Essen. Bei anderen Familien ist das ungesittet. Sagtest du manchmal. Die kochen nicht mal richtig. Sagtest du. Keine Ordnung haben die. Wir hatten eine. Ich höre heute oft, das gemeinsame Essen sei wichtig. Da könne man sich austauschen. Ich kann mich nicht erinnern, dass bei uns geredet oder gar gelacht wurde. Wenn wir assen, liefen im Radio die Nachrichten. Die wolltest du hören.

«Pscht!»

Sagtest du, wenn ich etwas erzählen wollte. Du wolltest wissen, was in der Welt vor sich ging. Dazu last du auch täglich die Zeitung. Von vorne bis hinten. Schautest die Tagesschau, auf allen möglichen Sendern. Meine Rolle dabei? Nicht auffallen. Nicht hör- oder sichtbar werden. Das war am besten. Dann passte ich am besten ins Bild.   

Ich weiss gar nicht mehr, was ich dabei fühlte. Allein? Nicht wahrgenommen? Nicht interessant genug? Vermutlich schon. Ich kann es mir nicht anders vorstellen. Sicher lernte ich so, dass das, was ich erzähle, keiner hören will. Dass das, was ich zu sagen habe, nicht interessant ist. Schweigen wurde meine Welt. Ich liebte es, allein in meinem Zimmer zu sein. Da war keiner, der mich nicht hören wollte. Da waren meine Welten, in die ich eintauchen konnte: Bücher. Und Musik. Viel Musik.

Während ich das alles schreibe, merke ich die tiefe Trauer in mir. War sie damals schon da? Wohl schon. Und doch weinte ich nicht. Und vergass alles. Nach und nach. Bis heute. Und nun schreibe ich es auf. Und frage mich immer wieder: Wozu eigentlich? Ist doch nicht mehr wichtig. Wieso interessiert es mich plötzlich? Wieso will ich dir all das schreiben? Ich weiss es nicht. Was erwarte ich? Deine Antwort war immer

«Wir hatten es doch immer schön.»

Das wird nun nicht mehr ändern.

Ich erinnere mich noch an etwas bei diesen gemeinsamen Essen.

«Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.»

Ich weiss, das kennen viele. Und doch. Es war schrecklich. Ihr habt mir aufgetragen und eingeschenkt. Egal, ob ich das Essen oder Trinken mochte, egal ob ich Hunger hatte oder nicht. Alles musste weg. Reste waren keine Option. Wenn ich nicht zu Zeiten fertig wurde, standet ihr auf und gingt. Ich sass da. Allein. Mit dem vollen Teller. Das Essen wurde kalt. Und noch schlimmer. Am schlimmsten waren Lebern und Polenta. Da war immer dieser Brechreiz, wenn ich es essen musste. Und wenn die Lebern kalt wurden, bildete sich diese Haut auf der Sauce. Und die Polenta wurde oben krustig. Ich hasste diesen Schuhkarton mit dem fiesen, bitteren Geschmack. Und dieses Kitzeln am Gaumen von diesem körnig-breiigen Maispudding. Aber es half nichts. Der Teller musste leer sein.

Es wurde 13 Uhr, 14 Uhr, 15 Uhr. Ich sass da, den noch praktisch vollen Teller vor mir. Du warst wortlos im Wohnzimmer verschwunden. Mama zeigte sich auch nicht mehr. Und da kam mir die Idee: die Blumentöpfe. Sie standen rund um den Esstisch. Sie hingen von den Wänden. Standen auf Simsen und auf dem Boden. Ich begann, Lebern und Mais in den Töpfen zu vergraben. Irgendwann war der Teller leer. Ich trug ihn in die Küche. Mama nahm ihn wortlos entgegen und ich ging in mein Zimmer. Ich schämte mich so. Ich habe es nie erzählt.

(«Alles aus Liebe», XVIII)

Anne Pauly: Bevor ich es vergesse

«Der Tod ist nichts: Ich bin nur ins Zimmer nebenan gegangen. Ich bin ich. Ihr seid ihr. Was ich für euch war, das bin ich nach wie vor.» Charles Péguy

Als Anne Paulys Vater stirbt, müssen sie und ihr Bruder die Formalitäten regeln und die Abdankung planen. Die Konfrontation mit dem toten Vater, mit den Erinnerungen an die vielfältigen Erfahrungen, Gefühle, Erlebnisse aus der gemeinsamen Vergangenheit sowie die Aufarbeitung der zurückbleibenden Gefühle an diesen Menschen, der so viele Seiten in sich trug, vom gewaltvollen Alkoholiker über den Liebhaber von Gedichten bis hin zum Interessierten für Spiritualität und östliche wie westliche Philosophien handelt dieses Buch.

«Während ich seine Hand hielt, die in meiner langsam kalt wurde, wünschte ich mir von ganzem Herzen, niemals seinen Duft zu vergessen und wie weich seine trockene Haut war.»

Was wird bleiben nach dem Tod, wenn der Mensch, der mal war, der zum eigenen Leben gehörte, durch den dieses wurde und war, wie es war, stirbt? Was wird man mitnehmen können ins neue Leben, in das ohne diesen Menschen? Die Angst, dass die Erinnerung an die Dinge verloren geht, die so wichtig schienen, die diesen Menschen ausmachten, ist oft gross. Man fürchtet, damit alles zu verlieren, vielleicht ein Stück von sich selbst.

«Im Gegensatz zu meiner Mutter habe ich immer verstanden, welchen Trost er daraus zog, Bücher zu besitzen, und welche Sehnsucht sich dahinter verbarg.»

Bücher sind Tore zur Welt. Sie können helfen, die Welt, in der man sitzt und sich vielleicht nicht wohlfühlt, für einen Moment zu verlassen. Nur schon sie zu besitzen heisst, die Möglichkeit zu haben, die in den Büchern steckt. Bücher sind auch ein kulturelles Symbol. Bücher im Regal zu haben, deutet darauf hin, einer bestimmten Schicht, einer bestimmten kulturellen Klasse zuzugehören. Sie vermitteln zumindest den Schein der Zugehörigkeit.

«Ja, sicher, er hatte es übertrieben, und doch war es diese Seele, die mir in all den Jahren nah gewesen war, und es war dieser Mann, der mich, zwischen zwei Besäufnissen, fest in seine langen Arme geschlossen hatte, wenn er fühlte, dass die Angst mit ihren schwarzen Händen nach mir griff.»

Kein Mensch hat nur eine Seite. Selbst der gewaltvollste Vater, ein Vater mit all seinen Schwächen und dunklen Seiten, hat auch die andere, die, auf die man bauen und vertrauen möchte. Die kleinen lieben Gesten zwischendurch, die, welche Halt geben, wenn man ihn braucht, mildern das Gesamtbild.

«Ich fand am Ende immer eine Entschuldigung für ihn: seine Schwermut, seine Einsamkeit und seine Langeweile, der nichts je hatte bekommen können, machten ihn verrückt.»

Wenn wir jemanden lieben, möchten wir ihn im besten Licht sehen. Das ist nicht immer möglich, vor allem, wenn die Schattenseiten zu deutlich herausstechen. Wie oft suchen wir dann Gründe, diese zu entschuldigen, suchen nach Erklärungen, die mildernd wirken, die den Blick nachgiebiger machen sollen. Belügen wir uns damit selbst? Oder sind wir damit der Wahrheit auf der Spur, die immer keine einfache ist, sondern mehrere Seiten aufweist?

Mascha Kaléko schrieb in ihrem Gedicht «Memento»:

«Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?»

Wenn jemand stirbt, bleibt eine Lücke. Lücken haben etwas Bedrohliches: Wie sollen wir sie füllen? Lücken bedeuten Leere, bedeuten, dass da, wo etwas war, nun nichts mehr ist. Ein Nichts ist unbestimmt, wir sind daran gewohnt, dass immer etwas ist, etwas zu sein hat. Wir haben, in heutigen Zeiten noch viel mehr als früher, das Bedürfnis, alle Leerstellen zu füllen. Wir packen förmlich unser Leben voll, um nicht ins Nichts zu fallen. Die Lücke durch einen Tod lässt sich nicht einfach füllen. Sie ist endgültig. Vielleicht liegt auch darin ein grosser Teil der Angst vor dem Tod.

Anne Pauly setzt sich in ihrem Buch mit dieser Lücke auseinander. Sie beleuchtet ihre Beziehung zu ihrem Vater, schaut hin, welchen Stellenwert dieser in ihrem Leben hatte. Sie erinnert sich an ihr Aufwachsen, an die Reibungen, Auseinandersetzungen und das Verbindende zwischen sich und ihrem Vater. Sie denkt über ihre Gefühle nach, über ihre Sehnsüchte, Ängste, Enttäuschungen. Was hiess es, Tochter dieses Vaters zu sein? Und was bleibt davon nun noch übrig? Was kann sie mitnehmen? Was ist verloren? Was wird sie weiter erinnern, was fällt dem Vergessen anheim?

Von all dem handelt dieses Buch. Es ist ein Buch über Liebe, Gewalt, Trauer und Trost, es ist ein Buch über Abschied und ein Buch über eine Beziehung zwischen Vater und Tochter.

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

Inhalt

„Ich schäme mich, weil ich Mutter angerufen hatte. Es war gegen die Regeln, aber ich hatte es trotzdem getan. Ich hatte gegen ein Verbot, das ich mir selbst auferlegt hatte, und gegen ein Verbot, das mir auferlegt worden war, verstossen.“

Die Künstlerin Johanna verlässt den frischgebackenen, angemessen Ehemann und die gutbürgerliche Familie, um in Amerika mit ihrer grossen Liebe, einem Künstler, ein neues Leben aufzubauen. Nach 30 Jahren ohne Kontakt zu ihrer Familie kehrt sie wegen einer Ausstellung ihrer Bilder in ihre Heimat zurück und möchte die Vergangenheit mit ihrer Mutter aufarbeiten. Sie ruft an, doch Mutter drückt sie weg. Sie verweigert den Kontakt. Ein Versteckspiel beginnt.

Ein Roman aus der Tiefe des Ichs einer verletzten Tochter, die von vielen offenen Fragen geplagt wird und nach Antworten sucht. Eine Erzählung aus der Sicht einer Tochter, die sich in inneren Monologen klarzuwerden versucht, wer diese Mutter wirklich war und heute noch ist. Ein Roman ums Mutter- und Tochtersein, um Schuld und Verpflichtung, um Familie und Eigenständigkeit. Packend, einnehmend, grossartig.

Gedanken zum Buch

«Ich fahre schweissnass aus dem Schlaf hoch und begreife, dass unsere frühere Beziehung in mir überlebt hat, dass die Abhängigkeit, in der ich einmal zu ihr stand und die ich gleichzeitig geliebt und verabscheut habe, in mir lebt.»

Beziehungen, gerade solche, die schwierig waren, würden wir oft gerne hinter uns lassen. Wir möchten das Schwere vergessen, die Vergangenheit abhaken, nach vorne schauen, unbeschwert. Meist ist das nicht so leicht, schon gar nicht, wenn es sich bei der Beziehung um die zur eigenen Mutter handelt. Sie hängt einem nach, meist ein Leben lang, egal, ob man real Kontakt zu ihr hat oder nicht, egal, ob man die Beziehung als störend, verstörend gar, vielleicht auch verletzend empfand. Sie ist und wird es immer bleiben: Die Mutter. Schon in dem Wort stecken Bilder, Hoffnungen, (erfüllte und noch mehr unerfüllte) Sehnsüchte – und mit allem muss man sich irgendwie zurechtfinden.

«Mutter hat sich längst mit dem Tochterverlust abgefunden. Sie will das Beste aus ihrem Leben machen. Warum finde ich mich nicht mit dem Mutterverlust ab? Ich finde mich mit dem Mutterverlust ab, aber ich finde mich nicht damit ab, dass Mutter sich mit dem Tochterverlust abgefunden hat?»

Ist es für eine Mutter möglich, zu sagen, sie habe kein Kind mehr? Kann eine Mutter ihr Kind einfach vergessen, ihr Leben weiterführen, als hätte es dieses Kind nie gegeben? Wie geht man als Kind mit einem solchen Gedanken um? Wie fühlt es sich als Kind an, von der eigenen Mutter vergessen worden zu sein, der Mutter, die man im Gegenzug nicht aus den eigenen Gedanken bringt, egal, wie sehr man es möchte? Wünscht man sich, dass sie sich genauso quält wie man selbst? Weil man denkt, so wenigstens einen Stellenwert bei ihr zu haben, wie sie ihn bei einem selbst hat? Oder ist es eine Form der Rache? Sie soll keine Ruhe haben, weil sie mir keine lässt?

«Sie kann es nicht geschafft haben, mich so in sich zu töten, dass sie nicht mehr wissen will, wie es mir geht. Aber ich weiss, dass sie nicht ans Telefon kommen wird, ich habe es ja probiert, und trotzdem rufe ich an.»

Es ist kaum zu glauben, dass es einer Mutter gelingen sollte, das eigene Kind in sich abzutöten, indem sie es so weit verdrängt hat, dass es de facto nicht mehr existiert. Der Gedanke, von dem Menschen vergessen worden zu sein, dem die bedingungslose Liebe in die Rolle geschrieben ist, schmerzt. Die Verzweiflung, die aus dieser Verleugnung, dieser Verdrängung wächst, hat etwas Monumentales, denn sie ist nicht vorgesehen in unserem Bild vom Leben, vom Muttersein, vom Kindsein.

«…ich bin die verlorene Tochter, die heimgekehrt ist, aber niemand nimmt sie in Empfang, das ist meine Schuld.»

Die biblische Geschichte vom heimgekehrten Sohn hält dieses Bild aufrecht. Der Sohn, der ging, der alles hinter sich liess. Als er wiederkommt, wird er mit einem Fest und mit Freude empfangen. Was, wenn dieses Bild falsch ist? Wenn dieses Bild nicht auf einen selbst und die Mutterbeziehung passt? Was, wenn man die Tochter ist, die nicht mehr heimkehren kann, weil die Tür zubleibt? Wie viel gerät da ins Wanken?

«Mutter, ich erdichte dich mit Wörtern, um ein Bild von dir zu haben.»

Das Buch «Wahrheiten meiner Mutter» stellt die Mutter-Tochter-Beziehung in Frage. Es wirft Fragen auf und zeigt die innere Auseinandersetzung einer Tochter mit ihrer Mutter, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat, ihn aber wieder aufnehmen möchte. Die Vergangenheit hat offene Fragen zurückgelassen, doch die Antworten bleiben aus, weil die einzige Person, die sie geben könnte, sich verweigert. Die Mutter schweigt. Der Tochter bleibt nur, sich ihr eigenes Bild der Mutter zu zeichnen. Ob sie dabei die Wirklichkeit trifft oder nicht, bleibt offen.

Persönliches Fazit

Das Buch hat mich von der ersten Seite an gepackt und nicht mehr losgelassen. Es regte mich zum Nachdenken, zum Nachfühlen an, als ich zum Ende kam, wollte ich einerseits wissen, wie alles aufgelöst wird – glaubend, dass es kein wirkliches Ende geben konnte –, aber ich wollte es auch herauszögern, weil ich nicht aus dieser Welt auftauchen wollte, in der ich mich so tief drin fühlte. Grossartig!

Joan Didion: Blaue Stunden

Inhalt

«Wären sie an diesem Tag auf der Amsterdam Avenue vorbeigekommen und hätten einen Blick auf die Hochzeitsgesellschaft geworfen, hätten sie dann gesehen, wie vollkommen unvorbereitet die Brautmutter auf das war, was passieren würde, bevor das Jahr 2003 überhaupt zu Ende ging?»

Innerhalb von zwei Jahren verliert Joan Didion ihren Mann und ihre Tochter. Ihr Mann starb an einem Herzinfarkt, ihre Tochter nach einer Reihe von Krankheiten knapp zwei Jahre später.

Joan Didion erinnert sich. Sie erzählt die Geschichte ihrer Tochter von dem Tag ihrer Adoption bis zu ihrem Tod. Sie erzählt eine Geschichte von Liebe, Tod, Abschied, Freude und Angst. Sie erzählt von ihren Zweifeln an ihrer Mutterrolle, von ihrem Erinnern, sie hinterfragt sich und das Leben. Ein persönliches Buch, ein tiefgründiges und bewegendes Buch. In einzelnen Sätzen und Textfragmenten, fast staccatoartig, entwickelt sich ein Gefühlsbild, stellt sich die Trauer um den Verlust und der Kampf ums eigene Weiterleben dar.

Gedanken zum Buch

«Die Zeit vergeht. Ja, einverstanden, eine Banalität, natürlich vergeht die Zeit. Aber wieso sage ich es dann, warum habe ich es schon mehr als einmal gesagt? …Könnte es sein, dass ich das nie geglaubt habe?»

Die Zeit vergeht, doch was bedeutet das? Steckt in dem Vergehen ein Abschied mit drin? Ist ein Verdrängen der vergehenden Zeit ein Verdrängen eines möglichen Tods und damit die Hoffnung, dass alles immer so bleibt, wie es ist? Ist der Gedanke an eine vergehende Zeit, die einen Abschied in sich trägt, so schwer zu tragen, dass man dem Vergehen der Zeit darum positive Eigenschaften zuschreibt, wie zum Beispiel, dass das Heilen von Wunden? Und: Werden die Wunden geheilt oder trocknen sie nur langsam aus, so dass sie vordergründig nicht mehr so präsent gefühlt werden?

«Tatsache ist, dass ich diese Art Andenken nicht länger schätze. Ich möchte nicht an das erinnert werden, was zerbrach, verlorenging, vergeudet wurde.»

Es heisst, in der Erinnerung leben die Menschen, die von uns gingen, weiter. In Erinnerungen werden Momente wieder präsent und bringen die Freude zurück. Das ist die eine Seite, doch die andere gibt es auch: Erinnerungen zeigen immer auch, was nicht mehr ist. Sie bringen uns Menschen ins Gedächtnis, die wir gehen lassen mussten, machen den Schmerz dieses Abschieds wieder präsent. Und manchmal ist dieser Schmerz so gross, dass es einfacher scheint, die Erinnerung auszublenden, sie dem Vergessen anheim zu geben.

«Theoretisch dienen diese Andenken dazu, den Augenblick zurückzurufen. Tatsächlich dienen sie nur dazu, mir zu verdeutlichen, wie wenig ich den Augenblick genoss, als er da war.»

Erinnerungen können auch bewusst machen, wie blind wir durch die Zeit und durch unser Leben gehen und gegangen sind. Wie oft tun oder erleben wir etwas, sind aber in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt? Wie oft sehen wir nicht, was um uns ist, weil innerlich schon an einem anderen Ort sind? Vielleicht schmerzen die Erinnerungen am meisten, die von nicht bewusst gelebten Momenten erzählen, weil die Erinnerungen erst sichtbar machen, was wir verpasst haben. Sie zeigen uns unwiederbringliche Chancen und Möglichkeiten und haben dabei die eine Botschaft: Das ist vorbei.

«Ich werde noch nicht einmal darüber diskutieren, ob sie eine ‘gewöhnliche’ Kindheit hatte, obwohl ich mir nicht sicher bin, wer genau eigentlich eine solche hat.»

Zum Elternsein gehören wohl immer auch Zweifel. Die Gesellschaft hält uns Bilder von Familien vor, zeigt, was eine normale Familie ausmacht. Aber: Was ist normal? Was bedeutet eine schöne Kindheit, wie muss sie aussehen? Wann ist man eine gute Mutter, ein guter Vater? Wo hat man als Eltern versagt? All diese Fragen stellt sich Joan Didion und umkreist sie dann. Die Antwort bleibt offen, weil es auf diese Fragen keine Antwort gibt, die allgemeingültig und damit abschliessend ist.

«Die Erinnerung verblasst, die Erinnerung passt sich an, die Erinnerung fügt sich dem, woran wir uns zu erinnern glauben.»

Joan Didion schreibt in einem eigenwilligen Stil, sie pendelt durch die Zeiten, stellt Gedanken neben Erlebnisse, erzählt von Häusern und Menschen. Sie arbeitet immer wieder mit Wiederholungen, die wie ein Refrain im Text wirken, ein Zurückholen des Ausgangs einer Gedankenkette, die man gerade lesend durchlaufen hat. Der Text an sich gleicht dem spontanen Erinnerungsprozess, er reiht einzelne Erinnerungsfetzen aneinander, die sich zu einem Ganzen fügen.

Fazit
Ein persönliches und bewegendes Buch über das Erinnern, über die Liebe, den Tod und das Leben, geschrieben in einem eigenwilligen Stil, der dem Erinnerungsprozess nachempfunden ist, dem Auftauchen einzelner Fragmente und Erinnerungsfetzen.

Stine Volkmann: Das Schweigen meiner Schwestern

Inhalt

„Es ist, als hätte es diesen Sommer nie gegeben, obwohl nach drei Wochen Inselurlaub ihr ganzer Familienalltag auf dem Festland ein anderer geworden war, und niemand bereute es laut.“

Vier Schwestern treffen sich für die Beisetzung der Urne ihrer Mutter auf Langeoog, der Insel, welche in der Kindheit die schönsten Erlebnisse beheimatete, bis zu einem Sommer, in dem ein Erlebnis alles mit einem Schlag verändert. Waren die vier vorher ein eingeschworenes Team, gingen sie danach innerlich und mehr und mehr auch äusserlich getrennte Wege.

„Sie hat es sich geschworen, nie wieder einen Fuß auf Langeoog zu setzen. Nie wieder. Und jetzt, da sie so nah dran ist, beginnen wieder die Lügen.“

Bei diesem Zusammentreffen brechen alte Wunden auf, Vorwürfe, die im Raum stehen, werden ausgesprochen, die Erinnerung wird wieder lebendig. Doch: Hat sie sich in den einzelnen Köpfen wirklich richtig eingenistet?

Stine Volkmann erzählt die Geschichte der vier Schwestern auf zwei Zeitebenen und aus verschiedenen Perspektiven. Immer wieder pendeln wir beim Lesen so zwischen der Gegenwart der erneuten Zusammenkunft und der Vergangenheit der Kindheit hin und her, erfahren mehr über die einzelnen Charaktere, ihre Beziehung untereinander und den Sommer, welcher das Leben der ganzen Familie nachhaltig geprägt hat. Langsam fügt sich Stein für Stein das Mosaik zusammen, bis am Schluss die ganze Wahrheit auf dem Tisch liegt.

Gedanken zum Buch

„Wie immer, wenn es um ihre Familie geht, steigt die altbekannte Wut in ihr auf, sie spürt Machtlosigkeit, fühlt sich wie so oft ungehört und ungesehen“

Familien sind Systeme mit eigenen Dynamiken, in welchen jeder eine bestimmte Rolle innehat. Diese Rollen zu durchbrechen, fällt schwer, sie brennen sich über viele Jahre ein und werden auch sorgfältig aufrechterhalten, da sie das System von innenheraus stützen. Nicht immer ist jeder mit seiner Rolle zufrieden, oft kommt es zu Streit, zu Eifersucht, zu negativen Gefühlen, mit denen jeder einzelne anders umgeht.

„Vielleicht sollte sie davonlaufen. Niemals wieder Eltern oder Schwestern haben. Niemals wieder so zerbrechen.“

Die einen können sich anpassen und kommen so gut zurecht, andere rebellieren und gehen auf Konfrontation, die dritten fliehen.

«Wer nichts ersehnt, wird nicht enttäuscht.»

Und dann gibt es die, welche schweigen, die sich immer weiter in sich zurückziehen und resignieren, weil sie die Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Besserung aufgegeben haben. Auch das ist wohl eine Flucht, die Flucht in die Verweigerung, für die der betroffene aber einen hohen Preis zahlt.

«Ich falle aus der Welt.»

Das Resultat dieser Verweigerung ist die Entfremdung – die von der Welt um einen und auch die von sich selbst, kann man doch ohne die Welt nicht existieren, nicht auf eine zufriedenstellende und lebenswerte weil sinnvolle Weise.

„Wer ist sie in der ganzen Geschichte?“

Wir erzählen uns Geschichten, die wir für unser Leben halten, sagte einst Max Frisch. Wir konstruieren aus der Vergangenheit eine Geschichte, die wir als unsere Lebensgeschichte in uns und nach aussen tragen. Was wir oft nicht bedenken, ist, dass Erinnerungen einerseits selektiv sind, andererseits wandelbar durch die Zeit. Was wissen wir wirklich? Was haben wir nur gedacht und durch die Wiederholung des Erzählens plötzlich zu einer Tatsache erhoben? Wovon wissen wir nur aus dritter Hand, dies aber so tief, dass wir glauben, es erfahren zu haben? Und was, wenn die Geschichte sich ändert, weil wir auf einen Irrtum aufmerksam werden? Was bedeutet das für die eigene Identität? Was verändert das für das Sein und das Selbstbild? Für die Verortung in der Welt, im eigenen Leben?

Stine Volkmann erzählt die Geschichte von vier Schwestern, doch stecken in dieser Geschichte ganz viele Fragen aus dem Leben: Was bedeutet Familie? Darf man lügen? Wie geht man mit einer Lüge um, und wie mit Schuld? Wer bin ich und wer bin ich in dieser Welt? Was, wenn die Welt sich ändert und ich keinen Platz mehr in ihr finde? Wie gehen wir mit Erinnerungen um?

Entstanden ist ein mitreissender Roman mit authentischen Charakteren, einem guten Spannungsbogen in einer flüssig lesbaren Sprache, der gegen Ende etwas an Tempo verliert. Das Ende selbst ist an Pathos und Kitsch leider kaum zu übertreffen, doch die Geschichte bis dahin mag das tragen, so dass es doch eine klare Leseempfehlung ist.

Fazit
Die grossen Fragen des Lebens in Romanform, die Geschichte von vier Schwestern, die in einem Sommer ihr Familiengefühl und irgendwie sich selbst verlieren, bis sie das Leben wieder zusammenbringt und sie einen Umgang mit der Vergangenheit finden müssen. Eine klare Leseempfehlung.

Zur Autorin
Stine Volkmann wurde 1991 in Detmold geboren – wie die vier Schwestern in ihrem Buch. Genau wie sie verbrachte Stine Volkmann die Sommer ihrer Kindheit auf Langeoog, wohin sie es auch heute als Wahlbremerin nicht weit hat. Stine Volkmann studierte Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim, sie arbeitet als Journalistin und Drehbuchautorin.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ FISCHER Krüger; 1. Edition (24. Mai 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 432 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3810503633

Anneleen Van Offel: Hier ist alles sicher

Inhalt

«Dieser Tote ist nicht mein Sohn, das ist ein Mann, den ich nicht kenne… Es gelingt mir nicht, meinen Sohn zu sehen, in dem Toten auf dem Krankenhausbett meinen Sohn zu sehen.»

Als Immanuel seine Mutter Lydia nach 10 Jahren Funkstille bittet, nach Israel zu kommen, zögert sie erst. Als sie dann da ist, ist er tot, er hat sich das Leben genommen. Lydia reist durch Israel und gleichzeitig auch durch ihre Vergangenheit, auf der Suche nach ihrem toten Sohn, nach sich, nach allem, was sie verloren hat.

Gedanken zum Buch

«Der Tod kommt von innen, er ist immer schon da, er wächst, bis er grösser ist als das, was der Körper ertragen kann.»

«Hier ist alles sicher» ist eine Geschichte über die verschiedenen Leben, die man leben kann, es ist eine Geschichte über die Liebe, über Verlust, Schuld, Reue und den Tod. Es geht darum, was Familie ist und was Heimat bedeutet. Es ist die Geschichte einer Suche nach der eigenen Geschichte, danach, wer man ist und was davon bleibt, wenn vieles nicht mehr ist.

«Mit jedem Mal, dass ich das ausspreche, wird es endgültiger.»

Es ist die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Zuerst durch Distanz, dann durch den Tod. Diesen endgültigen Abschied zu verstehen, zu realisieren, ist schwer. Ihn in Worte zu fassen, ist noch schwerer, da die Sprache den Dingen eine endgültige Realität zu verleihen scheint. Wenn es ausgesprochen ist, kann es nicht mehr ignoriert werden, dann ist es wirklich.

«Solange es Reue gibt, bin ich schuldig, und solange ich mich schuldig fühle, bin ich unschuldig, weil ich dann nicht zulasse, dass es in Vergessenheit gerät.»

Wer trägt die Verantwortung für das eigene Leben und wer die für das Leben anderer, allen voran das Leben von Kindern? Hat das eigene Tun dazu beigetragen, dass ein Unglück geschah? Hätte man es verhindern können? Wäre Lydia imstand gewesen, den Selbstmord von Immanuel aufzuhalten, wenn sie früher nach Israel gegangen wäre? Wo ist dessen Vater, der vor 10 Jahren das Kind mit sich nach Israel nahm, raus aus Belgien und dem damals gemeinsamen Zuhause? Wer hat Schuld an dem, was passiert ist?

All diese Fragen treiben Lydia um, als sie durch Israel fährt, auf den Spuren von Immanuels Leben ohne sie. Sie will ihm nah sein, will die Landkarte seines Lebensweges nachfahren, in der Hoffnung, mehr über ihn zu erfahren. Es wird ihr nicht wirklich gelingen, die Fragen bleiben präsent, sie nimmt sie mit auf ihrem Weg.

Anneleen van Offel beginnt ihre Erzählung damit, dass Lydia am Totenbett des Sohnes sitzt. Sie blickt auf ihr Kind und reist in Gedanken zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her. Erinnerungen vermischen sich mit aktuellen Gefühlen, ein Riss bricht auf, der durch die Welt geht und sich über das ganze Buch erstrecken wird als Leitmotiv. Es entsteht beim Lesen eine Atmosphäre, die fast körperlich wirkt, einen Kloss im Hals und eine Schwere auslöst. Das Buch betrübt, bewegt, bestürzt, es überfordert mit dieser Unmittelbarkeit des Schmerzes.

Im zweiten Kapitel kommt es zu mehr Distanz, die Suche nach dem verpassten Leben des Sohnes beginnt und das Buch nimmt Fahrt auf. Sprachlich poetisch und philosophisch tiefgründig zieht einen diese Geschichte in den Bann, kann diesen Sog aber leider nicht durchhalten. Das Geschehen, die inneren Monologe, die Erinnerungen – sie alle werden zeitweise träge und langwierig. Trotzdem kann man von einem sehr lesenswerten und gelungenen Debüt sprechen.

Fazit
Eine Geschichte über Liebe, Schuld, Familie, Verlust und Tod – emotional bewegend, philosophisch tiefgründig und sprachlich poetisch.

Autorin und Übersetzerin
Anneleen Van Offel, 1991 in Antwerpen geboren, studierte Wortkunst am dortigen Königlichen Konservatorium. Sie hat Kolumnen für die flämische Zeitung „De Standaard“ und Kurzgeschichten und Gedichte für verschiedene Literaturzeitschriften geschrieben. Sie arbeitet als Redakteurin für die Zeitschrift „Deus Ex Machina“. Außerdem ist Anneleen Van Offel Programmgestalterin verschiedener literarischer Veranstaltungen. Von 2019 bis 2021 war sie Stadtschreiberin von Kortrijk. Für ihr Debüt „Hier ist alles sicher“ reiste sie immer wieder nach Israel, sprach mit zahlreichen Israelis, israelischen (Ex-)Soldaten und deren Familien. Der Roman wurde in Belgien und den Niederlanden von der Presse gefeiert und für seinen einfühlsamen Stil gelobt. anneleenvanoffel.be | @anneleenvanoffel

Christiane Burkhardt studierte Italienische Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Kunstgeschichte und war anschließend zunächst im Lektorat tätig. Heute lebt und arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen in München und unterrichtet neben ihrer eigenen Tätigkeit literarisches Übersetzen

Angaben zum Buch

  • ·  Herausgeber ‏ : ‎ Freies Geistesleben; 1. Edition (15. März 2023)
  • ·  Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • ·  Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 266 Seiten
  • ·  ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3772530319
  • ·  Originaltitel ‏ : ‎ Hier is alles veilig
  • ·  Übersetzung‏ : ‎ Christiane Burkhardt

Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter

Inhalt

„Was ist passiert, als Folge welcher Störung, welchen schleichenden Gifts? Ist der Tod eines Jungen eine hinreichende Erklärung für die Bruchlinie, die Bruchlinien? Denn die Jahre danach sind nicht zu beschreiben ohne die Begriffe Tragödie, Alkohol, Irrsinn, Suizid, die genauso zu unserem Familienwörterbuch gehören wie die Wörter Fest, Spagat und Wasserski.“

Als Lucile aus dem Leben scheidet, stellt sich ihre Tochter Delphine die Frage, wie es dazu kommen konnte. Diese Frau, die sie schon immer durch ihre Schönheit, durch ihr Talent, durch ihr Auftreten fasziniert hat, der sie aber doch nie wirklich nahe kam, weckt in Delphine eine Menge an Fragen, welchen sie in der Folge nachgehen will. Sie sammelt alles Material, das sie über ihre Familie findet, spricht mit den noch lebenden Mitgliedern und versucht so, die Geschichte der eigenen Familie aufzuarbeiten, offene Fragen zu klären, sich ein Bild zu machen davon, was wirklich passiert ist. Vor allem aber möchte sie ihre Mutter endlich kennenlernen, möchte verstehen, wieso diese so war, wie sie war.

Bedeutung

„Ich bin das Produkt dieses Mythos und habe in gewisser Weise die Aufgabe, ihn aufrechtzuerhalten und fortzusetzen, damit meine Familie weiterlebt und auch die etwas absurde, verzweifelte Phantasie, die uns eigen ist.

Delphine de Vigan erzählt die Geschichte einer Familie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Frankreich, sie erzählt vom Leben damals in Gesellschaft und auch von privaten Erlebnissen. Sie geht mit ihrer Geschichte weit zurück, bis zur Ursprungsfamilie ihrer Mutter, versucht, aus dem Lauf der Geschichte Antworten zu finden für das, was passiert ist, dafür, wieso ihre Mutter war, wie sie war, wieso sie sich nicht wirklich einliess, sondern sich immer wieder allem entzog, nicht zuletzt auch ihrer eigenen Tochter. Der Weg hin zur Mutter ist auch ein Weg hin zu sich selber für Delphine, sie lernt sich und ihr eigenes Verhalten und Leben besser zu verstehen dadurch, dass sie merkt, wie sich Dinge in der Familie weitervererben.

Delphine de Vigan erzählt nicht nur die Geschichte ihrer Familie, immer wieder reflektiert sie auch die eigenen Schwierigkeiten, diese schriftlich festzuhalten. Sie schreibt von den Selbstzweifeln, davon, die richtige Art des Erzählens zu finden. Da Schreiben immer auch eine Form ist, sich selber bewusst zu werden über die Dinge, deuten diese Schreibschwierigkeiten auch auf die  Schwierigkeit hin, mit der eigenen Geschichte umzugehen, wirklich hinzuschauen. Dies fiel sicher umso schwerer, als es keine heitere Geschichte ist, sondern eine Familiengeschichte voller Tragödien und Schicksalsschläge. Krankheit und (auch selbstgewählter) Tod sind immer präsent, das Leben als Kind in so einer Familie oft verstörend. Zu gerne würde man das wohl vergessen, wegschauen – doch die Fragen sind zu drängend.

Es ist Delphine de Vigan gelungen, diese sehr düstere Geschichte voller Schicksalsschläge und Tragödien authentisch und mit Mitgefühl zu erzählen, Vorwürfe, Selbstmitleid oder Klagen über eine schwierige Kindheit sucht man vergebens. Entstanden ist ein Buch, das trotz der schweren Kost gut lesbar ist.

Persönliche Einschätzung
Ich habe anfangs gekämpft mit dem Buch, fand den Zugang erst, als Delphine de Vigan von ihren eigenen Problemen schrieb, die Geschichte zu Papier zu bringen. Vorher war es schlicht eine Familiengeschichte, von der man zwar wusste, dass es die von Delphine de Vigane selber ist, die aber doch sonderbar absorbiert im Raum stand. Erst mit dieser Passage wurde der Zusammenhang wirklich spürbar, wurde auch das Involviert-Sein der Autorin fassbar.

Ich bin grundsätzlich kein Freund von Erinnerungsbüchern, habe dieses nur gelesen, weil ich von Delphine de Vigans Buch „Dankbarkeiten“ so begeistert war. In meinen Augen kann dieses nicht mit dem anderen mithalten, „Dankbarkeiten“ hat mich mehr berührt und ergriffen – vielleicht, weil hier die Sprache viel sachlicher war als dort, was vielleicht der Nähe der Autorin zum Stoff geschuldet ist. Oft brauchen wir ja die Distanz zu den ganz nahen Dingen, um ihnen überhaupt begegnen zu können. So wirkt dieses Buch auf mich.

Fazit:
Ein authentisches, sensibles Buch über die Geschichte einer Familie, über die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung und über das Erbe, das wir aus unserer Familiengeschichte mitnehmen. Empfehlenswert.

Über die Autorin
Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman ›No & ich‹ (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman ›Nach einer wahren Geschichte‹ (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien außerdem 2017 ihr Debütroman ›Tage ohne Hunger‹ und 2018 der Roman ›Loyalitäten‹.

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 400 Seiten
Verlag: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG; 1. Edition (16. Juli 2021)
Übersetzung: Doris Heinemann
ISBN-Nr.: 978-3832165468

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Rezension: Lotta Sjöberg – Family Living

Die ungeschönte Wahrheit

Familienleben – eine Idylle der anderen Art

Hätte ich meine Zeit mit Putzen verbracht, wäre dieses Buch nie zustande gekommen.

Sjöberg1Mit diesen Worten wird das Buch Family Living eingeleitet. Der Satz ist bezeichnend für das ganze Buch: Es könnte so schön sein mit dem Familienleben, wenn einen nur nicht die Realität einholen würde. Lotta Sjöberg erzählt aus dem ganz alltäglichen Familienirrsinn. Alles fängt damit an, dass mit den Kindern die ach so tolle Stadtwohnung zu klein und unpraktisch wird. Mehr Platz ist dringend nötig. Umzug und andere Strapazen bleiben nicht aus. Aber auch im Traumhaus ist nicht alles einfach. Kinder werden krank, der Spagat zwischen Beruf und Familie fordert seinen Tribut und auch das Leben als Paar hat so seine Tücken. Doch trotz all den täglichen Gewissenbissen, Hürden und Notlösungen ist es doch wunderbar, das Familienleben. Irgendwie.

Sjöberg2Lotta Sjöberg erzählt mit viel Humor und Sinn für die Alltäglichkeiten aus dem ganz normalen Familienleben. Illustriert hat sie das Buch mit herrlichen Zeichnungen, welche die Erzählung stützen und mit viel Liebe zum Detail weiterentwickeln, mit neuen Facetten würzen. Entstanden ist ein witziges, unterhaltsames und ehrliches Buch. Family Living ist ein Buch, das mit Illusionen aufräumt, einem zeigt: Man ist nicht allein in diesem Wahnsinn, andern geht es genauso.

Fazit:
Ein witziges, unterhaltsames und ehrliches Buch mit wunderbaren Illustrationen. Absolut empfehlenswert.

Die Autorin
Lotta Sjöberg
Lotta Sjöberg *1971, arbeitet als Zeichnerin und lebt mit ihren drei Töchtern, ihrem Mann und einem Hund in Stockholm.

Zum Buch gibt es auch eine Facebookseite: Family living the true story

Angaben zum Buch:
SjöbergFamilyGebundene Ausgabe: 176 Seiten
Verlag: Edition Moderne (1. Oktober 2015)
Übersetzung: Ulrike Samuelsson
ISBN-Nr: 978-3037311431
Preis: EUR 19.80 / CHF 29.90

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Rezension: Daniel Kehlmann – F

Das Leben hinter der Maske

Jahre später, sie waren längst erwachsen und jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wusste keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.

Arthur schreibt. Mehr für die Schublade als für Publikum, was aber nichts macht, da seine Frau Augenärztin ist. Neben dem Schreiben versorgt Arthur die beiden gemeinsamen Zwillinge Eric und Iwan. Ab und an holen sie Martin ab, Arthurs ersten Sohn. Er hat ihn und dessen Mutter eines Tages einfach verlassen und hat nun eine neue Familie. Lange spielte Martin keine Rolle, nun ist das anders.

Die Mutter des anderen Jungen, hatte Arthur erklärt, sei nicht gut auf ihn zu sprechen, sie habe nicht gewollt, dass er seinen Sohn sehe, und er habe sich gefügt, offen gesagt, allzu breitwillig, es habe die Dinge einfacher gemacht, und erst vor kurzem habe er seine Meinung geändert. Und jetzt werde er gehen und Martin treffen.

Irgendwann verlässt Arthur auch seine zweite Familie. Er muss es tun, denn er will all die Bücher schreiben, die ihn schliesslich berühmt machen werden. Die drei Brüder werden erwachsen. Jeder geht seinen Weg. Martin wird katholischer Priester ohne an Gott zu glauben, Eric geht in die Wirtschaft, wo er das Vermögen seiner Klienten verliert und das nur mühsam überspielen kann, und Iwan geht in die Kunst, wobei er für sich selber mittelmässig bleibt.

Aus mir würde also kein Maler, das wusste ich jetzt. Ich arbeitete wie zuvor, aber es hatte keinen Sinn mehr. Ich malte Häuser, ich malte Wiesen, ich malte Berge, ich malte Porträts, sie sahen nicht schlecht aus, sie waren gekonnt, aber wozu? Ich malte abstrakte Gebilde, sie waren harmonisch komponiert und farblich durchdacht, aber wozu?

Was er für sich selber nicht schafft, tut er im Namen seines Lebensgefährten: Er malt Bilder, die diesen berühmt machen – selbst nach dessen Tod produziert Iwan immer neue Bilder.

Drei Lebensgeschichten voller Lebenslügen, voller Schummelei, Fälschung und Vertuschung. Und alle drei Brüder haben Angst, aufzufliegen.

Kehlmann erzählt die Geschichte von drei Brüdern, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit mehr gemeinsam haben, als sie wohl selber glauben. F ist eine tragische Geschichte, da sie ohne Sieger auskommt. Alle verlieren, selbst wenn sie alle vordergründig Erfolg haben. Nach aussen wahren sie den Schein, zerbrechen aber innerlich langsam, was sie nur mit unterschiedlichen Süchten und Selbstlügen aushalten können. Indem derselbe Tag aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird, durchschaut der Leser die Denkstrukturen jedes Einzelnen, er pendelt zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung der Brüder hin und her und erhält so ein umfassendes Bild. Kein aufbauendes, kein positives, eher eines, das die ganze Tragik von Selbstbetrug und missglückter Selbstfindung in sich trägt.

Das Buch hat etwas von Treten an Ort in verschiedenen Schuhen, angereichert durch psychologische und philosophische Einsichten. Das ist weder grundsätzlich gut oder schlecht, das muss einem schlicht liegen. Wer sich mit Figuren und Welten identifizieren will, wer Geschichten miterleben und mitfühlen will, wird an diesem Buch keine Freude haben. Wer sich für die Innensichten von Menschen, für Beziehungen und die unterschiedlichen Deutungen derselben interessiert, wird auf seine Kosten kommen.

Fazit:
Nachdenklich, dicht, abgründig. Durchdacht komponierte Innensicht, ohne dabei zu psychologisierend zu wirken. Empfehlenswert.

Zum Autor
Daniel Kehlmann
Daniel Kehlmann ist einer der Shootingstars der deutschen Literatur. 1997 veröffentlichte der 1975 geborene Sohn eines Regisseurs und einer Schauspielerin seinen ersten Roman. Auf Beerholms Vorstellung folgten in knappen Abständen weitere Romane, Erzählungen und eine Novelle. 2005 erschien Die Vermessung der Welt, ein Welterfolg, der in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurde. Darüber hinaus erhielt Daniel Kehlmann schon in den ersten Jahren seiner Schriftstellerkarriere etliche der renommiertesten deutschen Literaturpreise, häufig gar mehrere in einem Jahr. Darunter befanden sich der „Kleist-Preis“ (2006) und der „Thomas-Mann-Preis“ (2008). Kehlmann besuchte als Kind eine Jesuitenschule und studierte in Wien Philosophie und Germanistik. Heute ist er freier Autor und Essayist.

Angaben zum Buch:
KehlmannFGebundene Ausgabe: 384 Seiten
Verlag: Rowohlt Verlag (30. August 2013)
ISBN-Nr.: 978-3498035440
Preis: EUR 22.95 / CHF 31.90

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Rezension: Hanni Münzer – Honigtot

Auf den Suchen nach den eigenen Wurzeln

Lieber Gott, ausgerechnet Afghanistan! Du musst verrückt sein, Felicity, wirklich. Hast du so lange studiert, nur um anschliessend am Ende der Welt mit einem Schleier herumzulaufen?

Felicity hat soeben ihr Medizinstudium beendet, sie ist mit einem zuverlässigen, sie liebenden Mann, der dazu noch anerkannter Chirurg ist zusammen. Glück pur? Könnte es sein, wenn Felicity das nicht alles hinter sich lassen und nach Afghanistan gehen wollte. Eine Flucht oder Berufung?

Doch je näher das Ende des Studiums und die Prüfungen gerückt waren, umso stärker war der Drang geworden, wieder eine neue Richtung einzuschlagen, auszubrechen aus ihrem geregelten Leben.

[…] Ohne ergründen zu können, woher der melancholische Satz kam, dachte sie: Ich werde das Land der Liebe niemals betreten.

Alles ist gepackt, eigentlich kann es losgehen zum Flughafen, doch Felicitys Mutter ist verschwunden – diese hatte sie fahren wollen. War das ein Versuch, Felicity von ihrem Plan abzubringen? Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter war immer eher distanziert gewesen, aber dass sie ihr nun Steine in den Weg legte? Ob ihr was passiert war?

Nach einem ersten Schrecken und den Gedanken an das Schlimmste, steht fest: Nach einem kurzen Besuch im Pflegeheim ihrer kürzlich versztorbenen Mutter ist sie mit einem Karton unter dem Arm aus diesem gestürmt und sogleich nach Rom abgeflogen. Felicity verschiebt ihre Reise nach Afghanistan und reist ihrer Mutter hinterher. Was sie in Rom erfährt, weckt auch ihr Interesse: Die ganze Vergangenheit, wie sie bislang erzählt worden ist, war auf Lügen aufgebaut. Die Wahrheit geht tief, führt zurück ins Naziregime. Je tiefer die beiden Frauen graben – und sich dabei als Mutter und Tochter näher kommen –, desto brisanter werden die Funde.

Hanni Münzer hat mit Honigtot aus dem Vollen der Schriftstellerkunst geschöpft: Eine emotionale Geschichte, die von ihren lebensnahem Charakteren lebt, Schauplätze, die plastisch werden und damit den durchdachten, spannend aufgezogenen und stimmig ausgeführten Plot lebendig werden lassen. Die historischen Hintergründe sind fundiert recherchiert ohne dabei zum Geschichtsunterricht zu werden. Alles in allem ein wunderbarer Lesegenuss.

Fazit:
Eine emotionale Geschichte, bei der alles stimmt: Plastische Schauplätze, lebensnahe Charaktere, stimmiger Plot und Spannung. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor
Hanni Münzer
Hanni Münzer hatte schon immer eine lebhafte Fantasie (zum Leidwesen von Eltern und Lehrern) und verschlang bereits als Sechsjährige jedes Buch. Nicht alles war jugendfrei. Aus der Leidenschaft zu lesen, entwickelte sich die Leidenschaft zu schreiben.
2013 veröffentlichte die in Wolfratshausen Geborene ihr Debüt „DIE SEELENFISCHER“. Es war ein Experiment, das versehentlich gelang. Plötzlich war sie Autorin.

Interview mit der Autorin: Nachgefragt

Angaben zum Buch:
MünzerhonigtotTaschenbuch: 480 Seiten
Verlag: Piper Verlag (13. April 2015)
ISBN-Nr.: 978-3492307253
Preis: EUR 9.99 / CHF 14.90

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Rezension: Silvio Blatter – Wir zählen unsere Tage nicht

Wollen wir sein, wer wir sind?

Severin hörte Isa die Treppe herunterkommen. Sie lebten seit vielen Jahren in dem grossen Haus, doch Severin hätte die Schritte seiner Frau auch unter vielen anderen sogleich erkannt.

Isa Lerch, erfolgreiche Radiomoderatorin am Ende ihrer Karriere, und Severin, passionierter Künstler, sind seit vielen Jahren verheiratet. Glücklich. Sie haben zwei Kinder, die beide schon ausser Haus leben, beide haben einen völlig anderen Weg als ihre Eltern eingeschlagen, haben sich für ein bürgerliches Leben entschieden. Eine Flucht?

Auch wenn Isa und Severin beide in ihren Projekten aufgehen, sich oft kaum sehen, ist die Liebe präsent.

Severin begehrte Isa noch immer.
Doch sie waren kein symbiotisches Paar, nie gewesen. Es war das erste Mal in dieser Woche, dass sich Isa und Severin am Tisch gegenübersassen, es war Freitag.

Isa und Severin stehen vor einem neuen Lebensabschnitt. Die glänzenden Jahren gehen ihrem Ende zu, die Kinder sind gross, das Alter steht vor der Tür. Die Zeit eines solchen Umbruchs ist immer auch die Zeit der (Rück-)Besinnung: Wie haben wir gelebt? War es das Leben, das wir wollten? Wohin führt der Weg jetzt? Wo stehen wir?

Silvio Blatter versteht es in seinem neusten Roman Wir zählen unsere Tage nicht, das Leben von Eva und Severin an der Schwelle in eine neue Zeit in einer klaren Sprache, tiefgründig und doch einfach, fast beiläufig, dabei weder oberflächlich noch distanziert, zu erzählen.

Der Sohn liebte die Mutter.
Mit dem Vater hatte er Schwierigkeiten. Der Vater kam ihm zu nah. Oder er kam gar nicht an ihn heran. Sie waren beide überempfindlich. Es fehlte ihnen das Gespür für die Distanz. Dabei liebte Mathias auch seinen Vater. Leider nicht immer gleich stark, und heute liebte er ihn gar nicht.

Es ist ein Roman, der Gegensätze aufgreift wie alt und jung, Bürger und Künstler, Eltern und Kinder. Es geht um Beziehungen zwischen Generationen, zwischen Geschlechtern, innerhalb von Familien und im Beruf. Es ist die Geschichte von solchen, die gehen, und anderen, die kommen – und von der Beziehung zwischen ihnen. Einfühlsam legt Blatter dem Leser das Innenleben seiner Figuren offen, zeigt ihre Beweggründe, ihre Ängste, ihre Hoffnungen. Er lässt den Leser mitfühlen und auch verstehen – ab und an auch wiedererkennen. Dabei driftet er nie ins Psychologisierende ab, lässt der Geschichte eine gewisse Leichtigkeit. Ganz grosse Schreibkunst!

Fazit:
Tiefgründige Analyse vom Leben, von der Liebe, von Familie, Beruf und dem Umgang mit dem Älterwerden. Sehr empfehlenswert.

 

Zum Autor
Silvio Blatter
Silvio Blatter wurde am 25. Januar 1946 in Bremgarten (AG) als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren. Nach dem Besuch der Bezirksschule absolviert er das Lehrerseminar, unterrichtet anschliessend, um dann einige Monate in der Metallindustrie zu arbeiten. Es folgen sechs Semester Germanistik an der Universität Zürich, um wieder in die Industrie zurückzukehren. 1975 absolvierte Blatter beim Schweizer Radio DRS eine Ausbildung zum Hörspielregisseur und liess sich nach Aufenthalten in Amsterdam und Husum als Schriftsteller in Zürich nieder. Heute pendelt der Autor zwischen Malerei und Schriftstellerei, lebt in Zürich und München.

 

Angaben zum Buch:
BlatterGebundene Ausgabe: 304 Seiten
Verlag: Piper Verlag (9. März 2015)
ISBN-Nr.: 978-3492056458
Preis: EUR 19.99 / CHF 29.90

 

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Stinkefinger

Bin ich allein, sehne ich mich nach Gemeinschaft, bin ich unter Leuten, fehlt mir die Einsamkeit. Es ist, als ob das Leben es nie recht macht oder als ob ich im Leben nie antreffe, was ich brauche. Ist das Leben falsch? Bin ich es? Gehe ich durchs Leben und spiele Hand im Schneckenloch oder hat dieses Leben einfach ein verdammt schlechtes Timing?

Eigentlich wollte ich ja ein Buch schreiben. Einen Roman. Ich weiss wie es geht, ich weiss, was ein guter Roman ist. Aber irgendwie gelingt es nicht. Nach wenigen Seiten ist meine Geschichte fertig, sofern ich überhaupt eine finde. Und wenn ich keine finde, überlege ich mir, wie ich eine finden könnte und ob ich dazu Notizen machen müsste. Ich überlege, ob ich die Notizen in ein Notizbuch schreiben oder gleich in den Computer tippen soll. Ich beschliesse, gleich ein Notizbuch zu kaufen. Am besten kaufe ich gleich mehrere, für den Fall, dass das erste voll ist, hätte ich gleich weitere greifbar. Im Bücherregal sähen sie sicher toll aus, so in Reih und Glied nebeneinander stehend. So weit ist es aber noch nicht, da ich beschliesse, dass Computer praktischer wäre. Ich schreibe schneller am Computer, sitze meist davor und da ginge es im Gleichen. Zudem lässt sich die Schrift besser lesen.

Nur habe ich den Computer nicht immer dabei und ihn immer mitschleppen ist doch eher mühselig. Also wäre ein Notizbuch für unterwegs gut, in das ich aufkommende Gedanken schreiben könnte, sie dann zu Hause abtippen. Allerdings klingt das so unromantisch und schon gar nicht kreativ. Kreativität muss doch frei sein. Ich stelle mir die anders vor als ödes Abtippen von popeligen Notizen.

Ich sehe mich – ganz Künstler – mit einem Schal um den Hals auf meinem Holzstuhl sitzen, den Kopf auf die Hand gestützt, nachdenklich. Und dann kommt die Idee und man sieht sie förmlich in meinen Augen blitzen. Ich stürze mich auf die Tasten, wühle mit einer Hand immer wieder in meiner zerzausten Frisur, um die richtigen Worten ringend, was mir noch einen kreativeren Ausdruck gibt. Und ich schreibe mein Buch. In der Vorstellung klappt das super. Und ich finde, das passt zu mir. Das bin ich, so will ich sein. Fehlt also nur noch die Idee für eine Geschichte für die Realität.

Andere wachsen im Krieg oder in einem Bergdorf auf. Sie können von Entbehrungen, Bomben oder kalten Nächten berichten. Bei mir war alles geheizt, nicht mal meine Eltern liessen sich scheiden. Sie haben meine Schriftstellerkarriere auf dem Gewissen, wenn mir nicht bald etwas einfällt, das ich schreiben könnte. Hätten sie mir eine problembeladenere Kindheit geliefert, könnte ich nun aus dem Vollen von Traumata und anderen Beschwerden schöpfen und das Publikum läge mir zu Füssen, würde sich wiedererkennen oder zumindest Mitleid haben. Wer will schon von idyllischen Familienausflügen im Sonntagskleid lesen, von heiler Welt mit zwei Elternteilen, die sich nicht mal übermässig stritten. Keine fliegenden Tassen, keine Eskapaden, keine Hungersnot oder Schläge. Einfach gähnende Langeweile. Kein Wunder habe ich keinen Fundus für Geschichten.

Und so sitze ich hier und merke, dass ich ganz schön in der Misere sitze. Nicht nur habe ich keine Geschichte zu erzählen, ich wüsste nicht mal, ob ich sie zuerst ins Notizbuch (von dem ich nun fünf Exemplare für den Fall der Fälle hier habe) oder gleich in den Computer schreiben soll. Zudem frage ich mich, wieso mir am Anfang all dieser Gedanken in den Sinn kam, dass ich weder allein noch in Gesellschaft glücklich bin, da das doch wahrlich überhaupt nichts mit meinem eigentlichen Problem zu tun hat. Und wenn ich nun so weiter nachdenke, dann hat der ganze Gedankenfluss wenig Sinn, er kam so über mich, ohne Ziel, ohne Grund, ergoss sich einfach über meine Finger in die Tastatur und steht nun da, schwarz auf weiss – mit ein paar roten und grünen Wellenlinien, mit denen mir das Programm sagen will, dass mein Deutsch nicht das sei, was es als richtig erachte.

Bräuchte ich nicht alle Finger zum tippen, würde ich dem Programm einen zeigen. Das macht man zwar nicht, aber das wäre mir gerade egal, denn ich merke, dass ich mittlerweile wütend bin ob all der nicht getroffenen Entscheidungen, ob all der Ideenlosigkeit und vor allem wegen meiner ach so doofen Kindheit, aus der sich nichts, aber auch gar nichts, und schon gar kein Roman machen lässt.

Rezension: Thommie Bayer – Die kurzen und die langen Jahre

Am Schluss bleibt die Liebe

 …ich war ein braver Junge, der nicht aneckte und immer aufmerksam den Empfehlungen Erwachsener folgte oder zumindest so tat, weil ich mit freundlichen und unbedarften Grosseltern aufgewachsen war, ohne Vater, gegen den zu rebellieren sich gelohnt hätte und normal gewesen wäre. Meine Grosseltern schlecht zu behandeln kam mir nicht in den Sinn, ich vergass nie, dass sie und ihre Tochter Irmi mich gerettet hatten vor einem Leben mit einem Vater, dessen Gegenwart ich nicht ertragen hätte.

Als Simons Mutter stirbt, lebt er zuerst bei seiner Tante, danach bei seinen Grosseltern. Zu seinem Vater hat er jeden Kontakt abgebrochen. Plötzlich erfährt er, dass dieser und ein anderer Mann umgebracht worden sind. Auf dem Weg zur Hütte des Vaters trifft ihn die Liebe. Er sieht eine nackte Frau im nahegelegenen See baden. Sie kommt ihm vor wie eine Nixe. Es stellt sich heraus, dass Sylvie, so heisst die Nixe, die Frau des zweiten Opfers war, und dass die beiden Männer ein Liebespaar gewesen waren. Diese Neuigkeit weckt in Simon eine Unsicherheit seiner eigenen Sexualität gegenüber.

Und ich sah mich selbst, wie ich zärtlich an seinen Ohren zupfte, und zuckte zurück, als hätte mich jemand beim Schwulsein ertappt. ich wusste, dass es lächerlich war, aber das neu erwachte Misstrauen gegenüber meinen zarteren Regungen war da und ging nicht davon weg, dass ich ironisch den Mund verzog.

Die Liebe zu Sylvie lässt Simon nicht mehr los, sie aber interessiert sich beziehungstechnisch für jeden Mann ausser für Simon. Trotzdem sind die beiden verbunden. Es entsteht eine Brieffreundschaft, zuerst sehr eng, dann immer weiter, irgendwann bleiben die Briefe aus. Das Leben geht für beide weiter, hat Höhen, Tiefen. Das Leben eröffnet immer neue Fragen, die nicht weniger werden, als plötzlich wieder ein Brief von Sylvie Simon erreicht.

Lieber Simon,
jetzt habe ich dich so lange in Ruhe gelassen, dass ich mir nicht mehr einbilden kann, es sei in Ordnung, dich einfach so wieder zu behelligen. Aber es ist wichtig. Es gibt etwas, das du wissen musst, auf wenn du nichts mehr von mir wissen willst.

Die langen und die kurzen Jahre behandelt einen Zeitraum von 50 Jahren. Das Buch reicht zurück ins Jahr 1964 und spannt einen Bogen bis 2014. Es ist Simons Lebensfaden, auf dem die einzelnen Perlen der Geschichtenkette aufgereiht werden. Es ist eine Geschichte über Themen wie Freundschaft, Familie, Liebe und Zeit.

Thommie Bayer erzählt keine Liebesgeschichte, und trotzdem handelt das Buch von der Liebe. Es zeigt, dass Liebe nicht einfach ist, dass es verschiedene Formen von Liebe gibt, dass Liebe nicht einfach aufhört, sondern sich verändert, aufblüht, verdrängt wird, sich doch wieder regt. Er erzählt von diesem vielschichtigen Thema in einer leichten Sprache, lässt die Geschichte locker dahinfliessen, ohne ihr den nötigen Tiefgang zu nehmen. Das Buch entbehrt jeglicher Höhepunkte, jeglicher Spannungsbögen, und ist trotzdem nie langweilig. Es nimmt einen leise und still in den Bann, reisst nicht, packt nicht, hält trotzdem fest.

Fazit:
Eine sehr gelungene Geschichte über das Leben, die Liebe, Freundschaft und vieles mehr. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor
Thommie Bayer
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm Die gefährliche Frau, Singvogel, der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman Eine kurze Geschichte vom Glück und zuletzt Die kurzen und die langen Jahre.

Angaben zum Buch:
Bayerdie_kurzen_und_die_langen_jahreGebundene Ausgabe: 208 Seiten
Verlag: Piper Verlag (10. März 2014)
ISBN-Nr.: 978-3492054812
Preis: EUR 17.99 / CHF 29.90
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Uns geht es gut

Wunsch nach Glück

Kürzlich kam mein Sohn zu mir und sagte: „Mama, eigentlich geht es uns doch wirklich gut.“ Er überlegte kurz und korrigierte sich: „Nein, es geht uns nicht eigentlich gut, es geht uns gut.“ Ich schaute ihn an und fragte ihn, wieso er das denke. Er sagte mir: „Wir haben ein schönes Zuhause, wir haben es schön miteinander, es fehlt uns an nichts. Uns geht es wirklich gut!“

Danke!