Eine Geschichte: Fressmonster (XXXXII)

Lieber Papa

Die Sonne schien weiter. Als ob nichts wäre. Während unsere kleine Welt durcheinandergewirbelt wurde, drehte die grosse weiter. Ungebremst, ungestört, unbetroffen.  Wie wenig der einzelne in ihr doch zählt. Meine Welt ist noch kleiner geworden. Plötzlich bricht so viel weg. Kontakte werden weniger, weil meine Zeit fehlt.

«Du musst dich nicht mehr melden.»

Sagte mir eine Bekannte, weil ich wegen eines Arzttermins kurzfristig ein Treffen absagen musste. «Du hast ja eh nie Zeit.» Am Ende ist man wohl immer allein. Interessen traten in den Hintergrund, weil nur noch eines zählte. Mir fällt ein Satz von Erich Fried ein:

«Für die Welt bist du irgendjemand, aber für irgendjemand bist du die Welt.»

Auch wenn er ihn in einem anderen Zusammenhang dachte, passte er für mich. Meine Welt drehte nur noch um dich. Und den Krebs. Als ob dieser sich nicht nur in dich hinein, sondern die Welt gleich mit frässe. Krebs hat wohl nie nur einer allein, er durchdringt alle.

Die erste Chemotherapie stand an. Bislang nur ein Wort, etwas, das andere betraf. Nun zentraler Punkt in meiner Welt. Und dann:

«Wir werden nicht operieren.»

Ich verstand nicht. Es hiess doch, das sei der nächste Schritt, wenn keine Metastasen vorhanden sind. Und die gäbe es nicht.

«Wir haben uns anders entschieden.»

Ich schaute dich an. Du nicktest nur still. Ich fragte nach, wollte verstehen. Der Arzt wurde ungeduldig. Du schautest traurig. Worte schienen dich Kraft zu kosten, auch wenn andere sie aussprachen. So schwieg ich. Wir gingen in dein Zimmer zurück.

«Die wissen schon, was sie tun.»

Sagtest du. Glaubtest du das wirklich? Oder war es für dich der beste Weg? Weil dafür keine weiteren Worte nötig waren? Ruhe einkehrte?

«Bestimmt!»

Sagte ich. Und glaubte es nicht.

Sie wollten eine neue Therapieform probieren. Bald erfuhren wir auch den Grund: Metastasen. In Herz, Hals und Hirn. Der Krebs hatte Sinn für Alliterationen, nur mir war jeglicher Sinn für die Poesie des Lebens abhandengekommen.

Ich schaute dich an. Du schienst noch kleiner geworden zu sein. Nicktest noch immer. «Ja.» Sagtest du leise, während in mir alles laut «NEIN!!!!» schrie. Du schienst wie weggetreten. Als ginge dich das alles nichts an. Als sprächen wir hier über jemand anders. Das wäre schön.

Das wäre nun wieder so eine Situation, in der ich dich angerufen hätte. Du hättest mir einen deiner immer gleichen Ratschläge gegeben, die ich nie umgesetzt habe und doch froh war, sie zu hören. Es waren wohl mehr dein Dasein und deine Stimme, die mir halfen. Ich fühlte mich, wenn ich dich hörte, nicht mehr allein mit all dem, was mich gerade noch belastet hatte. Nun war ich es. Allein.

Nun war es also Tatsache. Wir hatten Krebs. Wir, die wir nicht krank werden. Wir, die wir nie Probleme haben und sie vor allem nicht zeigen. Wir, denen es doch gut gehen musste. Wir, die wir alles unter den Teppich kehrten. Nun war da plötzlich etwas, das nicht mehr drunter passte. Etwas, das zu gross war.

Eine Geschichte: Skifahren (XXII)

Lieber Papa

Auf der Suche nach Erinnerungen blätterte durch ein Album und stiess auf ein Foto. Mama und ich auf Skiern. Ich bin etwa sieben Jahre alt. Das Foto irritiert mich, denn ich merke, dass ich mich beim Skifahren nur an dich und mich denke. Ich weiss, dass Mama immer dabei gewesen ist. Ich erinnere mich nur nicht an sie. Und nun war das Foto vor mir. Es führte mir vor Augen, was mir nicht mehr im Sinn war. Da warst immer nur du. Wie ist es dazu gekommen?

Ich habe früh mit dem Skifahren begonnen. Erinnerst du dich? Natürlich tust du das. Du hast so oft davon erzählt, dass aus all den Geschichten etwas entstand, das sich wie meine eigene Erinnerung anfühlt. Ich sehe die Bilder förmlich vor mir. Oder erinnere ich mich doch?

Ich war knapp vier Jahre alt und wir waren wie jedes Jahr im Berner Oberland, im Hotel Bergli. Während ich das schreibe, setzt sich in mir das Lied fest.

„Det äne am Bergli, det staat e wiissi Geiss.
Ich ha sie welle mälche, da haut sie mir eis.“

Das läuft mir nun wohl den ganzen Tag nach. Kennst du das auch? Dass sich Lieder in deinem Kopf einnisten und dich dann durch den Tag begleiten? In Endlosschlaufe? Ich liebe Musik in Endlosschleife sonst, darüber hast du dich immer gewundert. Diese Ohrwürmer beginnen mit der Zeit zu nerven. Aber ich schweife ab.

Das Hotel lag hoch oben auf dem Berg mit Blick über das Simmenthal. Hinter dem Haus fiel der Hang steil zum Tal hinab. Einmal schneite es den ganzen Tag. Dicke Flocken fielen vom Himmel und deckten die Erde zu. Am nächsten Morgen hörte ich schon früh den Schneepflug, der die Strassen räumte. Es war so weit. Wir gingen hinter das Haus, du schnalltest deine Ski an und fuhrst damit hinunter. Du sahst auch aus wie ein Schneepflug mit diesen zum Spitz zusammenlaufenden Skiern. Danach stapftest du seitwärts den Hang hoch. Ich schaute dir neugierig zu. Die nächste Fahrt machten wir gemeinsam. Du nahmst mich zwischen die Beine und fuhrst mit mir runter. Nun musste auch ich mit meinen kleinen Skiern den Schnee plattdrücken beim Hochgehen. Das gehörte zum Fahren dazu. Sagtest du. Es war anstrengend. Ich stelle mir vor, dass du noch sowas sagtest wie

„Ohne Fleiss kein Preis.“

Das weiss ich aber nicht mehr. Es würde nur zu dir passen. Auf alle Fälle entstand so unsere Piste. Und wieder frage ich mich, ob ich mich erinnere oder alles nur noch aus deinen Erzählungen weiss. Noch immer sehe ich Bilder aufblitzen. Nur kurz. Sind es Vorstellungen oder Erinnerungsfetzen?

Auf alle Fälle nahm unsere Piste Gestalt an, wurde breiter. Die ersten Fahrten machte ich zwischen deinen Beinen, danach fuhrst du vor mir, ich hinter dir. Du hieltst deine Stöcke nach hinten, dass ich mich daran halten konnte. Mit der Zeit wurde ich müde. Das Runterfahren war einfach und leider immer schnell vorbei. Das Raufstapfen war anstrengend. Manchmal erbarmtest du dich und zogst mich an einem Skistock wieder hoch. Du warst so stark. Du warst mein Held.

Nach diesen ersten Erfahrungen gingen wir ins nahegelegene Skigebiet. Da hatte es einen Kinderlift, aber wir stapften immer noch ein wenig abseits immer wieder hoch nach der Abfahrt. Ich sah andere Kinder auf Skiern. In Gruppen waren sie unterwegs und hatten offensichtlich Spass zusammen. Ich wäre auch gerne in die Skischule gegangen. Du meintest, auf deine Weise lerne ich besser Skifahren. Weil ich lerne, die Skier und die ganze Ausrüstung zu beherrschen. Es hatte wohl was für sich, denn ich lernte schnell und gut Skifahren. Und doch. Diese fröhlichen Gesichter, das Geplauder und Lachen – da wäre ich gerne dabei gewesen. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, wenn ich das dachte, denn du gabst dir solche Mühe. Und ich hatte Angst, dich zu verletzen, weil du denken könntest, ich wolle nicht bei dir sein. Sei dir nicht dankbar genug. Ich sagte nichts mehr.

Viel später hast du gesagt, ich hätte nie in die Skischule wollen. Ich hätte jederzeit gehen dürfen. Das stimmt nicht, Papa. Das wusstest du. Du musstest es wissen. Nur: Wieso sagtest du das? Und spannend war: Irgendwann glaubte ich dir. Zumindest eine Zeit lang.

In all diesen Erinnerungen kommt Mama nicht vor. Als wäre sie nur die Zuschauerin des Lebens gewesen, das du für mich und dich vorgesehen hast. Das habe ich damals nicht so wahrgenommen. Mein Blick war auf dich gerichtet. Nun fällt mir das auf. Und ich fühle mich schuldig. Was habe ich ihr damit angetan?

(«Alles aus Liebe», XXII)

Gedankenströme: Grüne Bücher

Im Wohnzimmer stand ein Bücherregal, das die ganze Wand einnahm. Bücher standen aber wenige drin. Ein paar Fotoalben, einige Bände Readers Digest, ein paar ausgewählte Romane und Kurzgeschichten von meinem Vater aus jungen Jahren, ein vielbändiges Lexikon, das mein Vater konsultierte beim Lösen seiner Kreuzworträtsel, und: die grünen Bücher. Sie hiessen bei uns nie anders, auch wenn sie einen Namen gehabt hätten: Kulturgeschichte der Menschheit. 32 Bände geballte Geschichte. Gelesen hat sie nie jemand. Mein Vater sagte immer, er lese sie, wenn er pensioniert sei. Aber er war nur ein passionierter Zeitungsleser. Er las alle Zeitungen, die er in die Finger kriegte, von vorne nach hinten durch.

Als ich auszog, wollte ich die Bücher mitnehmen. Das ging natürlich nicht bei den Leseabsichten meines Vaters. Wenn ich später, meine Eltern besuchte, machte ich immer meine Witze, nun nähme ich sie gleich mit, zumal sie noch immer ungelesen dastanden. Das Spiel spielten wir 20 Jahre lang, bis zum Tod meines Vaters. Die Bücher blieben dann bei meiner Mutter – sie passten so gut ins Regal.

Gestern sind sie bei mir eingezogen, weil meine Mutter umzieht. Und nun stehen sie da und mit ihnen die ganzen Erinnerungen. Sie sind noch immer ungelesen und werden es wohl bleiben. Die Buchumschläge haben ein wenig gelitten durch die Zeit, die Seiten kleben teilweise noch aneinander. Ich sagte mal:

„Bücherregale sind wie Fotoalben, sie beinhalten Reiseerinnerungen in andere Welten.“

Daran erinnern mich diese Bücher. Nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen der Geschichten, an die ich mich durch sie erinnere.

Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten

„Solange man schreibt, spricht man mit den Menschen, die man erfindet, man lebt ihr Leben mit ihnen, und die Zeit zwischen dem Schreiben wirsd irgendwann unwichtig, das Schreiben wird zum Eigentlichen.“

Ferdinand von Schirach hat mit „Kaffee und Zigaretten“ sein wohl persönlichstes Buch geschrieben. In 48 Kapiteln, jedes eine knappe Zigarette oder einen Kaffee lang, erinnert er sich an Geschichten aus seinem Leben, wirft dem Leser kleine Informationshäppchen zu, die dieser zur Kenntnis nehmen oder zum Anstoss weiteren Nachdenkens machen kann, oder er lässt uns an den unterschiedlichsten Beobachtungen und Gedanken teilhaben.

„Heimat ist kein Ort, es ist unsere Erinnerung.“

Dabei ist er oft nachdenklich, hinterfragt das Leben und die Beweggründe, es so zu führen, wie verschiedene Menschen es tun. Entstanden ist so ein Album voller Erinnerungen, mal aus seinem Berufsalltag als Strafverteidiger, mal (auch durchaus sehr tiefschürfende Erlebnisse) aus seinem privaten Leben. Er verzichtet dabei gänzlich auf Sentimentalitäten, fast schon lapidar kommen die einzelnen Episoden daher.

„Auch ohne die Begabung, glücklich zu sein, gibt es eine Pflicht, zu leben, denkt sie jetzt.“

Auch alte Themen aus früheren Büchern haben Eingang in dieses Bändchen gefunden, Ferdinand von Schirachs Gedanken zu Recht und Moral innerhalb einer Gesellschaft erscheinen nochmals in neuem Gewand.

„Die Würde des Menschen ist die strahlende Idee der Aufklärung, sie kann den Hass und die Dummheit lösen, sie ist lebensfreundlich, weil sie von unserer Endlichkeit weiss, und erst durch sie werden wir in einem tiefen und wahren Sinn zu Menschen. […] Sie ist nur eine Idee, sie ist zerbrechlich, und wir müssen sie schützen.“

Man erkennt in „Kaffee und Zigaretten“ den analytischen Denker Ferdinand von Schirach, hier und da drücken seine Analysen und auch die Fragen an die Zeit durch, regen zum Nachdenken an, geben eine Ahnung davon, was möglich gewesen wäre, hätte er ganz aus dem Vollen geschöpft. Das Buch trägt gute Gedanken in sich, die Sprache ist klar und gewohnt schnörkellos – leider sind es doch alles nur kleine Häppchen, was durchaus einen Reiz hat, die aber doch manchmal gar kurz ausfallen und einen mit Fragen nach dem Sinn und Zweck derselben zurücklassen. Vielleicht ist genau das gewollt.

Insgesamt ist „Kaffee und Zigaretten ein Buch voller Impulse, die zum Nachdenken anregen. Es ist ein Buch über das Leben einerseits Ferdinand von Schirachs, aber auch das als Mensch in unserer Gesellschaft und auf dieser Welt mit all ihren Herausforderungen. Und manchmal drückt sogar ein wenig Wehmut durch, weil :

„Damals gab es keine Zeit, so wie es in der Erinnerung keine Zeit gibt. Es war nur der Sommer, in dem wir unten am Fluss waren, Forellen fingen, und ich dachte, dass sich nie etwas ändern würde.“

Fazit:
Ein sehr persönliches Buch eines tiefgründigen Denkers, das in vielen kleinen Lesehäppchen Erinnerungen und Beobachtungen zu Denkanstösse werden lässt. Sehr empfehlenswert!

Zum Autor
Ferdinand von Schirach, geboren 1964, arbeitet als Strafverteidiger und Schriftsteller in Berlin. Die Erzählungsbände »Verbrechen«, »Schuld« und »Strafe« sowie die Romane »Der Fall Collini« und »Tabu« wurden zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Sein Theaterstück »Terror« zählt zu den weltweit erfolgreichsten Dramen unserer Zeit. Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm sein persönlichstes Buch »Kaffee und Zigaretten«, das Theaterstück »Gott« sowie der Band »Trotzdem« (mit Alexander Kluge).

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 192 Seiten
Verlag: btb Verlag (13. April 2020)
ISBN-Nr.: 978-3442719747
Preis: EUR 11 / CHF 17.90

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