Tove Ditlevsen: Abhängigkeit

«Und mir wird immer stärker bewusst, dass ich zu nichts anderem tauge und von nichts anderem leidenschaftlich erfüllt werde, als Worte aneinanderzureihen, Sätze zu bilden und einfache, vierzeilige Verse zu schreiben. Um das zu können, muss ich die Menschen auf eine ganz bestimmte Weise beobachten, in etwa so, als würde ich sie für den späteren gebrauch in einem Archiv ablegen.»

Tove Ditlevsen schreibt über sich. Nach Kindheit und Jugend ist nun die Zeit des Erwachsenseins Thema, die Liebe, die Irrtümer, das Schreiben, die Feiern, das Trauern und schlussendlich die Sucht. Sie schreibt über ihre Ehen, über ihre Kinder, schreibt darüber, wie sie schreiben will und nur schreibend glücklich ist, dies dann verliert, weil sie sich an die Drogen verloren hat. Und sie schreibt über ihren Weg aus all dem wieder hinaus.

«Aber für mich ist das Leben nur ein Genuss, wenn ich schreiben kann.»

Tove Ditlevsen ist ein Mensch, der sich dem Schreiben verschrieben hat. Manchmal scheint es, als ob das ganze Leben nur dazu dient, dem Schreiben Stoff zu liefern. Menschen, die sie trifft, Menschen, die sie liebt, Dinge, die sie tut – all das ist immer in irgendeiner Form mit dem Schreiben verbunden. Nicht schreiben zu können, ist die schlimmste Strafe, das unvorstellbar Grausamste. Durch diesen Drang, schreiben zu müssen, manövriert sie sich in eine Anhängigkeit hinein, aus der sie nicht mehr herausfindet, und die ihr schlussendlich das nimmt, was ihr das Wichtigste war: das Schreiben.

«Warum möchtest du eigentlich so gern normal und gewöhnlich sein?», fragte Ebbe verwundert. «Es ist doch eindeutig, dass du es nicht bist.» Darauf kann ich ihm auch keine Antwort geben, aber ich habe es mir gewünscht, solange ich denken kann.»

Der Wunsch, normal zu sein, so wie die anderen, trägt immer eine Ambivalenz in sich. Einerseits gefällt einem selbst das, was man ist, weil man sich in dem wohl fühlt. Wenn man sich so verhält, wie es einem entspricht, fühlt sich das tief drin stimmig an. Doch merkt man bald, dass man damit zum Aussenseiter wird, zu dem, der anders ist, nicht wirklich dazugehört durch dieses Anderssein. Da der Mensch als soziales Wesen danach strebt, dazuzugehören, kommt zwangsläufig der Wunsch auf, so zu sein wie die anderen, eben normal. Das wäre die Chance für die Integration – aber mit dem Preis, sich nicht mehr in sich zu Hause zu fühlen. So gesehen ist man selten ganz im Reinen mit dem eigenen Sehnen, etwas vermisst man meist – das Ich oder die anderen.

Es fällt schwer, das Buch wirklich zu fassen, zusammenzufassen. Es ist zu dicht, zu tief, zeigt zu viele Wunden. Eine sachliche Zusammenfassung würde nie zu fassen vermögen, worum es in der Tiefe geht, das Empfinden beim Lesen findet keine Worte. Sich über die Sprache, die Form auszulassen wirkt zu analytisch, distanziert. Und lässt man sich ein, fehlen am Schluss die passenden Worte, die ausdrücken, was nur zu fühlen ist. Hilft nur: Selbst lesen. Das immerhin kann ich sagen: Es ist eine Empfehlung.

Fazit zum Buch
Ein schonungslos offenes Buch, ein ehrliches Buch, ein Buch voller Abgründe. Und doch auch ein mutiges Buch, ein Buch, das ermuntert, hinzuschauen, auch bei sich.

Paul Auster: Winterjournal

Paul Auster blickt auf sein Leben. Er schreibt sich von Liebe zu Liebe, listet die Wohnungen seines Lebens auf, reflektiert sein Leben in ihnen. Er denkt über seinen Körper nach und dessen Veränderungen in der Zeit, über Krankheiten und den Verfall bis hin zum Tod. Er zieht Bilanz weit vor dem Ende. Noch ist Zeit zum Schreiben. Das Zentrale in seinem Leben neben der Liebe.

«Du denkst, das wird dir niemals passieren, das kann dir niemals passieren, du seist der einzige Mensch auf der Welt, dem nichts von alldem jemals passieren wird, und dann geht es los, und eins nach dem anderen passiert dir all das genau so, wie es jedem anderen passiert.»

Paul Austers Blick ist ein offener, ein entlarvender. Er zeigt seine Illusionen, seine Irrtümer. Er offenbart seine Schwächen und zeigt sich dadurch mutig und stark. Er steht zu dem, was er ist, ohne zu beschönigen, zu verklären. Es ist aber auch keine Selbstanklage, sondern zeugt von der Anerkennung des eigenen So-Seins.

«Sprich jetzt, bevor es zu spät ist, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist.»

Die Endlichkeit der Zeit ist immer wieder Thema. Sie zu nutzen im Wissen, dass nicht ewig Zeit sein wird, ist die Botschaft. Wie oft schweigen wir, denken später, zu spät, wir hätten etwas sagen sollen. Wir trauern den ungeklärten Dingen hinterher, Dinge, deren Klärung wir aufschoben. Ein Schriftsteller lebt davon, Dinge zu sagen. Er sucht den Ausdruck für das, was ist, was er ist. Was um ihn ist. Wie er damit umgehen will, kann, wie er es tut. Die Zeit dafür ist immer jetzt. Morgen kann es zu spät sein. Paul Auster hat das selbst erfahren und auch so beschrieben:

«und weil du immer geglaubt hast, er werde ein hohes Alter erreichen, hat es dich nie gedrängt, den zeitlebens zwischen euch hängenden Nebel zu lichten.»

Als Paul Austers Vater unerwartet plötzlich stirbt, wird er sich all dessen bewusst, was unausgesprochen blieb, was zu klären versäumt worden war. Die Illusion einer noch lange dauernden Zeit lässt uns zögern, das zu tun, was uns auf dem Herzen liegt und vielleicht nicht so leicht ist. Wir schieben es so lange auf später, bis die Zeit und die Chance, es zu tun, vorbei sind.

«Zweifellos bist du ein beschädigter, ein verwundeter Mensch, ein Mann, der von Anfang an eine Wunde in sich herumgetragen hat (warum sonst hättest du dein ganzes Erwachsenenleben damit verbringen sollen, Worte zu Papier zu bluten?), und der Gewinn, den du aus Alkohol und Tabak ziehst, dient dir als Krücke, dein verkrüppeltes Ich aufrecht zu halten und durch die Welt zu tragen.»

Paul Auster sieht sich als Verwundeten. Er sieht die Narben im Gesicht ebenso wie sein Tun, das wohl aus keinem heilen Wesen entspringen kann. Würde ein gesundes Wesen, ein unverwundetes, sich nicht ins blühende Leben stürzen statt in der stillen Kammer zu versuchen, Worte aneinanderzureihen?

«…das eine Ich, der Einzelne, der sich täglich für sieben oder acht Stunden in diesen Bunker verkriecht, ein stiller Menn, der abgeschnitten vom Rest der Welt, Tag für Tag an seinem Schreibtisch sitzt, mit nichts anderem im Sinn, als das Innere seines Schädels zu erforschen.»

Das eigene Schreiben dient dazu, sich und das Leben zu erforschen und zu verstehen. Es ist eine Innenschau, die nach aussen dringt und dadurch erfahrbar wird. Für Auster selbst und später für den Leser. Da Menschen nicht so unterschiedlich sind, wie sie manchmal glauben, erkennt man sich in diesem Geschriebenen wieder. Man geht selbst in sich und erkennt etwas, das vorher vielleicht nicht so offen dalag.

«Wir alle sind uns selbst fremd, und wenn wir irgendeine Ahnung haben, wer wir sind, dann nur, weil wir in den Augen anderer leben.»

Dieses Erkennen kann durch Bücher, aber auch durch andere Menschen passieren. Indem wir sehen, wie wir bei anderen ankommen, wie sie sich zu uns verhalten, was sie uns spiegeln, erhalten wir eine Ahnung dafür, wer wir sind.

«Eine Tür ist zugefallen. Eine andere Tür hat sich geöffnet. Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten.»

Und irgendwann wird es die letzte Tür sein.

Fazit zum Buch
Ich habe das Buch kurz nach Paul Austers Tod gelesen. Es hat mich berührt durch seine Sprache, durch seine Offenheit. Es hat mich dem Menschen Paul Auster nähergebracht und Lust gemacht, tiefer in sein Werk einzutauchen. Ein sehr persönliches Buch, das den Menschen Paul Auster in seinem Sein zeigt und erfahrbar macht.

(Paul Auster: Winterjournal, Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 2013)

Mely Kiyak: Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an

Papa Kiyak hat Krebs. Die Tochter kümmert sich. Sie spricht mit den Ärzten, kocht Essen, will für ihn da sein, redet gut zu und hat selbst keine Kraft. Sie weint plötzlich in den unmöglichsten Situationen, kämpft immer wieder an allen Fronten, wütet über die Bedingungen von Migranten und denen in Spitälern. Und zwischendurch lässt sie sich von ihrem Papa Geschichten erzählen. Von früher. Von der Familie.

«Zum ersten Mal denke ich, dass mein Vater es nicht packen wird.»

Als ich das Zitat gelesen habe, erkannte ich mich wieder. Genau so war das. So kenne ich es. Eine sachliche Rezension zu diesem Buch zu schreiben, ist mir unmöglich. Oder: Ich will es nicht.

Ich wollte das Buch beim Lesen so oft abbrechen. Es tat mir nicht gut. Es warf mich zurück. Zu den gleichen Sätzen, die ich vor einigen Jahren auch hörte. Zu den Kämpfen, obwohl ich tief drin die Hoffnung aufgegeben hatte – und doch weiter hoffte. Es versuchte. Zurück zum Weinen in Trams, in Einkaufszentren. Zurück zu Zusammenbrüchen, tiefer Trauer. Angst.

Mely Kiyak schreibt über sich und ihren Vater. Sie schreibt über dessen Krebs und wie er sich ausbreitete. Lunge. Nieren. Leber. All das hatte ich genauso. Und so vieles dazu. Wie will ich da einen sachlichen Text darüber schreiben? Ich habe geweint. Nein. Geheult beim Lesen.

«Das scheint vollkommen üblich zu sein. Dass man sterbenskranken Menschen ihr Essen nicht dann gibt, wenn sie es brauchen und wollen, sondern dann, wenn es dem System in den Kram passt.»

Natürlich war das Verständnis für das Personal bei mir da. Sie sind alle überlastet. Und doch lag da mein Vater. Als ich all die Beschreibungen des Spitalalltags las, erkannte ich alles wieder. Mehr noch, ich war wieder drin. In dieser Wut, diesem Ausgeliefertsein. Ja, wir hatten teilweise grossartige Pflegekräfte. Geduldige Ärzte. Aber auch das Gegenteil. Und in all dem liegt dein Vater. Der Mensch, der dir so viel beigebracht hat. Der dir so wichtig, so lebenswichtig, wie du dachtest, ist. Unerträglich. Und doch muss es ertragen werden. So ging es mir wieder beim Lesen. Ich konnte nicht aufhören. Obwohl ich es kaum ertragen habe. Was für das Buch spricht. Es ist ehrlich. Es ist schonungslos. Es ist persönlich. Es ist authentisch.

«Noch bevor ich sprechen kann, fange ich an zu weinen. Es ist mächtiger als ich. Ich habe mich nicht im Griff. Dabei beginnen wir erst.

Was soll ich schreiben: So war das. Die Direktheit von Mely Kiyaks Schreiben führt es mir nicht nochmals vor, sie wirft mich nochmals rein. Und in all das, was als nette Beigabe in solchen Situationen dazukommt: Die Isolation, das Abwenden von Freunden, weil man keine Zeit mehr hat. Weil man sich ja kümmern muss. Und danach keine Worte findet auf die Fragen, die kämen.

«Man gewöhnt sich an Menschen, liebt sie, und am Horizont winkt bereits der Tod. Man fragt sich doch, worin der Sinn des Lebens besteht, wenn am Ende gestorben wird.»

Ja, wo liegt der Sinn des Lebens? Worauf kann man bauen? Es ist das elende Gefühl, das Mascha Kaléko beschreibt, dass der eigene Tod kein Schrecken ist, aber der derer, die man liebt. Alle können einem immer genommen werden.  

Fazit zum Buch
Berührend. Bewegend. Tief.

(Mely Kiyak: Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an, Carl Hanser Verlag GmbH, München 2024.)

Paul Auster: Bericht aus dem Innern

«Gravierender… ich lebe in meinem Schreiben – es verschlingt meine Gedanken. Ich habe jede Menge Ideen, Pläne, alles auf einmal – in jeder freien Sekunde denke ich darüber nach, tüftle, revidiere, ohne aber das, woran ich im Augenblick arbeite, aus dem Blick zu verlieren…»

Paul Auster ist ein Schreibender. Er ist einer, der sich und sein Leben förmlich dem Schreiben verschrieben hat – und der Liebe. Doch die kommt erst später. Zuerst muss er zu dem heranwachsen, der er mal sein wird. Er muss eine Kindheit durchleben, die ihn zu dem macht oder aus der er das macht, was er als sein Leben bezeichnet. In diesem Buch beschreibt Paul Auster diese Kindheit und sein Heranwachsen. Er beleuchtet das, was er aus Erinnerungen und Erzählungen kennt und analysiert es mit seinem erwachsenen Blick. Er durchläuft all die Jahre vom Kind bis hin zum frühen Erwachsenen. Den letzten Teil dieser Erinnerungen bilden Briefe, die er seiner langjährigen Freundin und ersten Ehefrau Lydia Davis geschrieben hatte. Abgerundet wird das sehr persönliche Buch durch Einblicke in das familiäre Fotoalbum.

«…dies ist der Moment, in dem wir die Fähigkeit erwerben, uns selbst unsere Geschichten zu erzählen, die ununterbrochene Erzählung zu beginnen, die erst mit unserem Tod endet.»

Wann ist der Mensch so weit, dass er sich seines eigenen Seins bewusst ist? Wann erkennt er sich als Denkenden und Handelnden? Nach Paul Auster tritt ein Kind im Alter von sechs Jahren in diese neue Phase des Lebens. In diesem Alter, so Auster, denkt ein Kind und weiss, dass es etwas denkt. Es fängt an, sich dieses Denken und sein Leben zu erzählen. Das erinnert mich an Max Frisch, der in «Mein Name sei Gantenbein» schrieb:

«Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält…»

Beim Blick auf die Kindheit spielen die Eltern eine grosse Rolle. Sie sind es, die das nächste Umfeld bilden, die Beziehung zu ihnen legt den Grundstein unseres Seins. Paul Austers Blick zurück ist kein verklärender. Es ist ein offener und schonungsloser. Er legt dafür den Finger in seine Wunden und zeigt, wie sie entstanden sind.

«…die beiden haben es verpfuscht, und dass du diese Katastrophe als Kind miterleben musstest, hat dich zweifellos nach innen getrieben und einen Mann aus dir werden lassen, der den grössten Teil seines Lebens allein in seinem Zimmer verbracht hat.»

In einem Interview sagte Paul Auster, jeder Schriftsteller sei ein Verwundeter, ein glücklicher Mensch würde kaum jeden Tag in ein einsames Zimmer sitzen und schreiben. Der Schriftsteller gehe in die Kunst, in sein Schreiben, weil das der Ausdruck seiner Wunde sei.

«…dort hast du dir beigebracht, allein sein zu können, und nur wenn ein Mensch allein ist, kann er seinen Gedanken freien Lauf lassen.»

Es gibt zwei Sichten, das eigene Sein zu sehen: Man wurde, wer man ist, weil die Dinge waren, wie sie waren, oder man wurde es, obwohl sie so waren. Die schwierigen Familienverhältnisse waren belastend für den kleinen Jungen und dieses Belastende hat lange nachgehallt. Was er aber daraus gelernt hat ist, sich zurückzuziehen in seine eigene Welt. Das war die Welt, die sich in seinem Kopf zeigte, in seinen Fantasien. Beim Alleinsein konnte er diese Welten entstehen lassen und ausmalen. Etwas, womit er nie mehr aufgehört hat – zum Glück für seine Leser. Auch wenn es nicht immer nur einfach floss:

«Das alles klingt, als sei ich… sehr beschäftigt. Vielleicht bin ich das, aber es fühlt sich für mich nicht so an. Die meiste Zeit verbringe ich völlig allein – in äusserster und furchtbarer Einsamkeit. In meinem kleinen kalten Zimmer, wo ich entweder arbeite oder auf und ab gehe oder vor Niedergeschlagenheit gelähmt nichts tue.»

So erfolgreich Paul Auster auch war, die Unsicherheit dem eigenen Schreiben gegenüber ging nie ganz verloren. Nach jedem beendeten Buch fing sie von neuem an: Würde es nochmals gelingen? Es gelang!

«…und mag es viele Dinge geben, an die du dich erinnerst, so gibt es mehr, tausendmal mehr, auf die das nicht zutrifft.»

Was erinnern wir? Was vergessen wir? Schlussendlich ist das, was bleibt, wohl ein kleiner Teil all dessen, was war. Es ist der Teil, der sich in uns festgesetzt hat, weil wir ihm zum Zeitpunkt des Erlebens einen Wert beigemessen haben und ihn darum irgendwo bewahrt haben – oft auch im Unterbewusstsein, von wo er erst wieder auftaucht, wenn es einen Auslöser dafür gibt.

Als Schlusssatz kann ich eigentlich nur noch ein Zitat anhängen:

«Am Ende glaube ich mehr als alles andere, das Einzige, was überhaupt etwas zählt, ist die Liebe.»

Die hat er gefunden und lebte mit ihr für viele Jahre. Die Liebeserklärung, die man im «Winterjournal» lesen kann, ist wundervoll. So möchte man lieben können, so möchte man geliebt werden.

Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben

«Unsere Mutter sollte sich heimisch fühlen, denn, wie wir ihr im Laufe des Tages immer wieder sagten, hier wohnte sie jetzt, das war jetzt ihr «Zuhause», wogegen sie resigniert protestierte: «Nein, das wird nie mein Zuhause sein», dann: «Nein, das ist nicht mein Zuhause, bevor sie es leid war, dass wir sie scheinbar nicht verstanden, und sagte: «Jaja, ich weiss, aber es ist nicht dasselbe.»»

Didier Eribon erzählt von seiner Mutter, vordergründig, in Tat und Wahrheit erzählt er mehr von sich und seinem Verhältnis und Verhalten der Mutter gegenüber. Er liefert eine Sozialstudie dessen, was es heisst, alt und damit Minderheit zu sein. Er demonstriert, was es bedeutet, einer unteren Klasse zuzugehören, und welche Probleme damit verbunden sind.

«…mir wurde wieder einmal bewusst, wie befremdlich und nahezu unerträglich das sein kann, was man gemeinhin als «Familienbande» nennt. Was verband uns? Nichts. Rein gar nichts. Ausser der Tatsache, dass wir hier waren, um uns um unsere Mutter zu kümmern, dass wir hier sein mussten.»

Und: er zeigt die Zerwürfnisse und Schwierigkeiten in Familien, vor allem dann, wenn es darum geht, Lösungen zu finden, an denen alle beteiligt sind und die alle in einer Weise betreffen. Neben der persönlichen Ebene dieses Buches gibt es auch die soziale, die politische. Didier Eribon verweist auf die Lage von alten Menschen in unserer Gesellschaft, auf ihr Übergangensein, auf ihre Stellung am Rande der Gesellschaft und dieser quasi nicht mehr zugehörig. Sie haben keine Stimme mehr, Entscheidungen werden oft über ihren Kopf hinweg und für sie getroffen. Es ist, so Eribon, dringend nötig, alten Menschen wieder eine Stimme zu geben, ihnen die Würde zu belassen, die ihnen zusteht.

«Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit.»

Eribon schaut unbarmherzig auf seine Beziehung zu seiner Mutter. Er sieht seine Versäumnisse, sein mangelndes Einfühlungsvermögen und auch die Vernachlässigung der Beziehung. Er war in seinem Weg der Abgrenzung von seiner Herkunft, damit, all das, was dafürstand, abzulehnen, so gefangen, dass ihm der Blick auf die anderen, das Einfühlen in ihre Position und ihren Umgang mit der Situation, verborgen blieb. Nein, all das blieb nicht einfach verborgen, er schaute bewusst weg.  

Eribon bleibt aber nicht beim Persönlichen stehen, er zeichnet auch ein Bild der Gesellschaft, wie sie war, vor allem auch für Frauen:

«Als Frau hatte man es schwer, Männer konnten machen, was sie wollen, Frauen nicht.»

Seine Mutter kam aus einer Zeit, in welcher Frauen wenig Rechte und Möglichkeiten hatten. Den Frauen und deren Entscheidungen ausgeliefert hatten sie den Platz einzunehmen, der ihnen zugewiesen wurde. Dies war vor allem in den unteren Klassen der Fall, in welchen generell wenig Spiel- und Freiraum zur Lebensgestaltung herrschte.

«Selbst wenn eine Ohnmachtserfahrung der Vergangenheit angehört, wenn sie längst in Vergessenheit geraten ist, hinterlässt sie unauslöschliche Spuren.» 

Auch wenn sich die Zeiten verändert haben, Frauen mehr Rechte bekamen, so sitzen die Spuren dessen, was war, doch tief. Ein neues Verhalten, eine neue Gewissheit für den eigenen Platz in der Gesellschaft ergibt sich nicht von heute auf Morgen. Zudem hat sich das Neue auch in den Köpfen anderer noch nicht vollkommen eingenistet, so dass Spuren vom Alten noch immer aktuell sind und damit auch erlebt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass mit der fortschreitenden Zeit eine weitere Schwierigkeit auftaucht, ein neues Stigma, welches den Stand in der Gesellschaft erneut schwieriger macht: Das Alter. Mit diesem einher geht eine weitere Diskriminierung, die erneute Erfahrung, nicht mehr zum aktiven Teil der Gesellschaft gezählt zu werden und nach und nach, wenn die Gesundheit entsprechend ist, in Zwangssituationen zu geraten, die man selbst nicht möchte.

«Der Umzug ins Altenheim ist… der Eintritt in eine erzwungene Gemeinschaft, der man sich schwerlich entziehen kann.»

Wer sagte nicht in jungen Jahren, dass er nie in einem Altenheim leben möchte, weil man damit wenig Positives verbindet. Diese Sicht verfestigt sich und ist nicht einfach weg, wenn der Zeitpunkt kommt, dass man es in Erwägung ziehen muss – oder dazu genötigt wird, es in Erwägung zu ziehen. Dieser Umzug ist nicht einer von vielen, er gleicht einem aus der Freiheit des eigenen Seins und Tuns in ein geregeltes System mit Vorschriften und erzwungenen Nachbarschaften.

«Wenn alte Menschen keine Stimme haben. Oder nicht mehr haben oder sogar, im Fall Pflegebedürftiger, nicht mehr haben können – sind dann nicht andere angerufen, ihnen eine Stimme zu geben»?

Wir dürfen nicht wegschauen. Menschen sind Teil unserer Gemeinschaft. Immer. In jedem Alter, mit allen Fähigkeiten und Hindernissen. Oft vergessen wir die, welche sich nicht mehr wehren können. Wir lassen sie am Rand stehen. Vordergründig sind sie versorgt, doch was dieses «versorgt» wirklich bedeutet, blenden wir aus. Didier Eribon hat hingeschaut. Und er hat dieses Buch geschrieben. Er hält den Finger in die Wunde dieser Gesellschaft. Er gibt seiner Mutter eine Stimme, als diese keine mehr hat. Er gibt durch sie den Menschen eine Stimme, die keine haben. Damit wir sie hören. Und hinschauen.

Das Buch wurde von mir sehr erwartet und hatte damit wohl einen schweren Stand. Auch schwer war es, weil ich von den beiden vorher gelesenen Büchern «Rückkehr nach Reims» und «Gesellschaft als Urteil» mehr als begeistert war. Ich wurde, ich kann es gleich sagen, enttäuscht. Ob das nur der hohen Messlatte geschuldet war, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber für mich war es sicher nicht Eribons bestes Buch. Trotzdem ist es absolut lesenswert und eine Empfehlung von mir.