Eine Geschichte: Anders als die anderen (XXXXV)

Lieber Papa

«Wir haben Ableger in der Leber gefunden.»

Mehr hörte ich nicht mehr. Hatte im Hinterkopf, dass es bei der Leber aufhöre. Das Ende nah sei. Der Mensch müder werde, bis er einschlafe. Ganz. Was hätte ich noch mehr hören sollen? Was war noch von Belang?

Der erste Schritt war wohl die Verlegung auf die Palliativabteilung. Das Warten aufs Sterben hatte begonnen. Ganz formell. Die Besuche waren nun gezählt.

«Es kommt schon gut.»

Du warst deinem Satz treu geblieben.

«Ein schönes Zimmer. Grossartige Aussicht.»

Ich meinen banalen Floskeln ebenso. Als ob es darauf ankäme. Aber ja, vielleicht kam es genau darauf an. Wenn nichts mehr zu erwarten war. Keine Hoffnung mehr blieb. So blieb doch der Moment. Das war wenig genug. Ein schönes Zimmer und eine Tochter, die keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte. Die sich mal wieder unglaublich dumm anstellte.

«Wie fühlst du dich?»

«Etwas müde.»

«Soll ich lieber gehen?»

«Nein, es ist schön, dass du da bist.»

Ich setzte mich. Wir plauderten über Belangloses. Ich erzählte von meinen Problemen zu Hause. Die waren ja auch noch da. Nur meist überschattet von diesem gnadenlosen Geschwür. Und nicht der Rede wert. Irgendwann sagte ich:

«Ich bin einfach kein Familienmensch.»

Und du sagtest:

«Du warst schon immer anders als die anderen.»

Es klang nicht wie ein Vorwurf. Zum ersten Mal? Später sagte mir meine Erinnerung, du hättest noch angefügt:

« Und das ist gut so. Ich bin stolz auf dich.»

Ich weiss nun nicht mehr, ob du das wirklich gesagt hast, Papa. Ich möchte es gerne glauben. Auch wenn ich mich dann frage, wieso du das nie gezeigt hast. Wobei: Vielleicht hast du ja. Auf deine Weise.

(«Alles aus Liebe», XXXXV)


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