Eine Geschichte: Es recht machen (XXXII)

Lieber Papa

Ich liebte Bücher. Erinnerst du dich? Ganze Nachmittage konnte ich auf dem Bett liegend mit einem Buch in der Hand verbringen. Ich liebte es, einzutauchen. In Geschichten. In andere Welten. Und vermutlich liebte ich auch, aus meiner flüchten zu können. Du fandest, ich müsse mehr raus. Ich könne mich nicht nur zu Hause einschliessen und lesen. Das sei nicht gut für mich. Also ging ich raus.

Ich fand etwas, das mir Spass machte: Das Eisfeld. Anfangs noch sehr zögerlich auf den Kufen, lernte ich sehr schnell immer schnellere Kurven zu drehen. Die Mädchenschlittschuhe mussten bald Hockeystiefeln weichen. Wir spielten fangen. Ich war schnell. Und gut. Eigentlich merkwürdig. Ich die Sportspfeife.

Aus den Boxen dröhnte Musik. Immer die gleichen Lieder. Ich liebe sie noch heute. Sie bringen mir ein Stück Glück zurück. Ich schwebte übers Eis, fühlte mich frei. Unbeschwert. In meinem Element. Alles andere war weit weg. Ich fand schnell Anschluss. So ungewohnt. So schön. Da war dieser eine Junge. Er war schon älter. Er war der Schnellste und Beste auf dem Eisfeld. Und: Er mochte mich. Mich…

Tagsüber fuhr ich mit dem Rad zum Eisfeld. Ich sehe den Weg noch vor mir. Nach einer kurzen Strecke auf der Strasse führte er über Felder, an Schreibergärten vorbei, durch kleine Quartiersträsschen. Ich bin ihn so oft gefahren. Immer voller Vorfreude. Ich fühlte mich lebendig. Ich gehörte dazu. Das war so neu. Angekommen sprang ich vom Rad, packte meine Sachen, rannte hinein. Ich konnte es kaum erwarten.

Ab und zu durfte ich auch abends aufs Feld, allerdings nicht mehr mit dem Rad. Du fandst das zu gefährlich. Du hast mich mit dem Auto gebracht und später wieder geholt. Ich erinnere mich nicht mehr an diese Fahrten. Nur daran, dass es manchmal eine Predigt gab. Darüber, dass ich zu viel rausgehe. Zu wenig an die Zukunft denke. Zu wenig für die Schule täte. Vielleicht mehr lesen sollte.

Erinnerst du dich an den einen Abend? Ich fragte dich, ob du mich fährst. Du sagtest ja. Doch dann fingst du an. Fandst, ich verschwende mein Leben. An die falschen Leute. Dieser Junge zum Beispiel. Der tauge nichts. Er erinnere dich an die besten Tänzer früher. Mehr Schein als Sein. Die hätten später im Leben nichts erreicht. Du sprachst von falschen Vorbildern und unnützen Freunden, davon, wie man sein Leben vergibt, wenn man die falschen Prioritäten setzt. Und noch viel mehr. Während du so sprachst, zogen wir uns an. Und dann war mir die Lust vergangen

„Du kannst die Jacke wieder ausziehen. Ich möchte nicht mehr gehen.“

Sagte ich.

„Wir haben gesagt, wir gehen, nun gehen wir.“

Sagtest du.

„Aber ich habe keine Lust mehr nach all dem.“

Wir sind gefahren. Und schwiegen. Als wäre alles gesagt.

Während ich das schreibe, kommt mir das Abba-Lied „When all is said and done“ in den Sinn.

(„Alles aus Liebe“, XXXII)


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